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MEIN STUDIUM" AN DER HFBK. VERWEIGERUNG. WIRKLICHKEITSEINDRUCK IN TEXT UND BILD. FILME OHNE BOTSCHAFT. MÄRCHEN ALS KONZEPT. DAS VOKABULAR DES FILMKONSTRUKTEURS. FILM ALS ERLEBNIS. FILM ALS WARE. INVESTITION UND PUBLIKUMSERFOLG. DER STAAT FÖRDERT SEINE KRITIKER. RÜCKBLICK AUF DEN „ANDEREN" FILM.

 

 

Untersuchung über ein Studium der Deutung von Filmen als gefühlte, gedachte und maßgebende Erfahrungen.

Theoretische Arbeit von Olaf Egner, Oktober 1998 — Mai 1999

 

 

VORWORT *

Über diese Arbeit *

Mein „Studium" an der HfbK *

FILMTHEORIE ALS GEGENKONZEPT *

Verweigerung *

Die Einsamkeit des Lesers *

Wirklichkeitseindruck in Text und Bild *

Mittendrin: Ich *

HOLLYWOOD: MÄRCHEN ALS KONZEPT *

Filme ohne Botschaft *

Theoretische Grundlage der Drehbuchkonstruktion: Die narrative Struktur des Märchens *

Beispiel 1: ´Kinder brauchen Märchenª(1975), Bruno Bettelheim *

Beispiel 2: ´Die historischen Wurzeln des Zaubermärchensª(1946),                        Vladimir Propp *

Frau und Mann als Status- und Eigenschaftsobjekt *

Beispiel: ´Pretty Womanª (1990), Garry Marshall *

Die Mann-Tötungsmaschine. Und die Frau auch. *

Beispiel: ´Terminatorª (1984), James Cameron *

Beispiel: ªTerminator 2, Judgement Day´ (1991), James Cameron *

MEHRWERT UND MENSCHLICHKEIT: PRODUKTIONSSYSTEM HOLLYWOOD *

Erlebniswelt und technische Wunderkammer: das Kino *

Film als authentisches Erlebnis *

Film als Ware *

Gelungene Investition und Publikumserfolg gleich Qualität *

KRITIK UND KULTURWERT: FILMPRODUKTION IN EUROPA *

Der Staat fördert seine Kritiker *

Der „Autorenfilm" und sein Kulturkreis *

GEGENKONZEPTE DER VERGANGENHEIT *

Frau und Mann als fühlende Maschinen: Die Verkehrung des emotionalen Bildflusses *

Beispiel 1: ´Jeanne Dielman, 23 quai du Commerce, 1080 Bruxellesª (1975): Chantal Akerman *

DOKUMENT UND EXPERIMENT:DIE TRAGIKOMÖDIE DER HFBK *

Das, was ich meine verstanden zu haben: Rückblick auf den „anderen" Film an der HfbK *

SCHLUSSWORT: DIE VERÄNDERTE SITUATION *

LITERATURNACHWEIS *

FILMNACHWEIS *

 

VORWORT

Über diese Arbeit

Diese Arbeit beschäftigt sich mit der Macht der Dinge, die mich umgeben, die mein Denken und mein Erinnerungsvermögen in einem Ausmaß prägen und bestimmen, daß sie meinen Glauben an die Kraft des eigenen Willens wanken lassen. Die Vorstellung von einer Persönlichkeit, die aus dem Wissen über sich zu Handeln vermag, steht im Gegensatz zu meinem Lebensgefühl: in einer von Anderen geschaffenen Welt nicht gebraucht zu werden. Die Aussichtslosigkeit, in diese etwas Sinnvolles hineinbringen zu können, bestimmte mein Studium von „Dokument und Fiktion" an der HfbK. Das lenkte mein zweifelndes Grübeln auf die Methoden und Funktionen der Filmkonstruktion, in der Texte zu Bildern gemacht werden. Die Frage nach dem Sinn eines solchen Unterfangens bleibt unfragbar, dennoch könnte ich, grob betrachtet, zwei ineinander übergehende Kategorien von Filmdarstellungen unterscheiden:

1. Diejenigen, die eine Erweiterung, Auflösung, Verwandlung, Änderung, Störung, Zerstörung von Denk- und Vorstellungsstrukturen und in der Folge deren Wandlung und die Umgestaltung einer Gesellschaft anstreben, solche, über die ich auch mit anderen reden möchte, um bestimmte Vorstellungen mit anderen gemeinsam zu haben, oder die ich begreifen will, um mich von ihnen zu befreien und deshalb darüber sprechen muß.
2. Solche, die durch ihren Erlebnischarakter, ihren menschlichen oder brutalen Darstellungen
(a) eine Erfüllung der Wünsche versprechen, die unsere geschaffene Welt nicht einzulösen vermag, also solche Glaubensinhalte bestätigen, die sich als nicht realisiert erweisen oder
(b) solche Antriebe zu befriedigen versuchen, die nicht gelebt werden dürfen.

Die zweite Kategorie von Filmen entspricht solchen, die als Erlebnis individuell bleiben können, die nicht wiedererinnert werden müssen und über deren Inhalte nicht mit Anderen gesprochen werden muß, wohingegen in der ersten das wesentliche Ereignis erst im anschließenden Nachdenken oder Gespräch über den Film stattfindet: in der Kritik, in der Wertschätzung, Interpretation oder historischer Bezugnahme.

 

 

 

Mein „Studium" an der HfbK

Ein tristes Klinkergebäude in der Averhoffstraße, die ehemalige Gewerbeschule, bot sich mir als erster Eindruck vom Filmbereich der Hochschule für bildende Künste. Innen ein Raum mit halb kaputtem Fernseher und vertrockneten Pflanzen, orangenfarbenen Vorhängen und einem völlig durchgesessenen Sofa. Dort, zwischen liegengelassenen Papieren, abgelaufenem Filmmaterial und ungewaschenem Geschirr, hielt ein älterer Professor seine Seminare ab. In einem unwiderstehlichen Gemisch aus ehrfürchtigen Gesprächen und nie reibungslos ablaufenden Videovorführungen wechselte Undeutliches, Übertriebenes mit Klarem und manchmal Schönem: Töne blinder Musiker, denkwürdige Botschaften und Halluzinationen, wiegender Tanz der Kamera, Spiegel, Schatten und gebärende Frauenkörper, herabrutschendes Heu und Schafe im dunklen Tunnel. Wie selbstverständlich ließ ich mich in diesen Ort hereinziehen: seine hölzerne Pförtnerloge, seinen zigarrenrauchenden Blockwart, seine Dusche neben dem Negativschnitt, seinen unerschöpflichen Vorrat an Holzböcken und Tischplatten, zerrissenen Vorhängen, grünem Leuchtstofflicht und riesigen, immer leeren Männertoiletten; das alles wurde Teil meines Lebens.

Das in der bildenden Kunst gepriesene Dogma von der Bescheidenheit der Mittel, der sparsam eingesetzten Technik erscheint mir heute als schlechter Witz angesichts dessen, was in den Schneideräumen im Keller der Averhoffstraße realisiert war: der gerissene rotbraune, wie geschmolzene Boden und das Düstere, Mechanische der Apparaturen, die fehlerhaften Kabelverbindungen, die unbrauchbaren, wie zufällig gerade abgestellten oder vorübergehend vergessenen Geräte, die zusammengeflickten Schränke und das Rauschen der Heizung verbanden sich zu einem wirren Eindruck, dem das kleine Monitorbild seine Farbigkeit, seine Töne und bewegten Szenen entgegenhielt, entgegenhalten mußte. Da meine Gegenwehr ausblieb, nahmen diese Räume bald Einfluß auf meine Vorstellungen und Projekte, wurden unbewußt Vor- oder Gegenbilder des zu schneidenden Films. Das Mutige, Befreiende, Verändernde der oben im Seminarraum beschworenen Filme, verwandelte sich im Keller des Schulgebäudes zum Befreiungskampf, zu einem Ringen um die eigene Sache, deren abenteuerliche, kraftvolle, aggressive und liebevolle Strömungen dort im gebrochenen Boden zu versickern schienen.

Gleich neben Kinoboom, Cinemaxx und Avid, Warner Village und THX, sich sonnenden deutschen SchauspielerInnen, StarregisseurInnen vom Land, Studios, voll mit neuster Technik, Produktionsfirmen auf der Suche nach unverbrauchten, jungen Arbeitskräften studierte ich wie viele vor mir im provisorischen Zentrum des „anderen" Films. Ohne arm zu sein, ohne eine ungewöhnlich schlimme Kindheit, ohne irgend etwas Besonderes zu sein, nur immer stilvoll angezogen und voller bedeutender Worte.

 

 

FILMTHEORIE ALS GEGENKONZEPT

Verweigerung

Die theoretischen Texte auf dem Tisch meines Seminars, auf deren Kopien ich immer unzufriedener wartete, die wir wie in der Schule laut vorlasen, und über die ich respektlos stritt, wurden dann zum Verhängnis für meine Filmversuche. Das Durcheinander von Benjamin und Küchenfilm, Pelischjan und S-Bahn-Fahrt-Filmen erhielt dagegen die Vorstellung, vielleicht doch noch alles hinzukriegen, wenn sich mal ein schönes Gespräch entwickelte. Aber jedesmal entfernten sich die Seminare von ihrem bezeichneten Thema im Vorlesungsverzeichnis in merkwürdigen Wandlungen, bis ich den Überblick verlor, nicht mehr wußte worum es noch ging.

Die Texte der Adornos und Kluges entwarfen Konzepte, die sich als wenig hilfreich für eine praktische Durchführung meiner Filmprojekte erwiesen. Im Gegenteil, sie griffen den Sinn von filmischen Darstellungen so grundsätzlich an, daß sie meine manische Neigung zum Grübeln und meine fehlende Ausdauer in der Herstellung von Arbeiten verstärkten. Deshalb stehe ich als allererster in der Reihe derjenigen Kritiker, die sich verweigern etwas Eigenes herzustellen um sich den zu eigen gemachten Ansprüchen und Forderungen der Theorien nicht stellen zu müssen. Die ganze Studiensituation förderte dies auch noch und so ist es an der HfbK durchaus nicht unmöglich zum (Film-)Diplom zu gelangen ohne jemals wirklich in eine praktische Auseinandersetzung mit dem „Filmemachen" gelangt zu sein.

Die Einsamkeit des Lesers

Der Konflikt klärt sich wenn ich einmal davon ausgehe, daß die Errungenschaften der technischen Erfindungen, die Gestaltungen der Produkte und ihre anonymen Verbrauchsinstitutionen also die Kultur, die mich umgibt, zum großen Teil meine Lust und meine Freude am alltäglichen Leben ausmachen. Die mehr noch meine Kindheit, mein Urteilsvermögen und meine „Erlebnisfähigkeit" wesentlich und dauerhaft geprägt haben und deshalb fähig sind, sich gegen meine gedanklichen Gegenkonzepte durchzusetzen. Gerade theoretische Texte, die die Sinnkonstruktionen im Film als Restaurierung überkommener, „von Oben" bestimmter Normen und Werte angreifen, reproduzieren gleichzeitig die ultimative Grundlage unserer Kultur: die individuelle, also einsame Überzeugungsbildung an einem deutbaren Text, die ohne Bezug auf eine „Anwendbarkeit" im Alltag, in einer Gemeinschaft sinnlos bleibt, im extremen Fall befähigt ist, aggressive Bedürfnisse, eine Lebensfeindlichkeit bis zur Gewalt zwischen und gegen Menschen und sich selbst zu unterstützen und zu legitimieren.

Marshall McLuhenhat auf die „Kulturlosigkeit" des lateinischen Alphabets hingewiesen.. Dieses Schriftsystem war im Unterschied zur Bildschrift Ägyptens, die unlösbar mit der speziellen Elitekultur verbunden ist, für alle Kulturen mit den eigenen „Inhalten" füllbar, da sie weitgehend abstrakt ist (sich der mathematischen Sprache annähernd). Die Form-Inhalt-Trennung hat also bereits dort ihren Ursprung ebenso wie das individuelle Lesen und Schreiben, das gleichzeitig universell Verbreitbare. Durch diese methodischen Möglichkeiten sind Texte befähigt sich gegen Gemeinschaften, Gesellschaften, Staatssysteme zu richten und gleichzeitig ihre Herkunft aus und ihre Verbindungen von diesen abgelöst erscheinen zu lassen. Wie eh und je können sie umgekehrt dazu dienen historische Vergangenheit an die aktuellen gesellschaftlichen Machtverhältnisse anzupassen.

Wirklichkeitseindruck in Text und Bild

Der Wirklichkeitseindruck von Texten wurde durch die überzeugende Argumentation, die schlüssige Logik der Satzbauten in der Verknüpfung mit Fakten und Beweisobjekten erreicht. Diese Wirklichkeit wurde mit Abschluß der Industrialisierung, mit der Existenz der „im Leben stehenden" Wirtschaftsbosse (als neue Meinungsführer) parallel zur Entwicklung der Fotografie fragwürdig und in Zweifel gestellt. Der Begriff des Intellektuellen wurde geprägt und ihre angeblichen Repräsentanten diffamiert. Die fotografische Abbildung wurde in der Tageszeitung mit dem Bericht verknüpft und galt von da an als wahres Dokument. Bis heute hält dieser Vorzug des Sichtbaren gegenüber dem Beschreibbaren an: Nicht ohne Grund, denn tatsächlich enthält das Bild per se „kulturspezifische" Inhalte in Hinter- und Vordergrund und braucht diese auch, um einen Wirklichkeitseindruck herzustellen. Die „Propaganda" der Bilder ist also theoretisch leichter identifizierbar als im Text, da sie durch die Methode der Abbildung von sich aus mehr Verbindungen zum Lebensalltag herstellen als Texte, aber diese Feststellung ist heute auch wieder mehr als fragwürdig. Texte, die den Wirklichkeitseindruck von Filmen angreifen, drehen sich dann oft um sich selbst, um den Wirklichkeitseindruck den sie beabsichtigen. .

Mittendrin: Ich

Aus der Sicht heraus, daß alle Meinungsäußerungen standortgebunden sind und es uns laut Einstein nicht möglich ist, uns außerhalb unserer Welt zu stellen, um uns zu beobachten, hängt dann alles davon ab, das Maß der induktiven und deduktiven Kräfte zum Alltag zu bestimmen, die Hinein- und Rückzugsbewegungen innerhalb einer Medienäußerung zu untersuchen. Und es gilt, die materiellen Strukturen des Alltags als von Menschen hergestellte gesellschaftliche Wirklichkeit anzuerkennen, die unser Leben wesentlich bestimmen, deren Konzepte veränderlich sind und verändert werden müssen und die Ausgangs- und Zielpunkt jeder medialen Äußerung sein sollte. Erst dann nämlich kann eine medial geäußerte Schuldzuweisung an Hollywoods Allmacht überzeugen. Viele der im Seminar vorgelegten Texte wurden dieser Forderung nicht gerecht und ich habe lange gebraucht, unterschiedliche Herangehensweisen in der theoretischen Formulierung identifizieren zu können.

 

 

HOLLYWOOD: MÄRCHEN ALS KONZEPT

Filme ohne Botschaft

In Bezug auf den inszenierten Film ist natürlich festzustellen, daß die (behauptete) bewußte Vermeidung intellektueller Botschaften in Filmen ebenso unglaubwürdig ist. Der inszenierte Film so wie Hollywood ihn konstruiert, basiert vor allem anderen auf einem schriftlichen Plot, dessen Konfliktkonstruktion von der Methodik des Schreibens her funktioniert. Die Blockbuster der nordamerikanischen Studios lassen sich auf theoretische Grundlagen zurückführen, die das Problem der Form-Inhalt-Trennung in der Schrift ignorieren. Das gelingt weil sie auf mythischen Gesellschaftskonstruktionen beharren, deren Überkommenheit von Theoretikern der 60er Jahre aufs Heftigste bekämpft wurde. Klassische Lehrbücher für Drehbuchkonstrukteure wurden von Mythen- und Märchentheoretikern wie Christopher Vogeler verfaßt.

Hier zeigt sich das „New Age"-Gestaltungskonzept Hollywoods: Die Verkopplung wirtschaftstechnischer Funktionalität und Methodik mit romantisierenden Konfliktmustern aus dem Mittelalter Europas und Ritualen abgelegener Stammesgemeinschaften. Die eigentliche Entdeckung besteht allerdings darin, daß diese Theoretiker Strukturen und Methoden der Umgestaltung von „Inhalten" aus Märchen- und Mythentexten destilliert haben, deren Anwendung in der Drehbuchkonstruktion bestens funktionieren. Dazu gehört die Umdrehung gesellschaftlicher Realität durch glaubhafte Umformung und Neuzuweisung von Handlungs- und Eigenschaftsmustern. Die Verkopplung des emotionalen (=authentischen) Bildflusses mit den Errungenschaften modernster Technik, verdeckt erfolgreich die verdrängten oder unbewußten ideologischen Grundlagen der „Erzählung". So entsteht die Faszination für die Blockbuster, weil sie es im Gegensatz zu den hilflosen Träumen und schmalen Budgets der Zuschauer schaffen, die Leere und trostlose Mechanik des Alltags zu überwinden.

 

Theoretische Grundlage der Drehbuchkonstruktion: Die narrative Struktur des Märchens

Beispiel 1: ´Kinder brauchen Märchenª(1975), Bruno Bettelheim

Bruno Bettelheim, auf den sich amerikanische Filmtheoretiker gerne beziehen, beschreibt die Märchen von Grimm und Andersen auf der Grundlage der von Freud und Jung entworfenen Vorstellung vom menschlichen Geist. Er unterscheidet bewußte Ansprüche und Forderungen an das eigene Leben von unbewußten aggressiven, sexuellen Antrieben, die seelische Spannungen erzeugen, wenn sie nicht als in mögliches, soziales Verhalten verwandelte Impulse in das Denken integriert werden können. Für Kinder bis in die Pubertät können nach Bettelheim Märchen die Aufgabe erfüllen, unbewußte seelische Spannungen zu lösen ohne sich direkt und rational mit den realen Konflikten in den Beziehungen zu Mutter, Vater, Schwester oder Bruder auseinandersetzen zu müssen. Er beschreibt den Lösungsprozess als einen individuellen, in dem das Kind durch Bilder und Symbole an Konfliktsituationen gewöhnt wird und dadurch deren Existenz zu akzeptieren beginnt. Märchen finden immer einen guten Ausgang aus einem bedrohlich erscheinenden Konflikt und vermitteln dem Kind, das für die eigenen, übermächtig erscheinenden Konfliktsituationen auch eine Lösung gefunden werden kann. Im Märchen werden existentielle Dilemmata, menschliche Nöte behutsam und hoffnungsvoll erzählt. Es benutzt vergessene, oft religiös bedeutsame, symbolische Objekte, die der Natur und einer entfernten Vergangenheit entnommen sind: Wald, Rabe, Hexe, Brunnen etc.. Die in den Märchen entworfene Objektstruktur bezieht sich auf eine vorindustrielle, ländliche Welt wie sie heute nur noch in geschichtlichen Vorstellungen existiert und ist gerade deshalb, laut Bettelheim, für Kinder geeignet, da sie sich mit Hilfe dieser für sie weitgehend als Phantasie erscheinenden Welt intuitiv auf die Handlung der Personen konzentrieren.Die phantastische, in eine Vergangenheit verschobene Objektstruktur ist ein Grund warum Märchen über alle sozialen Unterschiede hinweg von allen Gruppen der westlichen Gesellschaften angenommen werden und warum die von Bettelheim beschriebene Funktion das Interesse des Drehbuchkonstrukteurs hervorruft. Der Regisseur hat aber den Umstand zu bewältigen, das er eine materielle Struktur in Bildern zeigen muß, die sich nicht wie im Märchen auf Wörter, symbolische Begriffe, also unter Verzicht auf Details reduzieren lassen. Eine phantastische, zeitllich entfernte Ausstattung, die einen für den Erwachsenen konstruierten Film tragen könnte gelingt nur in den Fällen wo sie glaubwürdig an eine mögliche oder vergangene Umgebungsstruktur anknüpfen kann. Dazu muß er Umgebungen wählen, die weiten Teilen der Bevölkerung zwar nicht zugänglich sind, deren ausschnitthafte und bruchstückartige Darstellungen ihnen aber durch Zeitschrift, Fernsehen oder Tageszeitung vermittelt wurden. Gelungene Beispiele sind Filme, die die zukünftige Besiedlung des Weltraums thematisieren, wie z.Bsp. die ´Krieg der Sterne-Trilogie (1977/79/82; 503Mio $ Erlös)ª. Oder die mögliche Wiederbelebung von Urzeittieren auf einer fernen Insel mit Hilfe von Computertechnik in ´Jurassic Park (1993; 865Mio $)ª. Eine weitere Möglichkeit ist die direkte Adaption von Comicgeschichten und ihrem illustrativen Phantasmus wie in ´Batman (1989; 150Mio $)ª.

Umgekehrt würde aus der Sicht der Schreiber moderner Filmmärchen eine reale Darstellung sozialer Verhältnisse in ihrer materiellen Umgebung die Bezüge zu den eigenen Ängsten, Verlust von Freundschaft, Scheitern von Hoffnungen, Tod, direkt vor Augen führen, die behutsame, liebe- und hoffnungsvolle Erzählweise würde durch die ins Bewußtsein drängenden, von den sichtbaren Objekten angeregten Erinnerungen und Gefühle wirkungslos, der Zauber verfliegen.

Einen weiteren für die Filmkonstrukteure bedeutsamen Vorgang betrifft die Auswahl der zu nutzenden menschlichen Grundkonflikte. Bettelheim beschreibt die Tatsache, daß das Kind von seiner Vorleserin oder seinem Vorleser bestimmte Märchen eine zeitlang immer wieder zu hören verlangt als intuitive Auswahl einer Geschichte, die seinem gegenwärtig dringendstem Problem bzw. seiner Lebenssituation am ehesten entspricht.

Folgt man Medientheorien wurde das Grundmaterial von Sagen, Mythen und Märchen durch kontinuierliche, langsame Veränderung über Jahrhunderte in mündlicher Überlieferung herausgebildet. Auch der mündliche Erzähler hatte danach durch den Kontakt mit seinem Publikum und seiner Erfahrung, die Möglichkeit, den Vorlieben seiner Zuhörer zu entsprechen Er konnte bestimmte Erzählelemente improvisierend variieren und an örtliche Gegebenheiten anpassen um so die jeweils wirksamste Geschichte vorzubringen. Der globale Filmkonstrukteur muß dagegen im Vorweg heraus finden, welche Geschichten und Örtlichkeiten, symbolische Strukturen das größte und breiteste Interesse seines Publikums hervorrufen werden. Aufgrund dessen sind Erfolg und Mißerfolg weitaus unsicherer und mit ein Grund warum einmal wirksame Grundelemente im nordamerikanischen Spielfilm so oft und gerne wieder aufgenommen werden. Das nordamerikanische Produktionssystem hat sich im Laufe der Jahrzehnte seinen eigenen Erfahrungsschatz hinsichtlich der Erfolgsaussichten von Filmsujets geschaffen, der sich genau bestimmen läßt.

 

 

Beispiel 2: ´Die historischen Wurzeln des Zaubermärchensª(1946), Vladimir Propp

Vladimir Propp lieferte 1949 einen anderen Beitrag indem er das Märchen anhand seiner historischen Wandlungen untersuchte. Seine Ausführungen sind stark von den ethnischen Forschungen seiner Zeit beeinflußt, die sich auf die Entdeckung einer möglichen, prähistorischen Herrschaft der Frau konzentrierten. Dadurch erhielten die historisierenden Forschungszweige eine neue Interpretationsperspektive, die nun die archäologischen Objekte und die Geschichtsschreibung als bewußten Prozeß der Umgestaltung matriarchaler in patriarchale Herrschaftsstrukturen erkennen mußten. Propp untersucht die Darsteller, Orte, Objekte und Handlungen des Zaubermärchens im Vergleich zu Initiationsriten geschlechtsreifer Jugendlicher solcher Kulturen, die zu jener Zeit noch existierten (Australien, Guinea) sowie anhand historischer Zeugnisse (Ägypten, Nordamerika, Griechenland). Im Vergleich der historischen Überlieferungen der Riten mit den zeitlich späteren Märchen stellt er die Verschiebung der Aufgaben einzelner Erzählelemente heraus und versucht diese anhand der gesellschaftlichen Situation zu erklären.

Der Leiter der Initiation, Zauberer, Schamane, Häuptling, Sippenvorstand wird im Märchen zur (weiblichen) Hexe gewandelt, die ehemals realen Opferungen, Mißhandlungen und Verstümmelungen der Novizen einer angenommenen, matriarchalen Frühzeit sind im Ritus einer symbolischen Ersatzhandlung gewichen. Das Märchen greift einige Elemente, wie das Abhacken von Fingern, das An- und Verbrennen von Menschen, das Hautabziehen als real wieder auf, in der Niederschrift präsentieren sich diese Handlungen aber durchgängig als umkehrbar, d.h. der Held oder die Heldin werden zum Schluß wieder unversehrte, ganze Menschen. Wandlungen werden von Propp mit dem behaupteten Übergang von einer jagenden Gesellschaft zu einer Ackerbaukultur erklärt und der sich parallel verändern Darstellungsweisen: vom realen Vorgang über das symbolische Schauspiel zur Erzählung, zur Niederschrift. Die anhaltende Bedeutung und Erhaltung der Märchen erklärt er mit ihrer Verwandschaft zu Todesvorstellungen in Verbindung zur Erlangung sexueller Reife, wie sie im Ritus symbolisiert sind und im Märchen real aber reversibel vorkommen. Der Heranwachsende muß die verschiedenen Stadien der Verwesung einer Leiche in umgekehrter Weise durchleben, er muß im Ritus symbolisch sterben, die Welt der Toten und Geister aufsuchen, von denen er für das Leben des Erwachsenen bedeutsame Kräfte erhält. Im Märchen stirbt er vorübergehend oder verwandelt sich für eine Zeit in ein Tier, daraus hervor geht ein Mensch, der Kraft seiner ihm geschenkten Zaubergaben und —kräfte aus dem fernen Reich zurückkehren kann und das in der Anfangskonstellation geschehene Unglück wandelt sich in ein glückliches Eheleben. Die Qualität der vorgenommenen Veränderungen findet sich in der Zuschreibung des Unglücks, der ausübenden Gewalt, der Figur, die das Böse verkörpert und ausübt, die laut Propp im Märchen der überwundenen Frauenherrschaft zugeschoben wird. Die Person des Vaters, Zauberers, Schamanen, der im Ritus den Novizen seiner Beschneidung, Vergiftung, Mißhandlung zuführte, in den Wald, in eine Hütte, in ein Erdloch, wurde zur Hexe oder Stiefmutter gemacht und damit einer Vergangenheit vor dem Ritus angelastet. Zugleich gilt die Prüfung nicht mehr dem Todeserlebnis sondern der Überwindung oder Vernichtung des nun personifizierten Bösen, der Autorität, die das Ritual einmal anordnete, die in Hexe oder Stiefmutter gewandelte ehemalige Führungspersönlichkeit. Die Darstellung der Hexe als Herrscherin über die Tiere und Pflanzen des Waldes, über den Wind oder das Feuer ist in dieser Sichtweise analog zu den Vorstellungen von Naturgöttern, den Brandbestattungen etc. zu sehen, die im europäischen Christentum des Mittelalters als überwunden galten und verboten wurden. Deshalb wird die Hexe im Märchen eigentlich machtlos dargestellt, am Ende wird sie immer verbannt oder vernichtet. Für Held oder Heldin ist es dennoch wichtig diese urtümlichen und geheimnisvollen Kräfte, über die die Hexe gebietet kennen und nutzen zu lernen. Zunächst um sie selbst zu besiegen und dann um den früheren Konflikt, der an ihrem Heimatort entstand und aufgrund dessen sie oder er fortgehen mußte, mit Hilfe des gewonnenen Zaubermittels zu lösen.

Propp entwirft in seinem Buch, ganz in dialektischer Tradition, eine kritische Theorie des Märchens, im Gegensatz zu Bettelheim, der die Kritik zurückweist, in dem er die Gut-und-Böse-Strukturen der Märchen als heilsam für die menschliche Seele darstellt. Propp hat die Funktionsstruktur der Erzählungen sehr genau analysiert, sie findet sich in den Drehbuchtheorien amerikanischer Autoren wieder. Auffallend an den meisten dieser Schreibanleitungen ist, daß sie in ihren Vorworten oft kleine Abhandlungen über die Richtigkeit und die Bedeutsamkeit der nachfolgenden dramatischen Konstruktionspläne führen. Meist werden dann esoterische Einschätzungen über den Mythos als solchen mit Verallgemeinerungen über menschliche Grundvorstellungen oder -fragen vermischt, die die universale Gültigkeit einer einzigen Erzählweise darlegen sollen. Dann werden C.G. Jung oder Joseph Campbell zitiert usw. Zum Ende hin wird noch einmal beteuert, daß das vorliegende Buch selbstverständlich nur Anregung sein kann, keinesfalls Rezeptanweisung. Was dann nachfolgt hat mit Menschlichkeit allerdings nur wenig gemeinsam. Sie entspricht genau den Ausführungen Propps, der das Märchen als gespiegelte und idealisierte Wiedererzählung der jeweiligen gesellschaftlichen Machtverhältnisse interpretiert. Das Gute im Menschen gewinnt am Ende immer die Oberhand und dieses ist wie eh und je das Stärkere, Klügere, Listigere, Potentere. Und immer derjenige Held überlebt die Katastrophe, der noch Stärkere hinter sich weiß, der ein Auskommen mit den „guten" Machthabern und ihren Gesetzen findet. Dann erhält er auch die schönste Frau am Platze.

Christopher Vogeler zitiert die Stationen der Heldenreise aus Joseph Campbells ´Heros in tausend Gestaltenª:

1. Aufbruch
Hütte oder Schloß des Alltags
Berufung
Weigerung
Übernatürliche Hilfe
Das Überschreiten der ersten Schwelle
Der Bauch des Walfischs

2. Initiation
Der Weg der Prüfungen
Begegnung mit der Göttin
Das Weib als Verführerin
Versöhnung mit dem Vater
Apotheose
Der höchste Segen

3. Rückkehr
Verweigerung der Rückkehr
Die magische Flucht
Rettung von Innen
Rückkehr über die Schwelle
Rückkehr
Herr der zwei Welten
Freiheit zum Leben

Der Grund, daß Filme, die nach solchen Schemen konstruiert sind, so wunderbar wirksam funktionieren ist wohl weniger im Inneren der menschlichen Seele zu finden als in der Tatsache, daß sie so wunderbar die Leistungsnormen unserer Gesellschaften integrieren.

Indem im Film das Gute und Böse zu virtuellen, aus der Distanz zu betrachtenden Figuren gemacht wird, kann der Zuschauer aussuchen, mit wem er sich identifizieren möchte. Wer würde nicht die Attraktivste und Stärkste der DarstellerInnen wählen?

Frau und Mann als Status- und Eigenschaftsobjekt

Beispiel: ´Pretty Womanª (1990), Garry Marshall

(für Anna)

Frauen sind doch nicht die besseren Menschen

´Pretty Womanª ist einer meiner meistgehaßten Filme. Die glamouröse Verlegung pubertärer Phantasien in die Gegend der Hochfinanz übt eine Vermischung in meinem Kopf aus, die ein Haufen peinlichster Phantasien und Hoffnungen aufsteigen lassen, um deren Überwindung ich mir nie sicher war. Um dem dringlichen Wunsch, solche Formen von Luxus und Schönheit, sexueller Erfüllung und wahrer Liebe unbedingt auch haben zu müssen, auf keinen Fall nachzugeben, richtete ich mich schon nach dem ersten Bild reflexartig dagegen. Unvermeidlich wußte ich anschließend gegenüber meiner weiblichen Begleitung nur Schlechtes zu erinnern, die ihrerseits den von mir erzwungenen Verlust ihrer Verzauberung mit zunehmender Humorlosigkeit quittierte. ªPretty Woman´ ist also ein ganz typischer Film, um mich völlig zu frustrieren: meine Hoffnung im Grübeln über meine männliche Rolle meine Befangenheit und schmalen Schultern wettzumachen, also zumindest für eine Anzahl von Frauen attraktiv zu wirken, schwand angesichts solcher Übermänner: wer sich beschwert, bleibt ein Schwächling. Wer jemals mit einer nordeuropäischen, klugen, attraktiven und selbstbewußten Frau in Filmen wie ´Pretty Womanª oder ´Bodyguardª war, wird die Überraschung vielleicht nachvollziehen können, die mein spätes Erwachen aus einem jahrelangen Schlaf einleitete: Frauen sind doch nicht die besseren Menschen. Souveräner Umgang mit Angestellten und Frau, die zur freien Verfügung gestellte Kreditkarte in Kombination mit sehr gutem Aussehen, ist die unwiderstehliche Mischung, die das angelesene und mühsam aufrechterhaltene Regelsystem der emanzipierten Frau mit Freuden aufgeben läßt. Der Erfolg von ´Pretty Womanª bringt mich zu der Behauptung: Unsere ersehnte moralische Entlastung wird am Wirkungvollsten durch die filmische Bestätigung erreicht, wichtig und harmlos zugleich zu sein. ´Pretty Womanª läßt mich an einer Art ungelöster Widersprüche teilnehmen, die der meines Kinderzimmers gleichen, in der alles nur Spiel in üppiger Ausstattung blieb. Eigentlich sind wir ja alle nur nett und jeder weiß, daß wir nichts böses wollten, wie könnten wir „dafür" verantwortlich sein, wenn wir doch nur die Tochter und der Sohn von X sind und sowieso geht es am Ende gut aus. Dieses Gefühl der Unschuld reproduziert Julia Roberts in Gestalt der Vivian auf so überzeugende Weise, daß sogar die Drehbuchkonstruktion zur Lösung des sekundären Konfliktes völlig unbedenklich erscheint: Ihr zukünftiger Mann wird auf ihren Rat hin als Konzernchef Kriegsschiffe herstellen lassen, anstatt wie bisher Firmen zu zerschlagen: Was für eine Karriere!

´Pretty Womanª, ªMy Fair Ladyª, ´Pygmalionª

Erst im zweiten Hinschauenerschließt sich´Pretty Womanª als Variation eines Bühnenstücks von George Bernard Shaw (Pygmalion, 1913). 1938 wurde das Motiv der armen jungen Frau, der sich ein Professor annimmt, um sie zu einer Dame der „Gesellschaft" zu erziehen, erstmals verfilmt. 1964 wurde ´Pygmalionª als ´My Fair Ladyª das erfolgreichste Musical aller Zeiten.

Edward Lewis (Richard Gere): Der feine Mann fürs Grobe

Richard Gere spielt einen smarten Geschäftsmann, der weiß, wie man sich erfolgreich in Konferenzen und Gesprächen behauptet und wie man sich elegant und souverän an Orten bewegt, die Größe und Macht repräsentieren: Hotels mit riesiger Eingangshalle und edlem Foyer, Restaurants in denen man persönlich begrüßt wird und Partys, auf denen man informierte Konversation pflegt. Sein Filmcharakter entspricht einer typisch nordamerikanischen Sicht nach der diejenigen Repräsentanten der produzierenden Wirtschaft, die heute die führende Elite stellt, Vorbildfunktion erhalten, die dank ihrer musischen oder geisteswissenschaftlichen Ausbildung humanistische und künstlerische Werte in ihr weltveränderndes Handeln einfließen lassen. Der von Gere verkörperte Charakter könnte so ein Vorbild sein. Zunächst erscheint er aber als der vom bösen Rechtsanwalt verführte Held. Mit Hilfe von Insiderwissen haben die beiden das Risiko ihrer Finanzspekulationen minimiert und sich selbst bereichert. Die Wandlung des Helden vom spekulierenden zum produzierenden Geschäftsmann, der zukünftig Kriegsschiffe bauen wird, ist für die Geschichte aber nur sekundäres Problem. Die Wiedergewinnung eines Zuhauses, einer liebenden Frau, ist das erste und letzte Ziel, nur deshalb nimmt die Geschichte ihren Lauf.

Vivian (Julia Roberts): von der Hure zur Hausfrau durch Geschäftsabschluß

Durch die Veränderung der naiven und grob plappernden Blumenfrau aus ªMy Fair Lady´ in die naive und zappelige Prostituierte ªPretty Woman´ funktioniert das „Mann formt sich Frau"-Thema auch für das „emanzipierte" Publikum der 80er Jahre: Die Geschäftsgrundlage „Dienstleistung gegen Geld" legitimiert die Handlungsweise von ªPretty Woman´ bis zum letzten Viertel des Films. Das heißt, durch den mündlichen Vertrag, den sie mit ,Edward Lewis‘ abschließt, entfällt die gesamte Auseinandersetzung mit sich und dem Frauenbild, dem sie für ihn und die Geschäftswelt entsprechen soll. Zusätzlich wird damit auch der Wunsch nach Klarheit und Einfachheit der zu identifizierenden Rollen verwirklicht. Drittens ist dem Regisseur anhand des Berufsbildes „Körper gegen Geld" erlaubt, Vivian ohne Widerspruch in einem Schwenk zuerst als sich wendender Unterkörper im schwarzen Slip und dann erst als menschliches, mit Erinnerungsfotos (ihr Kopf in verschiedenen Altersstufen) auf dem Nachttisch ausgestattetes Wesen einzuführen. Schnitt auf die linke Brust im schwarzen BH, Zwischenschnitt auf den zu bereifenden Arm, direkter Schnitt auf „Richard Lewis‘" Kopf. Weitere angedeutete sexuelle Handlungen, wie Ausziehen der Stiefel und Strümpfe, Vorschieben der Brüste, Greifen in den Schritt, Fellatio, Sex auf dem Klavier, ergeben sich von selbst aus dem beruflichen Selbstverständnis.

Die kontinuierlich eingeschnittenen „Erotik"-Szenen (ca. alle 5min) haben noch eine zusätzliche Funktion: sie bilden das Gegengewicht zum eigentlichen Charakter des Schauspiels von Julia Roberts. Wie ein orientierungsloses, für die harte Realität ihrer Umgebung blindes Wesen fungiert sie als weibliche Leerstelle, die allein von den Lehrsätzen ihrer Erziehung geprägt, unwissendes Kind spielt: „… und seine Zähne soll man immer pflegen!". Abgesehen davon, daß sie durch Versager: „…er war nichts und er hatte nichts. Der nächste war noch schlimmer.." in die Prostitution „reinrutschte" und nach jedem Freier weinen mußte, wie sie behauptet, hält sie ihre Rolle als Professionelle nur sekundenlang durch. Sie verrät ihren echten Namen auf einen mißbilligenden Blick hin, hält an den falschen Momenten inne und flirtet sichtbar, ist leicht beeindruckbar und läßt sich dieses auch anmerken. Im Penthouse, nachdem sie ihre Schuhe ausgezogen hat, ist sie ganz sie selbst, kichernd verloren in den harmlos erotischen Spielen der Weintreterinnen im Fernsehen. Am Morgen zeigt sich ihr wahres Wesen: weißer Morgenmantel, feuerrotes Haar, sie ist die heilige Jungfrau der Prostituierten. Es klafft hier also ein Entwicklungswiderspruch: Vivian ist Kind im Geiste und sexuell selbstbewußte Frau zugleich. Der daraus resultierende Konflikt ist aber nicht der der Lolita, die reihenweise Männer ins Unglück stürzt, denn den Konstrukteuren gelingt es auf besondere Weise, den Kindfraukonflikt durch die Wahl der Darstellerin und ihrer Profession zu neutralisieren: Julia Roberts ist immer mehr harmloses Kind als raffinierte Verführerin. Ihre Verführungskünste spielt sie betont aufgesetzt, angelernt, sie ist nicht begabte Lolita, ist also für die Männer ungefährlich, sie erliegen nicht ihren direkten sexuellen Avancen, sondern belächeln ihre Naivität und später bewundern sie anerkennend ihre Fortschritte.

Menschen ohne Eigenschaften

Die Einfachheit der Darstellung ergibt sich vor allem aus der Identitätslosigkeit der Hauptdarsteller: zunächst können sie nur als attraktive Körper, dann indirekt über ihre Begleiter als Menschen identifiziert werden (beide tragen uniforme Berufskleidung): als Menschen ohne die schlechten Eigenschaften von Partner Rechtsanwalt (Geld-und machtgierig) bzw. Kollegin Prostituierte (unzuverlässig, latent drogensüchtig) werden ihnen dann einzelne Eigenschaftsattribute zuerkannt: Edward Lewis hat Höhenangst und ist technisch ungeschickt, was seine Entwicklung zum „richtigen" Mann, der seine Frau auf dem Flügel nimmt, impliziert. Vivian zappelt herum und ist blind gegenüber ihrer Kleidung, ihrem Status als Prostituierte gemäß das niedrigste Frauendasein zu fristen. Sie ist technisch geschickt und weiß zu handeln, in Geldfragen ist sie pragmatisch, zuverlässig und moralisch, was ihren Werdegang zur potentiellen Ehefrau rechtfertigt. Damit ist sie aber alles andere als eine komplexe Persönlichkeit, sondern entspricht einer für alle zusätzlich mit Phantasien ausstattbaren Frau wie auch Edward Lewis durch sein geschäftsmännisch immer gleichbleibendes, souveränes Wesen sich als Projektionsfläche, also als Hineinsehfläche für eigene Merkmale, geradezu anbietet.Beide Charaktere entsprechen einem scheinbar kleinsten, gemeinsamen Nenner im Unterscheiden von Frauen und Männern der westlichen Welt. So sehr wurde auf eine behutsame Erzählweise gesetzt, daß geradezu alles, was die Hauptcharaktere als Besondere, als Individuen mit realen, von der Geschichte wegführenden, ihre simple Konsistenz möglicherweise bedrohenden Fähigkeiten, Vorlieben, Erinnerungen oder Charakterzügen kennzeichnen könnte, strikt vermieden wird. Die Charaktere entsprechen deshalb solchen Mann/Frau-Differenzierungen, zu denen auch gekränkte Kritiker wie ich zähnenknirschend „vielleicht" sagen müssen. Die Frau ist also gefühlvoll, pragmatisch und direkt in ihren Formulierungen und Handlungen, der Mann plant und rationalisiert undeutlich, die Frau ist sprunghaft, der Mann gelassen, kann also seine Gefühle nicht formulieren, die Frau bekommt die Flasche nicht auf und verliebte sich in Versager, der Mann trägt 110 Minuten lang Anzüge (zwei kurze Ausnahmen), bestellt ihr Fleisch und Kartoffeln zum Frühstück, sie aber ißt Croissant im Stehen usw.

Aktion, Reaktion, Neutralisation

Der ganze Film funktioniert. Er überzeugt ganz wesentlich durch seine Selbstbezogenheit: indem jede eingeführte Figur und jedes eingeführte Element mindestens einmal wieder gezeigt, in Handlung weitergeführt und schließlich aufgelöst wird, bestätigt sich die Erzählung ihre eigene Geschichte rückwirkend. Besondere Eigenschaften oder Umstände, z.B. das Automobilwissen von Vivian dienen nur der symmetrischen Ergänzung, Neutralisierung oder Unterscheidung ihres zwangsläufig passenden Gegenübers. Die leichte Einfachheit der Erzählung bedingt die völlige Eliminierung von Quer- und Parallelsträngen, die absolut verständliche auf Aktion, Reaktion und Neutralisation der Handlung orientierte Erzählweise gibt dem Film seine verzaubernde, mathematisch und marktwirtschaftlich präzise Glaubwürdigkeit. Indem ªPretty Woman´ zur Prostituierten und damit zur professionellen „Kennenlernerin" gemacht wurde, ersparen sich die Konstrukteure jegliche heiklen, betroffen machenden, zarten, schwierigen oder peinlichen Momente des Kennenlernens und erfüllen damit einen modernen Traum: Das komplikations- also risikofreie „Verlieben" auf Geschäftsgrundlage.

Der Märchenprinz

Die marginale Veränderung des männlichen Helden im Verlauf des Films entspricht der wundersamen Nichtwandlung der Hauptdarstellerin. Entwicklung geschieht nur im Sinne der Vorgängerfilme, wie durch Erziehung und Ankleidung aus einer zappeligen, naiven aber attraktiven Frau das sexuell höchst attraktive, dabei elegant sprechende und ruhig bewegende Geschöpf des Mannes an ihrer Seite wird. Das Grundmotiv, Märchen, ist der Wunsch einer jungen Frau nach einem Traumprinzen, der dank seiner Kraft und Umgangsformen, seiner materiellen Güter, seiner Attraktivität dazu geeignet ist, aus ihr ein willenloses Geschöpf zu machen, das sich fast bedingungslos unter seine Normen und Regeln in Verhalten und Kleidung unterwirft. Der Wunsch beinhaltet auch das Bedürfnis nach einer klaren Rollenzuordnung, in denen die Aufgaben von Mann und Frau geklärt und nicht fortlaufend neu formuliert werden müssen, wiederkehrender Verhandlungen oder Machtkämpfe bedürfen. Auf der Seite des Mannes korrespondiert der Unterordnungswunsch mit dem Wunsch nach Besitz eines möglichst unkomplizierten Sexualobjektes nach seinem Geschmack, sprich seinem Status in der Geschäftswelt förderlich.

Das letzte Viertel

Der zu lösende Konflikt aus dem ersten Akt: „Baby, ich werde so nett zu dir sein, daß du nicht willst, daß ich jemals wieder gehe!" „3000, für 6 Tage, und Vivian, ich werde dich gehen lassen!" („das wollen wir erstmal sehen…"), wird im letzten Viertel nicht direkt angesprochen. Statt dessen erzählt Vivian ihren Mädchentraum. Ehe und gemeinsames Heim bleiben ausgelassen, es geht um mehr: Edward: „…zu mehr habe ich nicht den Mut" und um die Rettung: Vivian: „Mein Ritter klettert den Turm nach oben und rettet mich". Inszeniert sind ihr Ziel und seine Verweigerung in ihren Möglichkeiten als Leerstelle, die Art und Weise der möglichen Gemeinsamkeit bleibt offen. Erst im rückwirkenden Zusammenfügen wird die „Emanzipation" Vivians deutlich: Sie küßte Richard von sich aus auf den Mund, erwählte ihn so zur Liebe. Dadurch verwandelt sie sich von der Hure zur potentiellen Ehefrau, deren Recht es ist, vom Mann die Selbstverpflichtung zur Monogamie und zum gemeinsamen Heim im Austausch gegen Unterordnung und Liebesdienst einzufordern. Dieses bleibt aber unausgesprochene Forderung, strukturelle Leerstelle, und bringt dadurch eine, durch das Streben nach Unabhängigkeit diskreditierte, tatsächlich bedeutende menschliche Äußerung in den Vordergrund: die liebevolle, freie, selbstverantwortliche und vollständige Entscheidung für den Partner, die Vivian dem schlafenden Edward gegenüber bezeugt, die er ihr aber zunächst verweigert. Dem Versuch, seine Liebe in seinen Besitz und seine Ordnung als ein Teil von Vielen einzuordnen, widersteht ªPretty Woman´ verzichtfähig und konsequent und erinnert dort an „Eliza Doolittle". Die Entscheidung: im Schlafzimmer nimmt Sie ihn an, er erobert sie im Cadillac, begründet den romantischen und mystischen Charakter des Films: der Glaube an die einzige, wahre Liebe, deren Ausgang offen bleibt. Indem im Film alles auf diese Entscheidungen hin funktioniert, seine Institutionen Ehe und Heim, zukünftige Mutter- und Versorgeraufgaben aber unausgesprochen und undargestellt bleiben, gelingt es den Konstrukteuren den pubertären, romantischen Zauber herzustellen, der abgelöst von seiner materiellen und normativen Struktur die Illusion wahrer Erfüllung herzustellen vermag.

´Pretty Womanª: ein offenes Kunstwerk?

Die eigenschaftslosen Charaktere und die unformulierten Realitätsstrukturen, deren Abwesendheit durch eine permanent vorgeführte Luxuriösität unbedrohlich bleibt (Geld macht natürlich glücklich!), weisen ´Pretty Womanª so möglicherweise als die nordamerikanische Variante eines offenen Kunstwerkes aus. Die eigentlich beliebige Deutbarkeit, die offenen Projektionsflächen, die uns Edward und Vivian anbieten, werden in der inhaltlichen Lösung des Films ja als eindeutige und entschiedene Entwicklung präsentiert. Das trifft den Kern der medialen Informationsvermittlung nicht erst seit dem Golfkrieg: Es gilt auf entschiedenste Weise, nichts zu sagen. Zu Handeln ohne Wissen. Zu Hoffen ohne Grund. Durch ihre Technik, die verschiedensten Wünsche und Hoffnungen in bestimmten Grundelementen fokussieren zu können und damit Menschen Zorn und Verzauberung fühlen zu lassen, heizen Filme wie ´Pretty Womanª die Bedürfnisproduktion erst richtig an, anstatt sie mit den unerfüllten Wünschen zu versöhnen. Das Konkrete von Pretty Woman: Finanzspekulation, Prostitution, Ehe und Mundgeruch befindet sich in der Peripherie, an der im Dunst verschwimmenden Außengrenze des Films. Direkt um Edward und Vivian ist alles abstrakte Liebe: frei beweglich, unabhängig und assoziativ. Anstatt dann aber mit ihnen den Ausbruch aus dem Alltäglichen feiern zu dürfen, müssen wir zusehen wie unser kleiner, an der Kinokasse bezahlter Freiraum in langweiligen Hotelsuiten eingepfercht wird.

 

 

Die Mann-Tötungsmaschine. Und die Frau auch.

Beispiel: ´Terminatorª (1984), James Cameron

Arnie auf Video

Den ersten Film mit Arnie Schwarzenegger habe ich irgendwann nachts inmitten von Matratzen voll von Kiffern auf Video erleben dürfen: Conan der Barbar. Sozusagen als Geheimtip angepriesen fand ich die verquaste, zähe Geschichte ziemlich dämlich. Dennoch ging von dem Film eine seltsame Faszination aus, die knapp bekleideten Frauen und meine gebannt starrenden Freunde, so was gab es damals immerhin nicht im Fernsehen zu sehen. ´The Terminatorª habe ich in einem zum Wohnraum umgebauten Keller ebenfalls auf Video geschaut, mit ganzen 18 Jahren, als es noch sowas wie Kopierschutz gab und mir schon allein der Besitz einer Kopie sehr bedeutend vorkam. Meine mittelständische Gymnasiastenerziehung verbat mir den Film irgendwie zu akzeptieren, er schaffte es aber natürlich trotzdem mich in den Bann zu ziehen, die Gewalt und die anziehende Technik zu genießen. Am spannendsten an Terminator fand ich, daß Arnie einen Cutter zum Aufschneiden seines Armes benutzte, dessen Modell ich selber besaß. Damit hatte der Film es geschafft von meiner kleinen mittelständischen Welt fern von Horrorvideos und Porno akzeptiert zu werden.

Die Exposition für das moralische Gewissen

Die Exposition, im klassischen Drama die Einführung in die Handlung, die vor dem Beginn des Stückes ablief, ist für den globalen Konstrukteur eminent wichtig. Sein Interesse muß es sein, Fehlinterpretationen, vor allem die Frage nach dem „warum" zu verhindern um die möglichen Widerstände seines Publikums gegen die dargestellten Inhalte zu überwinden. Das Science-Fiction-Thema von ´Terminatorª wendet sich an die technikbegeisterten, männlichen Zuschauer zwischen 16 und 30 Jahren in Nordamerika, Europa und Japan. Für die Installation des Grundkonfliktes benutzt der Film die Idee der Zeitreise wie sie in ªThe Time Machine (1960)´ eingeführt wurde. Orientierung in der ersten Szene, die ein Schlachtfeld mit fliegenden panzerähnlichen Gefährten zeigt, bietet der Untertitel „Los Angeles 2029 A.D." Daraus schließe ich, das eine zur Zeit existierende, bekannte Millionenstadt in der Zukunft vollkommen zerstört sein wird. Eine Texttafel formuliert die für das Verständnis wichtige dramaturgische Ausnahmesituation: „The machines rose from the ashes of the nuclear fire. The war to exterminate mankind had raged for ages,...". Das entscheidende Duell gegen die Maschinen, die die Menschheit vernichten wollen wird aber in der Gegenwart (1984) geführt: „Tonight…" also jetzt. Nach dem Erscheinen des Terminators in einer elektrischen Entladung klärt mich eine weitere Texttafel über den sozialen Konflikt von Mensch und Maschine in diesem Film auf. Die Maschine, die sich als muskelbepackter Mensch ausgibt, muß gestoppt werden.

Der Ausgangsentwurf hat eine doppelte Funktion: Er verspricht dem männlichen Zuschauer sich als großen Kämpfer zu erleben und zweitens legitimiert er ihn, die brutalen und willkürlichen Gewaltszenen gegen Menschen guten Gewissens zu genießen, da Mitgefühl, Zusammengehörigkeitsgefühl oder gelernte moralische Verbote als hemmende Impulse für eine Maschine nicht gelten: Menschen fühlen, Maschinen funktionieren. Die in apokalyptische Dimension gehobene Wichtigkeit der Handlung, Erhalt oder Untergang der menschlichen Rasse, erlaubt es auch die brutale Gewalt des menschlichen Gegenspielers, z.B. gegen die Hauptdarstellerin als selbstverständlich zu akzeptieren. Die Verlegung der Ausgangssituation in eine mögliche Zukunft als Atomkriegsassoziation machen zusätzlich die simplifizierende Einteilung in gute und böse Charaktere plausibel und erinnern an Märchen- oder Mythenstrukturen: auf der einen Seite ein fast unbesiegbarer, gottähnlicher Spieler, auf der anderen der schwache menschliche Gegenspieler und die zu schützende Frau.

Im Unterschied zum Golem- oder Frankensteinthema, wo das fehlende Mitgefühl, die Unfähigkeit des Schöpfers sein Geschöpf zu lieben, die Tragödie auslösen, erfüllt der Terminator einzig die Funktion als Nichtmensch dem sozialen Zusammenhang enthoben zu sein. Er wird als Produkt einer gewesenen Zukunft eingeführt, in der der Mensch die Kontrolle über seine Geschöpfe bereits verloren hat. Damit umgeht James Cameron geschickt die Auseinandersetzung des gestörten Verhältnisses Mann-Maschine, als Ersatz installiert er dann einen moralischen Scheinkonflikt. Mit Hilfe dieses Tricks kann der männliche Zuschauer, von sämtlichen moralischen Kategorien befreit, die Gewalt und Willkür des Terminators genießen. In seiner Struktur spricht ªThe Terminator´ durch seine Identifaktionsangebote auf Befriedigung von Bedürfnissen des Zuschauers an, die nur dann relevant sind wenn ein Mangel außerhalb der Kinovorführung bestanden hat. Ein Mangel, Männlichkeit in der dargestellten Weise leben zu können, der durch Verbote, Hemmnisse oder körperliche Schwäche entstand. Im Unterschied zu Chantal Akerman’s ªJeanne Dielman´, der die vermutete Unmöglichkeit, sich als Frau in der Welt selbst bestimmen zu können, zur körperlich fühlbaren Angelegenheit des Zuschauers macht, ihn also zur denkenden, fühlenden oder handelnden Kompensation zwingen, will James Cameron in ªThe Terminator´ die vermuteten, realen Bedürfnisse des Zuschauers simulierend befriedigen. Die konstruierten Scheinkonflikte dürfen nicht erkannt werden um ihn nicht seiner Identifikationsmöglichkeit, also der Illusion einer moralisch rechtmäßigen Teilnahme am Geschehen zu berauben. ªThe Terminator´ funktioniert durch die trickreiche Exposition deshalb gerade bei Zuschauern, die durch ihre westliche, humanistische, moralische und normative Bildung die dargestellten Inhalte eigentlich ablehnen müßten aber ihrer Sehnsucht nach aggressiven Ausdrucksmöglichkeiten schonbei der fadenscheinigsten Rechtfertigung erliegen. Darüber hinaus läßt sich für ªThe Terminator´ keine Brücke zu menschlichen, philosophischen oder politischen Bedeutungen bauen. Da seine Ausgangskonstruktion dem Selbstverständnis entspringt, dem anvisierten Zielpublikum genießbare Ware vorzusetzen, die er bereits kennt, macht es keinen Sinn ihn zu interpretieren.

 

Das Vokabular des Blockbuster-Filmkonstrukteurs

Beispiel: ªTerminator 2, Judgement Day´ (1991), James Cameron

Bekannte Inhalte

Blockbuster-Filmkonstrukteure wie James Cameron müssen von Beginn an ihr Grundmaterial aus Wissensinhalten gewinnen, die möglichst an jeder Ecke des Erdballs zugänglich und in ihrer Form ähnlich gestaltet sind. Dazu bieten sich die Informationsmedien Radio, Tageszeitung und Fernsehen an. Deren formale Aufbereitung bieten den Drehbuchautoren Inhalte an, die in weiten Teilen der Welt als fester Bestandteil des täglichen Lebens verstanden werden können. Dazu gehört ganz wesentlich die Verbreitung amerikanischer Filme und Serien durch das Fernsehen. Durch den Konsum dieser Filme haben wir Europäer zwar nicht die spezifische nordamerikanische Kultur kennengelernt wohl aber dessen fiktive Transformation in Objekte. Den Cowboyhut im Western z.Bsp., das Klingelgeräusch eines Telefons oder die Einrichtung eines Fastfoodrestaurants.

Diese bekannten Bilder und Geräusche können dem Blockbuster-Filmkonstrukteur als Behelf dienen, die Notwendigkeit der Darstellung eines realen kulturellen Kontextes zu umgehen: An irgend einem Ort muß der Film ja stattfinden, es muß also hinten und vorne zwischen den Schauspielern etwas sein, aber dieser muß sich weitestgehend aus dem Film selbst erklären, also möglichst wenige, vom Film und vom gelernten Gebrauch von Spielfilmen unabhängige intellektuelle Wissensstrukturen erfordern.

Stilisierung der Orte

In den ersten 25 Minuten von ªTerminator 2´ werden vierzehn verschiedene Orte gezeigt, die als Zitate oder Zeichen einer bekannten Filmsprache verstanden werden können und so die erwünschten Assoziationen beim Zuschauer auslösen ohne diese näher erklären zu müssen:
1. Der Film beginnt mit einem verstopften Highway. 2. Ein Spielplatz, der in der Folge durch die Feuerwelle einer Atomexplosion vernichtet wird. 3. Ein in die Zukunft verlegtes Schlachtfeld, das einem Schrottplatz ähnelt. 4. Dann sieht man ein Kellergewölbe mit Soldaten, im gesprochenen Kommentar kommen die Begriffe „jüngstes Gericht" und „Resistance" vor. 5. ein Lastwagenparkplatz, fliegende Blattfetzen. Als nächstes befindet sich die Kamera in einer Truckerkneipe, in denen Rocker Billard spielen: 6. Saloon-Motiv: Lonesome Rider betritt die Bar und bewährt sich in einer Prügelei mit groben, versoffenen Kerlen. 7. Anschließend reitet er weiter, hier auf einem Motorrad. 8. Slum-Motiv: eine Abrißgegend in der ein einsamer Polizist Uniform auf den Flüssigmetall-Verbrecher trifft.
9. amerikanisches Vorstadthaus mit Auffahrt, Garage und Basketballkorb. Innen Fernseher mit faulem Mann davor, die bösen Stiefeltern: Das nordamerikanische Kleinfamilien-Motiv. 10. Psychatrie-Motiv: Isolationszellen, lange Gänge mit verblendeten, unwissenden und eitlen Ärzten sowie bösartigen Wärtern. Dann folgen noch ein High-Tech-Labor, ein Geldautomat, eine Einkaufspassage, eine Spielhölle, alles sattsam bekannte Bilder die mit den richtigen Reizwörtern die richtigen Assoziationen auslösen sollen: Verfolgungswahn, Halluzination, Überprüfungskommittee, Stealth-Bomber, strategische Verteidigung, Computerfabrik, Waffenschmuggel, Nicaragua, Mission, Priorität, Parameter. Auch wenn der Film sich aufgrund seines Roboterthemas und der genießerischen Darstellung von Action- und Gewaltszenen vorwiegend an die männliche Jugend der Industrieländer wendet sind allen Gruppen von Kinogängern und Fernsehzuschauern die genannten Bilder sofort abrufbar, erinnerbar. Die in den Dialogen gebrauchten Reizwörter entstammen dem Zeitungsvokabular bzw. sind historische Begriffe (jüngstes Gericht, Resistance).

MEHRWERT UND MENSCHLICHKEIT:
PRODUKTIONSSYSTEM HOLLYWOOD

Erlebniswelt und technische Wunderkammer: das Kino

Um sich genügend von anderen Medienangeboten, vor allem dem Fernsehen abgrenzen zu können, war es für die Filmwirtschaft notwendig die speziellen Eigenheiten der Kinosituation so weit wie möglich auszunutzen. Dies hat zu technischen Weiterentwicklungen wie dem Cinemascope-Verfahren oder dem THX-Sound geführt.

Die Kinogesellschaften entwickeln ihre Multiplexkinos heute auf die Vorstellung hin, elegante Theater mit Restauration und großem Foyer zu schaffen, die der Luxuriosität und technischen Perfektion der in ihnen gezeigten Filme entsprechen sollen. Der Film wird als Erlebnis zelebriert, als Möglichkeit, an einer reicheren, spannenderen und künstlicheren Welt für einige Stunden wie in einem Traum teilzuhaben.

Zentrales Ereignis dabei ist die Bewegung der Kamera, die den Zuschauer in das Geschehen hinein und heraus zieht. Die Größe der Filmleinwand nimmt fast das gesamte Augenfeld in Anspruch, der Cache verhindert sichtbar die Möglichkeit, die Geschehen links und rechts des Ausschnitts zu sehen. Die Bewegung der Kamera nach vorne, links oder rechts in eine dramatische Situation verlangt die Konzentration des Zuschauers, dessen Reflex es ist, sich vor drohenden Gefahren zu schützen. Die durch Schnitt und Bewegung verhinderten Orientierungsmöglichkeiten, die früher wegen ihrer irritierenden Wirkungen als regelwidrig galten, sind heute wichtigstes Mittel, um den Zuschauer dazu zu bringen, das logische und moralisch bedingte Denken auszuschalten. Der reagiert damit unmittelbar „instinktiv" und emotional auf die aufgebauten Spannungen, die von den Sinnen als Gefährdungen des Ichs interpretiert werden.

Film als authentisches Erlebnis

Daß dieses als authentisches Erlebnis gewertet wird hängt mit der kulturhistorischen Abwendung von intellektuellen Konstrukten hin zu gefühlsmäßig erfahrenen „Wahrheiten"zusammen, mit der Anerkennung des Unbewußten (Psychoanalyse) als Wirklichkeitskategorie und der behaupteten Abstumpfung durch Umweltreize. Das führt zu der unangenehmen Entwicklung, das ein Erlebnis desto wirklicher gehalten wird je sinnlich wirksamer, Tränen- oder Adrenalinausstoß fördernd es ist.

Der wichtige zweite Bereich, der diesen Eindruck stützt, ist die technische Gestaltung solcher Erlebnissituationen. Die Faszination an technischen Apparaturen entstand auch dadurch, daß ihnen von den Wissenschaften ein eigenständiger, vom Menschen unabhängiger Wert zugewiesen wurde. Parallel zur „Wirklichkeit" der Gefühlserfahrung wird das „Bewußtsein" von den Apparaturen, die zur Erzeugung dieser gebraucht wurden, durch Informierung der ZuschauerIn hergestellt (Cinemascope, Dolbysurround etc.). Das Einverständnis, die Bildeindrücke als authentisch zu akzeptieren, ohne sich manipuliert zu fühlen, entsteht dann in der Verkopplung von „ich durchschaue die Technik"-Bewußtsein mit anschließend „freiwilliger" emotionaler Überwältigung.

Ein dritter Bereich sind die dargestellten Inhalte. Für den Erfolg eines Films ist entscheidend, ob sich der Zuschauer mit den dargestellten Konflikten auch inhaltlich identifizieren kann, ob er also Verbindungen zu seiner eigenen Lebenssituation entdeckt, die es ihm möglich machen, sich die dargestellten Ereignisse so anzueignen, als wenn er diese selbst erlebt. Das bedeutet, daß der Film persönlich betroffen machen muß, d.h. unbewußt an unerfüllte Wünsche oder Sehnsüchte, verdrängte Ängste oder Neurosen beim Zuschauer zu erinnern hat. Diese Sicht, nach der eine Gesellschaft nur friedlich zusammenleben kann, indem sie bestimmte Bedürfnisse oder Triebe unterdrückt, stammt zum großen Teil aus der Psychoanalyse. Die Idee von Erlebniswelten, die parallel zur Alltagswelt existieren, basiert vor allem auf dem neuen Glauben, daß ein im Alltag (Arbeit, Arbeitslosigkeit) unterdrücktes Bedürfnis in der nicht alltäglichen Freizeit für das „Unterbewußtsein" nachträglich erfüllt werden kann. Daß solche Filme deshalb konservierend für gesellschaftliche Mißstände wirken, indem sie indirekt mit dem Glauben an eine unveränderliche Alltagswirklichkeit operieren, ist deshalb ebenso offensichtlich wie die sie reproduzierenden Rückwirkungen, indem Filme Wünsche Triebe und Neurosen erwecken, von denen der Zuschauer vorher gar nichts wußte.

 

 

Film als Ware

Filme wie ªTitanic (1997)´ werden unter ganz anderen Vorraussetzungen produziert und entstammen einem anderen Kulturverständnis als die vom Staat direkt mitfinanzierten Filme Europas. In der Planung eines Projektes wie ªTitanic´ stehen Vermarktung und weltweiter Vertrieb an erster Stelle. Die Sicherung der Finanzierung ist der erste Arbeitsprozeß, nachdem der Produzent einem Projekt grünes Licht gegeben hat. Sie besteht immer aus einem Gemisch virtueller Geldquellen: Das eigene Kapital wird mit dem Geld von Investoren, das teils durch den Gang an die Börse, teils durch Bankenkredite und Abschreibungsinvestitionen anderer Unternehmen oder privater Geldgeber gewonnen wird, um ein Vielfaches ergänzt. Die Gesetzgebungen vieler Länder erlauben auch heute noch steuerliche Vorteile aus Filmfinanzierungen zu ziehen. Steuervorteile werden Branchen gewährt, von deren Kräftigung man sich Strukturentwicklungen erhofft, d.h. die Schaffung von Arbeitsplätzen und deren Multiplizierung durch ein Umfeld von Zulieferuntermehmen. Die großen Unterhaltungskonzerne Time Warner, Disney, Viacom, Sony, Bertelsmann und Tele Communciations beschäftigen Spezialisten mit der Aufspürung von nutzbaren Steuerlücken für die Aufrechnung von Investitionen gegen die Steuerforderungen des jeweiligen Landes („off-balance-sheet" financing). Für Investoren sind Filmbeteiligungen dann aussichtsreiche Geschäfte: durch die Möglichkeit, die finanzielle Beteiligung an Filmprojekten vom eigenen, zu versteuernden Gewinn abzuziehen, macht sich die Investition bereits dann bezahlt, wenn der Film nur etwas über die Hälfte wieder einspielt, die andere Hälfte hätte der Investor ohnehin als Steuern zahlen müssen. Die Risiken der Filmfinanzierung sind auch deshalb minimal, weil die großen Filmproduktionen inzwischen den Unterhaltungskonzernen gehören, die den gesamten Markt, im Falle von Sony inklusive der dazu hergestellten technischen Apparate abdecken, und die sich damit ein geschlossenes System von Wertvervielfachungen (im Aktienhandel) und gesicherter Renditeabschöpfungen durch gegenseitige Steuerabschreibungen geschaffen haben.

In den USA entwickelt sich die Unterhaltungsindustrie immer mehr zum Motor und Träger der ökonomischen Struktur. Inzwischen haben die Erlebnisse produzierenden Unternehmen eine wirtschaftliche Relevanz erlangt, daß sie international zu den wenigen Konzernen gehören, die sich noch monumentale Großprojekte leisten können.3 Dadurch erhalten sie die Möglichkeit auch politisch einzugreifen indem sie beginnen, die Struktur und das Aussehen der Städte zu prägen und damit im Alltag „sichtbare" Wirklichkeit zu produzieren.4

Gelungene Investition und Publikumserfolg gleich Qualität

Wenn ich mich also mit solchen Filmen befasse, muß ich vor allem ihren Warencharakter untersuchen. Auch wenn diese Filme einen Drehbuchautor und einen Regisseur als Konstrukteur ausweisen, muß klar sein, daß auch die Produzentengemeinschaft und ihr Gewinninteresse die Initiatorin und wesentliche Gestalterin des ganzen Projekts ist. Jedes „kommerzielle" Filmprojekt muß also gleichzeitig auf zwei Ebenen attraktiv sein: als Investitionsobjekt und als Publikumserfolg. Erst in der Verkopplung Beider entsteht der „Glamour", indem die Beteiligten angenommen und bewundert werden für ihre Möglichkeit, absoluten Reichtum und „menschliche Nähe" zugleich zu repräsentieren. Die „Stars" werden dafür verehrt, daß es ihnen gelingt, die Industrien und Konzerne (die Garanten unseres Wohlstands) mit Vorstellungen von Wärme und menschlichen Gefühlen zusammenzubringen. Das Hollywood-System gebraucht seinen „Academy-Award" und die „independent"-Produktionen des Sundance-Festivals (R.Redford) zur Herstellung genau dieses Gebildes, in dem soziales Engagement und global operierender Konzern als zusammenwirkendes Ganzes gesehen werden kann. Qualität beweist sich im Publikumserfolg, der wiederum den kulturellen Anspruch beweist: große Kinofilme finden ihr „Marktsegment" am Ende der 90er als „Kulturträger und -erhalter" in der Abgrenzung zum Fernsehen, das populäre Volksstars kreiert, die ihre lauten, bunten, sexualisierten Selbststilisierungen als Befreiung von gesellschaftlich normierten Zwängen feiern. Daß heute wieder Filmdarsteller und einzelne Regisseure als „künstlerische Schöpfer"der Hollywoodproduktionen erscheinen und als „Star" umworben werden, hängt mit den ideologischen Entwicklungen der sechziger Jahre und dem daraufhin durch die Musikindustrie verwirklichten und heute hochwirksamen Künstlerindividuum(Popstar)-Konzern-Modell zusammen. Dieses Zusammenwirken in einem durch das Produzenten(team) gesteuerten und von „Stars" abhängigen Projekt macht einen Film wie ªTitanic´ in seinen Motivierungen unvergleichbar zu einem europäischen, autorinnenbezogenen Film wie ªJeanne Dielman´, der allein durch den persönlichen Einsatz einer einzelnen Frau in Entwurf, Regie, Kamera und Finanzierung zustandekam.

KRITIK UND KULTURWERT: FILMPRODUKTION IN EUROPA

Der Staat fördert seine Kritiker

Die europäischen, nationalen Filmförderungen, die solche „kulturell bedeutsamen" Projekte unterstützen sollen, werden vom Staat finanziert. Sie wurden unter dem Druck einiger sich von den Einflüssen kommerzieller Partner und der Bevormundung von Interessengruppen (Lobbys) lossagenden Filmschaffender eingerichtet: zu einem Zeitpunkt in den späten 60er Jahren, an dem die gesamte Filmwirtschaft in Europa zusammenbrach und an dem die „Autoren" „neuer", von den Studios unabhängiger Filme trotzdem internationale Anerkennung erlangen konnten.

Die etablierten Produktionsfirmen und deren Regisseure wurden in Artikeln und Texten, in öffentlichen Manifesten mit staatstreuen lobbyistischen Einheiten gleichgesetzt, in denen die Herstellung publikumsnaher, authentischer Filme nicht mehr möglich sein konnte. Der„neue" deutsche Film der 60er Jahre fand seine Themen deshalb gerade in den Angriffen auf vorherrschende ideologische Strukturen.

Der „Autorenfilm" und sein Kulturkreis

Damit hat der „Autorenfilm" aber nie ein größeres Publikum gefunden, wohl aber Anerkennung in Kritikerkreisen: es entwickelte sich abseits von einer breiten Öffentlichkeit ein eigener kleiner Kulturkreis, der sich durch Zeitungskritik, Festivalaufführungen in „Kommunalen"- und „Programm"- Kinos, in theoretischen Reflexen, in Büchern und Magazinen selbst bestätigen konnte. Qualität wurde im Medium an sich gesucht, der Film selbst sollte neu, lebendig und wahr sein. In den Alltag wirken sollte er nicht durch den Publikumserfolg, nicht durch die Reproduktion „demokratischer" Hoffnungen, sondern durch die konkrete politische Aufklärung, durch die Änderung ideologisch geprägten Bewußtseins, durch die „wahrheitsgetreue" Darstellung alltäglicher Probleme. Wie das Hollywood-Produktionssystem durch seine Synthese aus „menschlichen" Konstrukten und Erzeugung absoluten Reichtums für Beteiligte massenwirksam wird, so hat der „Autorenfilm" sich seinen Wert in Verbindung mit den theoretischen Reflexionen politischer, feministischer und geisteswissenschaftlicher Kreise bestätigt. Die Verkopplungen mit theoretischen Deutungen konservieren die Qualität der heute von ihrem einstigen Umfeld abgelöst gelagerten und abgespielten Filme. Indem die „Autorenfilmer" sich auf die Staatsideologien und deren in die Vergangenheit reichenden Machtstrukturen konzentrierten, die in den Industrieprodukten reproduzierte Ideologie, die Verwertungsstrategien und Reintegration subversiver Strömungen der „freien" Wirtschaft aber ignorierten, könnten sie heute ohne Theorie nicht mehr begriffen werden. Die narrativen Strukturen der „Autorenfilme" entstanden zudem in der Abgrenzung zu Darstellungskonventionen, die im kommerziellen Film bis heute reproduziert werden. Auch deshalb können sie nicht unabhängig von den theoretischen Untersuchungen über diese „konsumiert" werden. Während die Filmwirtschaft sich im Laufe der Zeit aber bestimmter Strukturschöpfungen der einstigen Avantgarde zur Erfrischung ihrer konventionellen Produktionsweisen bedienen konnte, erschienen die kritischen Formen vieler „Autorenfilme" durch ihre existentielle Unterscheidung von „populärer Kultur" schnell als publikumsfeindlich und überintellektualisiert und wurden dementsprechend diffamiert. Nur wenige dieser FilmemacherInnen konnten ihre Konzeptionen so überzeugend umstellen, daß sie diese Entwicklung der Rezeptionsverweigerung kraftvoll zurückzuweisen vermochten. FilmemacherInnen wie Chantal Akerman müssen sich dagegen heftiger Kritik von seiten des oben genannten kleinen Kulturkreises erwehren, die ihren jüngsten Film ´A Couch in New Yorkª als Anbiederung an Hollywood verurteilen.

GEGENKONZEPTE DER VERGANGENHEIT

Frau und Mann als fühlende Maschinen:
Die Verkehrung des emotionalen Bildflusses

Beispiel 1: ´Jeanne Dielman, 23 quai du Commerce, 1080 Bruxellesª
(1975): Chantal Akerman

Die realistische Empfindung der schwindenden Willenskraft, die ´Jeanne Dielmanª über drei Stunden lang aufbringt, um den Film zum Ende zu bringen, macht das Zuschauen zu einem auch mir bekannten Kraftakt. Die Wut, die Bedrohung, die Kraftlosigkeit, die der Film auszulösen vermag, ähnelt im Großen vielen kleinen Filmen, die an der HfbK entstehen. Die präzisen Gesten Delphine Seyrig‘s in der Haushaltsführung übertönen die beklemmende Leere dahinter allerdings auf eine so heroische Weise, die meine eigenen Selbsttäuschungsversuche armselig erscheinen lassen. In den wenigen frontalen Einstellungen zeigt sich Stolz und Genugtuung im Gesicht Jeanne Dielman’s. Die enorme Disziplin, die allein das nie vergessene Ausschalten der Zimmerlichter erfordert, bleibt immer deutlich, sie zeigt sich damit als heimliche Meisterin von Leistung und Effizienz, Sparsamkeit und perfekter Organisation (also von allem wovon Arbeitgeber und ich nur träumen).

Jeanne Dielman‘s verschüttete Zerrissenheit kam zustande, indem sie um jeden Preis in einer Lebensform weiterleben wollte, obwohl sie sich durch ihre Prostitution bereits unwiederbringlich daraus entfernt hatte. Abgelöst von der tatsächlich existierenden Problematik bringt ´Jeanne Dielmanª dem Zuschauer damit auch die ganze Problematik des ´anderenª Films mit. Dramaturgisch bis zur Grenze des Erträglichen in „Echtzeit", entwickelt sich der Film deshalb nicht frei, geschweige denn unabhängig von den Konventionen kommerzieller Filme. Die Ratlosigkeit, die bleibt, zeigt deshalb auch die Unmöglichkeit auf, etwas „Anderes" zu wollen, wenn man nur die offizielle materielle Struktur vorfindet und sie zeigt die bittere Erkenntnis, daß bis dahin nur diese ein „Ich" ausmachen ließ. Für ´Jeanne Dielmanª ist es unmöglich, die Identität der Hausfrau und Mutter aufzugeben. Um dies zu untermauern zeigt Chantal Akerman Brüssel wie ein Dorf, in dessen Läden nicht Verkäufer sondern Kontrolleure arbeiten. Für diese und für ihren Sohn wird die Arbeit getan, das wird unmittelbar deutlich, wenn die Kamera am Morgen außerhalb des Einzelhandelgeschäfts bleibt als wäre der Einkauf an sich nur eine Geste, am Abend aber in den Laden hineinspringt: Jeanne Dielman muß die Verkäuferin extra aus ihrer Ecke rufen, um die zerkochten Kartoffeln durch frische ersetzen zu können. Die Einkaufsszenen, die kurzen Gespräche mit Schuster und Nachbarin offenbaren die Form der Eingebundenheit Jeanne Dielman’s in ein „soziales System", das solange freundlich und oberflächlich bleibt, solange alles so wie immer bleibt. Weder Freundschaft noch Anonymität sind Optionen innerhalb dieser „vor-städtischen" Struktur, erste gemeinschaftliche Aufgabe scheint die Sicherstellung der Kontinuität der Verhältnisse. Die hier empfundene Enge wirkt geradezu irritierend im Vergleich zu den klaren, quadrierten Bildern der Wohnung von deren Ausstattung eine ästhetische Kraft ausgeht, die der beklemmenden Situation entgegenwirkt, anstatt nur den Muff einer Kleinbürgerlichkeit zu zeigen. In allem wirkt die sinnliche Präsenz und die sanfte Stimme Delphine Seyrig’s, die selbst im Nachthemd als souveräne Frau erscheint. Umso wirksamer die wenigen Momente des Zögerns, die Erkenntnis, wie labil und kraftverbrauchend ihr Perfektionismus, wie bedrohlich schon eine Minute des Nichtstuns für das Ganze ist.

Jeanne Dielman funktioniert wie eine Maschine. Aber die Art und Weise ihres Umgangs mit den Haushaltsgeräten zeigt eine Sorgfalt und Geschicktheit, fast eine Liebe zu den Dingen, die den Zuschauer für seine Hast und Ungeduld, seine Unaufmerksamkeit und Gereiztheit beim Zuschauen beschämt.

Der inhaltlich-logische Kreis schließt sich im Durchdenken ihrer Situation: Statt des Ehemanns bekommt sie Besuch von Männern, die ihr gegen Sex den Lebensunterhalt sichern. Die unmenschliche Kraft, die Jeanne Dielman aufwendet, um ihr System lückenlos werden zu lassen, mathematisch präzise den Tag zu füllen um damit ihre Prostitution in die Haushaltsführung zu integrieren, treibt sie genauso folgerichtig zur Gewalttat: Am Nachmittag des dritten Tages springt die Kamera in das Schlafzimmer, wo Jeanne Dielman den eingeschlafenen Freier mit der Schere ersticht.

Jeanne Dielman nimmt ihr System ernst, sie trinkt und raucht nicht, langweilt sich nicht, schaut kein Fernsehen, geht nicht ins Kino, liest keine Zeitung. Ihre Wohnung ist sauber, aber nicht morbide, ihre Haltung souverän, aber nicht kalt. Jeanne Dielman macht alles besser als wir, trotzdem ist ihr Leben nicht durchzuhalten, sie scheitert wie die Frauen vor und nach ihr, natürlich auch im Versagen konsequenter und irreversibel. Indem sie Jeanne Dielman zum tugendhaftesten aller Menschen macht, erbringt Chantal Akerman in ihrer „Erzählung" so etwas wie den empirischen Beweis, daß unser Gesellschaftssystem, konsequent gelebt und nach Abzug des übertönenden Lärms und emotionalen Kitsches, notwendig in der Entladung von Gewalt münden muß. Damit bietet sich ihr Film auch als Sequel von ´Pretty Womanª an, die unterschiedlichen Prostituierten, die Julia Roberts und Delphine Seyrig verkörpern, drängen sich geradezu als kongruente Ergänzungen eines Vorher-Nachher, Außen-Innen, Wunsch-Wirklichkeit auf.

Von ´Independance Dayª bis ´Pretty Womanª ist das propagandistische Zentrum und der letzte inhaltliche Grund aller Film-Blockbuster die Rekonstitution der Kleinfamilie. Diese kleinste Gemeinschaftseinheit muß den gesamten Druck der anonymisierten, funktionalisierten Wirtschaftsstruktur kompensieren, ihr Eigenheimorganismus verwandelt emotionale, existentielle, soziale Risiken direkt in Konsumwünsche.

Beispiel 2: ´Lancelot du Lacª (1974): Robert Bresson

(Lancelot ist in den Wald geritten um den heiligen Gral zu finden. Den Text hat er dabei mitgenommen. Ich hoffe, daß er bald wieder an meine Tafel zurückkehrt.)

DOKUMENT UND EXPERIMENT:DIE TRAGIKOMÖDIE DER HFBK

Das, was ich meine verstanden zu haben: Rückblick auf den „anderen" Film an der HfbK

Aus den 70er Jahren stammen die Zettelwände der deutschen Universitäten, die „Information von Oben" umgehenden Bekanntmachungen: Flugblätter und Kritzeleien, die zunächst betont formlos, in Schreibmaschinentypo und als Collagen hergestellt wurden. Film- und Videoapparaturen waren entsprechend als reine Werkzeuge provisorisch in Arbeitsplätzen organisiert. Filme oder Videos herzustellen, war nicht das eigentliche Anliegen, es ging um die Schaffung einer breiten, neuen Öffentlichkeit. Direktere, am Menschen (Bürger) interessierte Wege der Information sollten geschaffen werden, um an den offiziellen „Machtapparaten" und deren gefilterten, zensierten oder korrumpierten Nachrichtensendungen vorbei die eigenen politischen Sichtweisen veröffentlichen zu können. Die „anderen" Inhalte im Dokumentarfilm waren die unverklärte Sicht auf Randgruppen von Gesellschaften, der behutsame und sich einfühlende Blick der Filmenden, die Aufzeichnung der Protest- und Friedensbewegungen, die Aufarbeitung der NS-Zeit. Natürlich war klar, daß die Apparate und Materialien für die Filmherstellung von Konzernen entwickelt und hergestellt wurden, die großes Interesse an einer offiziellen, „von Oben" organisierten Öffentlichkeit hatten. Zu dieser Zeit waren Dokumentaristen aber überzeugt, sich durch zwei Forderungen von den Zwängen der Gerätetechnik freimachen zu können: 1. indem sie zunächst vom Staat die nötigen Gelder einforderten, um unabhängig arbeiten zu können 2. indem später durch die Einhaltung eines strengen Formen- und Regelkanons ästhetische Einflüsse oder „Verfälschungen" durch Apparaturen ausgeschlossen werden sollten. Dafür gab es den Experimentalfilm, der das Filmgeschehen an sich untersuchte bzw. in Frage stellte, es sinnentleert oder unerträglich machte, dessen Ziel es z.B. war, die emotionalen Funktionalisierungsstrategien der Filmindustrie radikal umzuformulieren oder die Gemachtheit des Gesehenen zu zeigen. Während in den 70er Jahren die Bereiche Experimental- und Dokumentarfilm noch als bestimmbar und unterscheidbar schienen, eine politisch ausgerichtete Gesprächskultur noch als selbstverständlich angenommen war und wohl auch einigermaßen funktionierte, bot sich mir am Anfang meines Studiums ein völlig verändertes Bild:

die formalen und inhaltlichen Forderungen an die Verwirklichung eines „anderen" Films wurden durch theoretische Reflektionen und schließlich durch die veränderten äußeren Verhältnisse in ihrer angestrebten Form fragwürdig, worauf um die Gültigkeit von anzustrebenden festen Strukturen untereinander gestritten wurde. Parallel mit der Zersplitterung der Interessen entwickelte sich die digitale Simulations/Filtertechnik in hohem Tempo unabhängig von den Filmkünstlern. Als schließlich aufgrund der vielfältigen Hindernisse und ergebnislosen Auseinandersetzungen ein Rückzug der Professoren auf die eigene Interessenwahrnehmung begann, hatten sich auch die Wünsche und Bedürfnisse der neuen Studierenden gewandelt. Mit dem Verschwinden der Gespräche untereinander, des Austausches über Entwicklungen und Änderungen, wurden die Gremien sinnlos und die studentische Beteiligung blieb aus. Die provisorischen Arbeitsräume, vielleicht einmal Sinnbild einer freien und unabhängigen Produktionsweise, konnten wir Studierenden nun nur noch als Ausdruck einer mangelnden Fürsorge, eines mangelnden Interesses an unseren Bedürfnissen, Wünschen und Ahnungen sehen.

Die politische Umgestaltung der die Vergangenheit verdrängenden, einer „freien" Wirtschaft huldigenden, bundesdeutschen Gesellschaft galt seit dem „deutschen Herbst" als gescheitert: No Future. Das Verschwinden politisch geprägter Strukturen in den 80er Jahren zeigt sich deshalb in den Versuchen, „Anderes" wieder direkt im Filmbild sichtbar zu machen, in dem Willen sich „offensichtlich" vom Offiziellen, vom Mainstream zu unterscheiden: durch Entfernung oder Stilisierung der Handlung, konzeptionelle Strenge, Verfremdung oder Fragmentierung, durch experimentelle Vermischungen von Dokumentarischem, Narrativem und Inszeniertem. Ein zweiter Weg war eine eindeutige Genreentscheidung wie Splatterfilm oder Legetrick oder das Verfolgen bestimmter Regeln und Maßgaben wie sie z.B. Wildenhahn für den „Dokumentarischen Blick" formuliert hat oder in Zukunft vielleicht das Regelwerk, das Thomas Vinterberg und Lars von Trier 1995 unterschrieben.

Durch den technischen Entwicklungssprung in der digitalen Bildbearbeitung wurden dann auch in Musikclips und später in Werbung und Spielfilmen „experimentelle" Verfremdungen angewandt, bei denen die für sie überflüssigen, die angenehme Illusion zerstörenden und die Herstellung betonenden physischen Nebeneffekte herausgefiltert waren. Unsere nicht zusammen wirkenden Herstellungswege an der HfbK dagegen, die mangelhaft gewarteten Geräte, die überalterte Videotechnik und die Ablehnung „handwerklicher" Ausbildung verloren in dem Maße an produktiver Attraktivität, in dem die Bereitschaft unserer Umwelt sank, sich zwangsweise auf Blaßbuntes, Rauschendes, Springendes, Knackendes, überlaut Bedrängendes oder gedehnt Langsames im Film einzulassen. Die von unbedarften Spezialisten hergestellten glänzenden Oberflächen im Werbe- und Musikfilm, die mit der gefilterten „Experimentalitität" von Kleidungen und Musikstilen, in chemischen und digitalen Bildverfremdungen verbunden wurden, zeigten sich dagegen als äußerst publikumswirksam. Diese Verkoppelungen von professionell organisierter „Handwerklichkeit" mit experimentellen Spielereien vermochten attraktive Illusionen existierender, „anderer", menschlicherer (individuellerer), farbenfroherer oder gerechterer Gemeinschaften zu erzeugen, ohne daß die dahinter stehenden Konstruktionen erkennbar wurden. Das letzte bindende Gefühl und Bewußtsein eigentlich etwas „Anderes" zu wollen und dessen dilletantischen, fragmentarischen oder gebastelten Oberflächenwirkungen wurden so auf konsumfreundliche Weise von der Industrie extrahiert.

JedeR der FilmprofessorInnen hat heute ihre/seine eigene Spezialisierung als Gegengewicht zur bestehenden und als Ausgleich zur verschwundenen politischen und sozialen Struktur gefunden. Neben der versuchten Rückkehr zu offiziell anerkannten Produktionsmaßgaben oder dem Versuch, in kleinem Kreis Handwerkliches zu vermitteln, suchte mein Professor die Zukunft in den Theorien und Geschichten aus Texten und Büchern über den Film. Das Zentrum des Filmbereichs, seine kommunikative Struktur, Austausch, Planung und Verwirklichung gemeinsamer Ziele war praktisch nicht mehr existent, sondern wurde eher aus schlechtem Gewissen oder zur Selbsttäuschung noch sporadisch in monatlichen Sitzungen betrieben. In diese Leere drang die Erkenntnis, die Entwicklung der digitalen Bildbearbeitung völlig verschlafen zu haben, worauf Avids angeschafft wurden. Die Diskussion der Möglichkeiten eines anderen Umgangs, die Gewinnung einer zeitgemäßen Haltung zu den durch technische Apparaturen verursachten Gestaltungseinflüssen blieb aber diesmal gleich stecken. So wurden Soft- und Hardware der digitalen Schnittplätze ganz nach dem Vorbild tradierten, arbeitsteiligen Filmschaffens eingerichtet.

Anstatt die Chance wahrzunehmen und z.B. dennoch in einer „experimentellen" Produktionsstruktur die direkten Verkopplungsmöglichkeiten von sprachlichen Konzeptionen mit Bildern und Tönen im Digitalen neu zu erproben, so wie es in der „freien" Kunst durch Verbindung von Vortrag und Vorführung mit Objekten längst geschieht, scheint sich aus Angst vor erneuter Unordnung und Beschädigung automatisch die schon bewährte Struktur wieder durchzusetzen: einzelne, um ihre Karriere besorgte Studenten „betreuen" die „komplizierten" und teuren Apparate parallel zu ihren eher konventionellen, theoretisch und historisch ungewiß fundierten Produktionen und gewähren einzelnen anderen Zugang ohne beschreibbare Kriterien und ohne Interesse für Anliegen und mögliche Ziele. Gerade dadurch schleichen sich natürlich wieder die durch mangelnde Kommunikation entstehenden Fehlbehandlungen der Apparate ein, worauf wieder nach rigiden Maßnahmen gerufen wird usw. Daß die Angst vor Beschädigung und Verlust aus dem Unvermögen, eine funktionierende, vor allem realistische Reparatur- und Wartungsstruktur zu verwirklichen, entstand, wurde auch deshalb nicht thematisiert, weil Personalpolitik tabuisiert war. Das die fehlende Wartungsstruktur zusammen mit den sich verweigernden Lehrenden und Angestellten den zukünftigen Sinn und die möglichen Ziele eines Filmbereichs heute insgesamt in Frage stellen, ist durch die digitalen Produktionsstätten ungewollt zum wichtigsten und unlösbarsten Problem geworden.

Neben der einmal wichtigen Weigerung, Personalpolitik zu betreiben, verhindert die Weigerung, die Struktur des Filmbereichs zu dokumentieren und damit festzulegen, die Ablösung vom ehemalig „Anderen" und damit eine an die Realität gebundene Diskussion der veränderten Situation.

SCHLUSSWORT: DIE VERÄNDERTE SITUATION

1. Fernsehen und Radio werden nicht mehr nur staatlich organisiert, sondern wurden den großen Medienkonzernen geöffnet. Die Zahl der Kanäle und Zeitschriften, der Werbesendungen, haben sich vervielfacht, der „Musikvideo" hat seine eigenen Abspielstationen, die Filmwirtschaft hat sich neu organisiert.

2. Die Bildproduktionen der Medienkonzerne werden heute zu künstlichen Erlebniswelten zusammengebunden, in der die im Arbeitsleben, im öffentlichen Raum und in den Versorgungseinrichtungen weiterhin nicht realisierten Ansprüche an gemeinschaftliche und lebenswerte Repräsentationsformen simulierend erfüllt werden sollen.

3. Diese simulierten Wunscherfüllungen finden in abgeschlossenen oder eingezäunten Räumen statt an deren Eingängen man Eintrittsgelder verlangt. Die ZuschauerIn zahlt so erneut (zusätzlich zu den Steuergeldern), diesmal für die nachersetzende Simulation der vom Staat nicht realisierten Lebenswelt (der seinerseits zunehmend großzügig mit den Steuergeldern die „Erlebniswirtschaft" subventioniert).

Das Zusammenwirken von Bildproduktionen und gesellschaftlicher Realität muß heute also gänzlich anders betrachtet werden als in den 70er und 80er Jahren. Die Ziele der Schaffung einer „anderen" Öffentlichkeit sind dem genauen Untersuchen der Sinnkonstruktionen und -hüllen von Darstellungen gewichen, der Dokumentbegriff, der Wirklichkeitsbegriff, der Begriff des Autors, der Geschichtsbegriff etc. sind allesamt unsicher geworden.

3. Das problematischste Geschehen stellt heute die Ablösung und Umgestaltung einmal gesellschaftskritisch formulierter Erzählmaterialien oder Darstellungen in gesellschaftsfreundliche und kommerziell erfolgreiche Industrieprodukte dar.

4. Schrift- und Bildproduktionen erscheinen heute als momentan und ohne Konsequenzen für das eigene oder das gesellschaftliche Leben konsumierbar, ganz abgesehen davon das sie grundsätzlich spekulativ, unbedingt, manipulierbar und ideologisch gefärbt sind.

Daraus ergibt sich ein anderer Blick zurück auf die technischen Realisierungen unserer postreligiösen, postindustriellen Gesellschaft. In dem Maße, wie ich selber glaubte, mich über die spezifische Behandlung von Film- und Videomaterial, die ästhetische Umgebung von Schneideräumen und deren technische Gestaltungsparameter einfach hinwegsetzen zu können, beging ich vielleicht die gleichen Fehler wie viele meiner Vorgänger.

Auffällig an den narrativen HfbK-Produktionen der letzten Jahre sind die betont biederen, melancholischen oder lakonischen Inszenierungsstile, die sich zwar auch von Vorbildern wie Kaurismäki oder Buck, vom Kleinen Fernsehspiel (z.B. Christian Scholz) ableiten lassen. Die veralteten Kleidungsstile und das nachkriegsdeutsche Ambiente das benutzt wird, können jedoch auch Abgrenzungsversuche gegenüber den lauten, schnellen Trendbildproduktionen der Musik- und Werbewirtschaft darstellen. Dem Widerspruch entfliehend, von Modetrends und Clubbing angezogen zu sein, deren Integration in den Produktions-/Konsumtionskreislauf über Bilder aber abzulehnen, zeigen eine ganze Reihe von Filmen Reflektionen über die verkrampften, von Kindheitserfahrungen und Blamageangst belasteten Annäherungsversuche zwischen Männern und Frauen. Interessanterweise spielen sich diese an betont biederen oder ländlichen, von früheren Generationen geprägten Orten ab: ´Rodeoª an einer schlichten Lagerhalle im Freihafen und einer 60er-Jahre-Arbeiterkneipe, ´Raketeª in einem verklinkerten Einfamilienhaus, ´Hotel Panoramaª in eben jenem in Billstedt, ´ ª an einer Bushaltestelle in einem Dorf im Osten, ´Jean und Janeª in einer bürgerlichen Altbauwohnung mit Palmen und hellen Teppichen etc. Die Orte entsprechen dem passiven, resignierten bis depressiven Spiel der DarstellerInnen, insgesamt macht sich eine mut- und harmlose Atmosphäre breit, die die unterschwelligen Aggressionen, Begierden und Sehnsüchte nur erahnen läßt. Hier scheint der bezeugte Anspruch auf einen „anderen" Film zur Sackgasse zu werden. Wenn der „offizielle", wirtschaftlich finanzierte Film als Gegenbild zu den eigenen Produktionen dienen soll, dieser es sich zur Grundregel gemacht hat, die geheimgehaltenen Wünsche, Triebe und Sehnsüchte von Menschen bloßzulegen und mit ihnen zu spielen, muß ich für einen „anderen" Liebesfilm gegensätzliche Motive finden. Aki und Mika Kaurismäki haben diese in der Zuspitzung skurriler und absurder „sozialromantischer" Inszenierungen gefunden, die Rückbezuge zu finnischen Alltagserfahrungen bewußt zulassen.

In Hamburg, das sich in hohem Tempo zur Verlags- und Werbemetropole entwickelt, kann dieses „Randständige" so nicht funktionieren, da z.B. die Kneipen und Clubs, die wir aufsuchen, durch die Redaktionen der Frauen- und Lifestylemagazine bundesweit bekannt und damit maßgebend gemacht werden. Die direkte und schnelle Verkoppelung der (durch Musiker und Künstler) „kulturprägenden" Orte mit den „Output" produzierenden Medienkonzernen und Werbeindustrien (und der Besuch dieser durch Redakteure, Trendscouts, Grafiker etc.) bringt eine Ablösung der Entwicklung individueller, einfacherer oder exotischerer Lebensentwürfe hin in einen von Drogen verstärkten Drang nach faszinierendem Schein, dem Rückschein der luxuriösen, voyeuristisch-sexualisierten Bildobjektwelt der Hochglanzmagazine und Hollywoodproduktionen. Eine Glamour und Promiskuität versprechende Ersatzwelt, die sich so im nächtlichen Ausgehen nicht erfüllen kann, die aber durch die Vermischung von Geselligkeit und potentiellen Karrieremöglichkeiten, durch die Bekanntschaft mit „Entscheidungsträgern" dennoch wirksam funktioniert.

Die voyeuristischen Anziehungskräfte, die Faszination, die äußerliche, „oberflächliche" Selbstgestaltungen ausüben, die anonymen und stummen Konsumrituale, die unser Leben mehr leiten als wir wahrhaben wollen, sind in den Auseinandersetzungen der Seminare ausgeblendet und zeigen sich auch nicht in den aktuellen Filmen der HfbK. Die Professoren, für die die neue Medienwirtschaft kein Thema ist, und wir Studenten, die einer sich kraftvoll durchsetzenden Konsum/Bildwirtschaft auszuweichen versuchen, lähmen uns selbst, indem wir das Wesentliche der kapitalistischen Lebenskultur unterdrücken oder tabuisieren.

Anders als in den reichen siebziger Jahren müssen heute vor der Entscheidung für eine spezielle Kommunikationssituation die Überlegungen zu Finanzierungs- und Herstellungsmöglichkeiten an erster Stelle stehen. Unstrukturiertes, individuelles, also kompromißloses Produzieren für einen Kinofilm ist heute quasi unmöglich und wird auch an der HfbK praktisch nicht gefördert. Also steht die Diskussion über die bewußte Fallentscheidung für erprobte Produktionsmethoden oder Genres (Drehbuchkonstruktion, cinema verité, DOGMA 95 etc.) an, wo die individuellen oder solidarischen „anderen" Werte in nichtstruktureller, (von der Herstellungstechnik abgelöster) oder ironisierender (sich distanzierender) Weise eingebracht werden müssen. Oder für die Wahl eines mehrjährigen Zeitrahmens, in dem ein Projekt unter Mithilfe von Bekannten und Freunden mit nach und nach erbrachten Mitteln zustande kommen kann. Oder die Entscheidung, eine kostengünstigere Kommunikationssituation zu wählen, z.Bsp. DigitalVideo oder (zukünftig) das Internet, in denen bestimmte Formulierungen eventuell auf andere, abgekürzte Weise erprobt werden können.

Die sich ständig verbilligende und effizienter werdende Computertechnik wirft insgesamt die Frage auf inwieweit die Vorstellungen anderer Werte und Sitten beispielhafter aber auch konzeptionell stärker realisiert werden könnten, wenn z.B. Kinos nicht mehr länger die Stätten von „Bewußtseinsänderung" sein können man aber „andere" Bildproduktionen veröffentlichen will.

Durch die Anschaffung der digitalen Apparaturen hat sich durch die Hintertür eine gravierende Veränderung der Produktionssituation eingeschlichen: Die Programme und Hardwarevernetzungen der AVID-Computer sind so komplex und unklar mehrwegig konzipiert, daß ein virtuoses Zusammenwirken der Komponenten nur in persönlichen Versuchen über monatelange Zeiträume (sinnvoller Weise bei ständiger Betreuung/Nachfragemöglichkeit) erreicht werden kann. Allgemeine Einführungen können daher maximal noch den Zweck erfüllen, grobe Beschädigungen zu vermeiden. Ob eine Ausbildung in der Arbeit mit elektronischen Medien geboten werden muß, um einer Mehrheit den Gebrauch technisch hochwertiger Apparate zu ermöglichen, wird dadurch zunächst zur dringenden Frage. (Nachfolgende Generationen von Studierenden werden bereits geübter und routinierter im Umgang mit Computerbetriebssystemen sein, so daß der Ausbildungsrückstand geringer wird).

„Unsere ehemalige Glaubenskultur ist eine materielle Kultur geworden, deren Glaubensideale sich heute in Dingen und Apparaturen realisiert wiederfinden lassen", schreibt Elaine Scarry in „The Body in Pain", deshalb müssen die Verbindungen, die jetzt in geschriebener oder gesprochener Sprache und eben auch in Bildern zu ihnen hergestellt werden, nach der Leugnung oder Betonung des alltäglich Wahrnehmbaren beurteilt werden.

Das heißt auch, daß theoretische oder utopische Schriften eventuell sicht- und fühlbare Realität ablehnende Glaubensinhalte erzeugen, die, will ich sie in einer filmischen Darstellung umsetzen, auf einen anderen Glauben stoßen, einen Glauben, der in den Geräten und Mitteln verwirklicht ist, der sich ungleich stärker durchzusetzen vermag und der natürlich von den Gesetzmäßigkeiten kapitalistischer Tradition, Produktion und Handelswirtschaft geprägt und bestimmt wurde. In den methodischen Strategien Hollywood’s sind die Funktionen der Medienapparaturen auf wirksamste Weise in den Film hinein entwickelt, basierend auf der Verkopplungstechnik der schriftlichen Erzählung und durchgesetzt im „globalen" Wirtschaftssystem. „Was zwischen den Bildern geschehen soll", darauf konnte ich in meinem Studium keine befriedigende Antwort geben. Um den von mir schließlich akzeptierten Produktionsanforderungen der Filmapparaturen nicht entsprechen zu müssen, habe ich das Filmemachen vorerst aufgegeben.

LITERATURNACHWEIS

´Film as a subversive artª, Amos Vogel, New York 1974, Random

´Kultur ohne Schrift (<Culture without Literacy> in Explorations vol.1, Toronto Dec.1953, University Press)ª, Marshall McLuhen, Mannheim 1997 (Der McLuhan-Reader), Bollmann Verlag ´Die historischen Wurzeln des Zaubermärchensª Vladimir Propp, München/Wien 1987 (Leningrad1946), Carl Hanser Verlag

´The Writer’s Journey: Mythic structure for Storytellers and Screenwritersª, Christopher Vogeler, Studio City 1992, Michael Wiese Productions; ´Die Odysse des Drehbuchschreibersª, Frankfurt am Main 1997, Zweitausendeins

´Der Heros in tausend Gestaltenª, Joseph Campbell, Frankfurt am Main 1978, Suhrkamp

´Kinder brauchen Märchenª Bruno Bettelheim, Stuttgart 1977 (New York 1975,<The Uses of Enchantment>), dtv

´Die Chronik des Filmsª, Gütersloh/München 1994, Harenberg Verlag, Chronik/Bertelsmann

´Bordering on Fiction. Chantal Akerman’s d’Est.ª, Kathy Halbreich und Bruce Jenkins (Hg.), Minneapolis 1995, Walker Art Center

´Zur Transformation des Sehens. Chantal Akerman: Jeanne Dielman, 23 Quai du Commerce-1080 Bruxelles (1975)ª, Ursula Simeth in...

´The Movie Game. The Film Business in Britain, Europe and Americaª, Martin Dale, London 1997, Cassell

´Geschichte des deutschen Filmsª, Wolfgang Jacobsen, Anton Kaes und Hans Helmut Prinzler (Hg.), Stuttgart 1993, J.B. Metzler

´Der Körper im Schmerz. Die Chiffren der Verletzlichkeit und die Erfindung der Kultur.ª, Elaine Scarry, Frankfurt am Main 1992 (New York 1985, <The Body in Pain. The Making and Unmaking of the World>), Fischer Verlag

FILMNACHWEIS

´Jeanne Dielman, 23 quai du Commerce, 1080 Bruxellesª, 1975
Paradise Films Brussels; Unité Trois, Paris; in association with Ministère de la Culture française de Belgique
Screenplay: Chantal Akerman
Cinematography: Babette Mangolte, Bénédicte Delsalle
Editor: Patricia Canino, Alain Marchal
Principal cast: Delphine Seyrig, Jan Decorte, Henri Storck, Jacques Doniol-Valcroze, Yves Bical

´Pretty Womanª,1990
Regie: Garry Marshall
Buch: J.F.Lawton
Kamera: Charles Minsky
Darsteller: Richard Gere, Jukia Roberts, Ralph Bellamy, Laura San Giacomo

´The Terminatorª,1984
Regie: James Cameron
Buch: Gale Anne Hurd, James Cameron
Kamera: Adam Greenberg
Darsteller: Arnold Schwarzenegger, Michael Biehn, Linda Hamilton, Paul Winfield

´Terminator 2, Judgement Dayª, 1991
Regie: James Cameron
Buch: James Cameron, William Wisher
Kamera: Adam Greenberg
Darsteller: Arnold Schwarzenegger, Linda Hamilton, Edward Furlong, Robert Patrick

´Lancelot du Lacª, 1974
Mara-Films; Laser Productions; O.R.T.F. France; Gerico-Films, Italy
Autor: Robert Bresson
Kamera: Pasqualino de Santis
Darsteller: Luc Simon, Laura Duke Condomines, Humbert Balsan, Vladimir Anatolek Orelik, Patrick Bernard, Arthur de Montalembert