Europa und der Terrorkrieg

Thesen

1. Die Anschläge vom 11. September nehmen die USA zum Beweis, dass ihr weltumspannendes Abschreckungsregime, mit dem sie die Staatenwelt überziehen und im Griff halten, nicht hinreicht, um Gegner ihrer Weltordnung von einer Schädigung ihrer Interessen abzuhalten. Also verlangt dieser ”barbarische Terrorakt” nach einer Wiederherstellung und Bekräftigung dieses Abschreckungsregimes, und zwar durch einen Gegenschlag von unvergleichlich mehr Gewalt, als es die Herausforderung gewesen ist. Die Welt soll wissen, dass die USA ihre Feinde als ”Unmenschen” behandelt und bis in den letzten Erdenwinkel verfolgt und liquidiert. Am Krieg in Afghanistan ist zu sehen, dass vor dem amerikanischen Sicherheitsbedürfnis der Bestand ganzer Nationen samt der dort ansässigen Bevölkerung nichts zu zählen hat. Nur das schafft den Frieden, den die USA für ihre Weltordnung brauchen.

2. So ergeht die Klarstellung, dass der erreichte Zustand, die einzig verbliebene Weltmacht zu sein, für die USA etwas ist, was sie fortwährend sicherzustellen haben. Eben das haben sie auch unlängst mit dem Beschluss zu einem Raketenabwehrsystem unter Beweis gestellt. Das Ansinnen, einem Gegner jedwede Option auf eine Schädigung der USA zu nehmen, zielt darauf, sich in der Freiheit zur überlegenen Kriegsführung durch nichts und niemanden beschränken zu lassen. Diese anspruchsvolle ”Verteidigungsinitiative” wird nun nach dem ”11.September” ergänzt durch den weltweit in Angriff genommen ”Kampf gegen den Terrorismus”, was heißt: Die Kontrollmacht der USA über den Rest der Staatenwelt ist auf deren Innenleben auszuweiten, um für alle Zukunft auszuschließen, dass von irgendeinem Ort dieser Erde Feindschaft gegen die USA ausgeht.

3. Es liegt daher einzig an der Reaktion der angegriffenen Weltmacht, wenn der Spruch die Runde macht, dass die Welt nach besagtem 11.9. ”nie mehr die sein wird, die sie einmal war”. Denn sämtliche Staaten dieser Erde werden von den USA vor die Entscheidung gestellt, entweder an ihrer Seite oder aber auf der Seite der Feinde Amerikas zu stehen und dementsprechend behandelt zu werden. Ein Sich-Raushalten kommt nicht in Frage. Also haben die Regierungen in aller Welt ihre souveräne Macht darauf zu verwenden, ausgerechnet die Unangreifbarkeit derjenigen Macht zu garantieren, an der ihre eigenen nationalen Ambitionen oft genug zuschanden werden. Am militärischen Aufmarsch und anschließendem Bomben-Terror, mit dem halb Afghanistan umgepflügt wird, können die Staaten sehen, wie ernst die ihnen aufgemachte Entscheidungslage gemeint ist.

4. Von ihren NATO-Partnern verlangen die USA, dass sie die terroristische Kriegsersatzhandlung wie den Angriff eines feindlichen Staates nehmen und deshalb mit der Ausrufung des Bündnisfalls beantworten, wodurch die Partnerstaaten zum militärischen Beistand an der Seite der USA verpflichtet sind. Und mit dieser Beschlusslage ist der ganze Inhalt des gemeinsamen Militärbündnisses wirksam verändert, und zwar in einer Weise, die dem Interesse und dem Drängen der europäischen Mitgliedsländer diametral entgegensteht: Die EU-Nationen werden für den Kampf der USA gegen antiamerikanische Umtriebe in Beschlag genommen, ohne dass auch nur irgendein von ihnen geltend gemachtes strategisches Durchsetzungsinteresse bedient oder auch nur bedacht würde. Die USA fordern die Unterordnung unter ihre Interessen, und zwar ohne Gegenleistung. 

5. Wenn die führenden Politiker Europas dennoch nicht müde werden, ihre ”bedingungslose Solidarität” mit dem von zwei Anschlägen heimgesuchten Partner beteuern und sich den USA mit ihrem militärischen Beistand geradezu aufdrängen, so zeugt das nicht von einer Täuschung über ihre Lage, sondern von dem dringenden Bedürfnis, in dem US-Krieg so etwas wie eine angemessene Berücksichtigung zu finden. Die Europäer können sich nämlich nichts darüber vormachen, dass die USA für ihre Staaten die höchst nachrangige Position bloßer Erfüllungsgehilfen vorgesehen haben. Eben darauf wollen sich die EU-Staaten nicht festlegen lassen. Sie unternehmen den Versuch, den Krieg der Amis, mit dem diese so entschieden ”unilateral” ihren Anspruch auf eine unangefochtene Weltherrschaft in die Tat umsetzen, doch noch zu einer gemeinsamen Angelegenheit zu machen, bei deren Planung und Durchführung sie als Partner ernst genommen werden.

6. Bei allem Engagement, das die einzelnen europäischen Führungsmächte vor allem durch eine gewichtige Reisediplomatie an den Tag legen – an dem Befund führt nichts vorbei, dass sie von dieser neuen Art Weltkrieg, den die USA für ihre Interessen führen, auf die fundamentalen Defizite ihrer eigenen Macht verwiesen werden. Als geeintes und eigenständiges Subjekt imperialistischer Gewalt ist die EU schwach bis nicht vorhanden, weshalb sie als Ansprechpartner der USA für die Anti-Terror-Koalition erst gar nicht ins Visier kommt. Nicht nur, dass es Europa an den nötigen militärischen Mitteln fehlt; in Kriegsdingen ist die EU generell noch nicht handlungsfähig. So können auch die angestrengten Versuche der Briten, Franzosen und Deutschen, im Dreier-Kollektiv als Repräsentanten Europas auf die übermächtige USA wenigstens ein bisschen Eindruck zu machen, an besagter Befundslage nichts ändern: Es langt für die EU nur dazu, den Imperialismus der USA zu unterstützen, statt aus eigener Kraft dazu in der Lage zu sein, anderen Staaten auf der Welt ihre Rechte und Pflichten zu diktieren.

7. Durch diese ihnen von Amerika aufgemachte Kriegslage, in der sich weltpolitische Einflussnahme auf das Grundsätzliche – das Vermögen zu imperialistischer Gewalt – zusammenkürzt, sind die europäischen Politiker schwer herausgefordert. Sie müssen sich fragen, was der Fortschritt ihres Projekts, es von einem gemeinsamen Binnenmarkt inzwischen in Gestalt des Euro zu einer veritablen Geldmacht gebracht zu haben, eigentlich wert ist, wenn die USA dabei sind, den ganzen Rest der Welt neu und nachdrücklich auf die ”pax americana” zu verpflichten. Die Macher Europas werden darauf gestoßen, dass ihr ökonomischer Fortschritt zum gleichrangigen Konkurrenten Amerikas nicht bloß eine halbe Sache, sondern mehr noch: eine haltlose Errungenschaft ist, wenn sie es nicht hinkriegen, die EU als eigenständige Weltordnungsmacht auf die Beine zu stellen. Haltlos deshalb, weil die Euros zu spüren bekommen, was es heißt, dass die Sicherheitsgarantien für den Globus als Weltmarkt nicht sie, sondern exklusiv die USA in der Hand haben, was sich auch geschäftlich niederschlägt.

8. Dabei ist mit diesem – weltgeschichtlich neuen – Versuch der europäischen Staaten, eine Weltmacht vorläufig ersatzweise auf ein neues Geld zu gründen, schon längst und sachgerecht die Frage auf dem Tisch, welche politische Macht eigentlich hinter diesem EU-Geld steht, welches schließlich nicht einfach neben den Dollar tritt, sondern sich auf Kosten der Geldmacht der Amis weltweit durchsetzen soll. So werden nicht nur Zweifel laut, ob es Europa hinkriegt, die (Wachstums-) Bedingungen herbeizuregieren, die nötig sind, um dem neuen Geld in der Konkurrenz zum Dollar auf die Sprünge zu helfen. Diese Zweifel sind stets begleitet von einer höchst grundsätzlichen Frage: Ist die EU eigentlich ”in der Lage”, bei den fälligen Entscheidungen ”mit einer Stimme”, also überhaupt das nötige Machtwort sprechen zu können? Oder gibt es da nicht doch immer wieder ”nationale Egoismen”, die den angesagten Fortschritt in Sachen Politische Union hintertreiben. Zwar ist der aufgemachte Gegensatz von ”Egoismus” und ”Gemeinschaftsgeist” eine einzige (moralische) Chimäre, aber eben so wird Bezug genommen auf das, was in Europa nach wie vor das störende Fakt ist: Die Konkurrenz der beteiligten Staaten darum, die Fortschritte im ”Einigungsprozess” zum Mittel der jeweils eigenen Nation zu machen.

9. Denn so ist der notwendige Fortschritt hin zu einer Politischen Union offenkundig nicht zu haben: 15 Nationen tun sich zusammen, vereinbaren die Aufgabe ihrer Souveränität, um so – schiedlich-friedlich – in einer neuen und größeren Macht aufzugehen. Denn das Zustandekommen von Gemeinschaftsregelungen war in Europa nie etwas anderes als das Werk wechselseitiger Erpressung, die wegen der benötigen Zustimmung des Willens des anderen immer auch die Form des Kompromisses anzunehmen hatte. Zwar ist den inzwischen angelaufenen Bemühungen um eine ”institutionelle Reform der EU” zu entnehmen, dass der benötigte Fortschritt Europas, die Konkurrenz der Nationen in deren Unterordnung unter eine neue Souveränität zu überführen, sehr wohl anvisiert ist. Aber eben dieses Vorhaben kommt als eine bloße Affäre der ”Kompetenzabgrenzung zwischen der EU und ihren Mitgliedsländern” daher. Gerade so, als ginge es beim Zustandebringen einer Politischen Union um die effiziente Neugestaltung alter Zuständigkeiten und nicht um die Entmachtung von nationalen Souveränen zwecks Gründung einer neuen Weltmacht.

10. Angesichts der machtpolitischen Blamage, welche die europäischen Nationen bei ihrem Bemühen erleiden, den USA als ebenbürtige Mächte im Terrorkrieg zur Seite zu stehen, blamiert sich das bislang eingeschlagene Verfahren, das imperialistische Aufbruchsprogramm Europas voranzubringen. Was sich bei der Schaffung eines Binnenmarktes bis hin zur Währungsunion bestens bewährt hat, durch selbstgeschaffene ”Sachzwänge” und ”schrittweise Reformen” das gewünschte ”Zusammenwachsen” zu fördern, lässt sich so nicht weiter fortsetzen. Der von allen verspürte Zwang, mit der Einigung in Angelegenheiten militärischer Gewalt ernst zu machen, bringt alle Tagesordnungen und bislang gültigen ”Fahrpläne” durcheinander. Also werden sachnotwendig die letzten Entscheidungsfragen der europäischen Einigung unausweichlich fällig: Entscheidungen über Kommandobefugnis und Unterordnung, die sich nicht mehr als bloße Verfahrensfragen einer ”Kompetenzabgrenzung” in der Europäischen Union verhandeln lassen.