KALASCHNIKOW
Das Politmagazin


Kommunismus = Verbrechen!

Alles klar - oder?
5 Thesen gegen eine Scheindebatte


Das "Schwarzbuch des Kommunismus" aus Frankreich hat, wie zu erwarten war, auch in Deutschland sein Interesse gefunden. In Feuilletons und Talk-Shows werden begeistert die Leichen Stalins, Berijas und Pol Pots nachgez�hlt. Die gro�e Zahl ist das Argument - und liefert dem interessierten Publikum den erw�nschten Beweis: Kommunismus ist Massenmord, sonst nichts. Nicht wenige linke und linksliberale Stellungnahmen sehen sich herausgefordert und bem�hen sich um einen Gegenbeweis: Courtois und seine Autoren h�tten schlampig recherchiert, so viele Leichen, wie behauptet, seien es nicht gewesen. Au�erdem sei der Autor voreingenommen: �ber die Opfer, die der Kapitalismus auch in Friedenszeiten fordert, habe er nichts gesagt. Der Ruf nach Genauigkeit beim "body count" und nach Ausgewogenheit beim Anschw�rzen verr�t einerseits, wie tief der Stachel sitzt, den der franz�sische Ex-Maoist dem linken Gem�t gesetzt hat. Er verr�t andererseits, vor wem und an welchem Ma�stab diese Linken bestehen wollen. Sie sehen den moralischen Bonus einer Tradition zerst�rt, aus der sie bei aller Distanzierung gegen�ber dem Ostblock-Sozialismus irgendwie auch ihr Recht auf Kapitalismuskritik zu beziehen meinen: Wenigstens die gute, humanistische und antifaschistische Absicht der fr�heren kommunistischen Bewegungen wollen sie gegen�ber Ankl�gern und Talk-Partnern verteidigen, die nun wirklich nicht zum Kommunismus konvertieren w�rden, wenn dieser den Menschenrechtspreis gew�nne. Von einer Rechtfertigung des moralischen Rechts linker Kritik gegen�ber den Ma�st�ben des Schwarzbuches ist also abzuraten.

1. Was gehen heutige Kritiker des Kapitalismus Stalins Leichen an?

Die Kritik an der im Kapitalismus notwendigen und n�tzlichen Armut der gro�en Masse und die Kritik der demokratischen Staatsgewalt, die diese Armut und den ihr gegen�berstehenden Reichtum absichert, braucht den Verweis auf gro�artige Leistungen Stalins nicht - und kann von seinen Untaten nicht besch�digt oder ins Unrecht gesetzt werden. Die heutige Kritik des heutigen Kapitalismus - immerhin des Systems, das es gibt und das sich als m�chtiger - auch kriegsm�chtiger - erwiesen hat als jenes "Horrorgebilde" im Osten, h�ngt nicht davon ab, ob die fr�her einmal an die Macht gekommenen Feinde des Kapitalismus gediegene Polit�konomen oder Knallk�pfe, Kritiker der Staatsgewalt oder soziale Staatsreformer, zartf�hlende Mitmenschen oder herzlose Despoten waren.
Der Kapitalismus jedenfalls wird nicht besser, Kritik an ihm wird nicht weniger stichhaltig dadurch, da� die Alternative, die in diesem Jahrhundert zu ihm aufgekommen ist, auch nicht gerade eine Ideall�sung war.

2. Gr�nde f�r die Revolutionen, S�uberungen, Kriege und Hungerkatastrophen im roten Drittel der Erde will ohnehin niemand wissen!

Eine Befassung mit dem Wahnwitz der blutigen Parteidisziplin und den Irrt�mern der opfertr�chtigen Agrarreformen in Ru�land ist anl��lich des "Schwarzbuchs" schon deshalb fehl an Platz, weil weder St�phane Courtois noch seine Mitdiskutanten wissen wollen, was die zusammenaddierten Leichenberge mit Kommunismus zu tun haben. Sie wissen es n�mlich immer schon: Die Toten sind im Umkreis dieses Umsturzes angefallen, gehen also so sehr auf sein Konto, da� die Ermordung m�glichst vieler Menschen und der selbstzweckhafte Terror gegen die Noch-nicht-Geschlachteten offenbar die einzigen Ziele dieses Umsturzes gewesen sein m�ssen. Die Schuldfrage, ebenso wie die Verurteilung stehen fest, ohne da� eine Ursachenforschung daf�r n�tig gefunden wird. Deshalb kann Courtois sein ganzes Augenmerk darauf richten, die Zahl der "Opfer des Kommunismus" m�glichst gro� ausfallen zu lassen. Denn je mehr Leichen, desto verabscheuungsw�rdiger die Sache, der sie zur Last gelegt werden. Die Riesensumme von 100.000.000 Toten sagt dann alles.
Um sie zusammen zu bekommen, l��t Courtois alle, die im Laufe von 80 Jahren im Bereich des Realen Sozialismus durch Not oder Gewalt umgekommen sind, unterschiedslos f�r dasselbe sprechen - v�llig gleichg�ltig dagegen, ob auf der Seite der T�ter und Verursacher �berhaupt eine Identit�t vorliegt: die Bolschewiken der ersten Stunde, Haudegen des B�rgerkriegs, - und Stalin, der ihnen den Schauproze� gemacht hat; die Roten Khmer unter Pol Pot und die Vietnamesen, die sie sp�ter von der Macht �ber Kambodscha vertrieben haben. Ebenso gleichg�ltig zeigt sich Coutrois gegen die Natur der Konflikte, die diese zahlreichen Opfer forderten: Ob sich die Bolschewiki gegen einen von den Imperialisten ausger�steten B�rgerkrieg im eigenen Land wehren m�ssen; ob Mao die Landbev�lkerung f�r einen "Gro�en Sprung" mobilisiert und sein brachialer Versuch beschleunigter Industrialisierung in einer Hungersnot endet; ob Stalin die Landwirtschaft kollektiviert und daf�r die Kleineigent�mer terroristisch vertreibt oder ob die Amis Vietnam in die Steinzeit zur�ckbomben - an allem ist immer gleich "der Kommunismus schuld". H�tten die Revolution�re nicht gegen die alte Ordnung aufbegehrt, w�ren auch die Opfer ihrer Selbstbehauptung nicht angefallen!
Nicht durch eine bestimmte, abgrenzbare verkehrte Zielsetzung, sondern durch seine pure - Zeit seiner Selbstbehauptung umstrittene - Existenz ist der Kommunismus schuldig geworden am Menschen und dem Menschenrecht. Er ist - so die intellektuell armselige Bestimmung - ein einziges Verbrechen. Das ganze System mit seiner �konomie, seiner Weltmacht, seiner Volksdemokratie und seinem kulturellen und sportlichen Bl�dsinn ist voll erfa�t, wenn man es begreift als - Regelversto�, gegen die Prinzipien, die sich geh�ren.

3. Die moralische Vernichtung des toten Kommunismus ist und bleibt ein immergr�nes Bed�rfnis der Freiheit

Man k�nnte meinen, da� mit dem Ende des Kommunismus auch der Antikommunismus langweilig w�rde. Aber weit gefehlt: Je toter die Alternative zum siegreichen System, desto sch�rfer ger�t die Abrechnung mit ihm.
Dem Untergang des realen Sozialismus folgt seine moralische Vernichtung auf dem Fu�e, weil mit der endg�ltig gekl�rten Machtfrage der einzige Grund entf�llt, dieser immer schon verha�ten Abweichung von der allein selig machende Staatsr�son - der kapitalistischen - das kleine Quentchen Respekt zu erweisen, das Anh�nger der Staatsgewalt jeder "real existierenden" Herrschaft zollen. Solange der Westen sich gen�tigt sah, die Existenz des Ostblocks mit seinem alternativen System und seiner Macht hinzunehmen, und in der Anerkennung der Staaten des Warschauer Paktes den Hebel suchte, sie aufzuweichen -, solange war das "Reich des B�sen" relativiert durch den berechnenden Respekt, den das Eigeninteresse dieser Staaten auf dem diplomatischen Parkett geno�. Einen Breschnew oder Honecker - aus welcher feindlichen Berechnung auch immer - mit Ehren zu empfangen, bedeutet immerhin, da� sich der Westen mit dem Ostblock ins Benehmen gesetzt und dessen Anliegen eine relative Berechtigung bescheinigt hatte.
Jetzt endlich, nachdem es zum alternativlosen System keine Alternative mehr gibt, mu� endg�ltig mit dem Gedanken aufger�umt werden, da� es je eine Alternative zur Freiheit gegeben hat: Kapitalismus allein entspricht der Menschennatur, und jeder, der was anderes will, vers�ndigt sich am Menschen! Aus politischen Gr�nden - so das zynische Selbstlob der zivilen, weil sattelfesten Staatsmacht - krepiert "bei uns" jedenfalls keiner. Und wenn hier einer verhungert, dann i�t er zu wenig! M�ssen in den allf�lligen Kriegen oder den zahlreichen Krisenl�ndern des freien Westens gewaltsam zu Tote Gekommene gez�hlt werden, dann zeigen die Zahlen nicht ein Verbrechen an, sondern den gerade mal wieder f�lligen "Preis der Freiheit", der ausdr�ckt, welch hohe G�ter Freiheit und Nation sein m�ssen, wenn sie "uns" solche Opfer wert sind. Leiche ist eben nicht gleich Leiche!

4. Eine Ehrenrettung des vergangenen Kommunismus ist dennoch nicht angebracht.

Es ist verkehrt, Courtois' moralische Vernichtung der kommunistischen Umst�rze und Staaten umzudrehen und nunmehr den Kapitalismus als Verbrechen gegen die Menschlichkeit anzuprangern: Wer eine Staatsform als Versto� und Verbrechen outet, outet vor allem n�mlich sich: Er giftet gegen eine Vers�ndigung an den Aufgaben "guter Herrschaft", eben weil er eine ausgepr�gte Vorstellung von guter Herrschaft hat. Herrschaft aber nie "gut", sondern institutionalisierte Gewalt �ber Land und Leute, die es nur braucht, wo beides f�r Zwecke hergenommen wird, die dem beherrschten Menschenmaterial nicht gut bekommen. Die Frage, ob die Opfer, die eine demokratisch verfa�te Herrschaft fordert, an h�heren Werten gemessen, besser abschneiden und eher zu rechtfertigen sind als diejenigen einer "volksdemokratischen", geht den nichts an, der sich f�r Herrschaft weder in der einen noch in der anderen Form begeistert. Nur jemand der seinen Frieden mit einer Gewalt �ber sich machen will., verfabelt sich Herrschaftszwecke in den mehr oder weniger gelungenen Dienst an h�heren Werten.
Der "reale Sozialismus" hat sich in diesen Wettbewerb begeben. Er hat die Kritik an der b�rgerlichen Staatsgewalt durch die Unterscheidung zwischen guten und b�sen Seiten derselben ersetzt und sich der Durchsetzung einer "guten, echt sozialen Herrschaft" mit aller dazugeh�rigen Unerbittlichkeit gewidmet hat, dann ist das ein Fehler, den man weder mitmachen, noch durch den Hinweis auf schlechte historische Bedingungen entschuldigen soll.

5. Der neuerliche Rufmord am Kommunismus schadet im �brigen nicht!

Und zwar nicht nur deswegen, weil Kommunisten ohnehin keinen guten Ruf zu verlieren haben. Ein besserer Ruf w�rde ihrer Sache auch gar nichts n�tzen: Die Einsicht, da� die lohnabh�ngige Menschheit sich selbst zu Abh�ngigkeit und Armut verurteilt, solange sie im Lohn ihr Lebensmittel sucht, kann sich gar nicht dar�ber einstellen, da� sich ihre Vertreter beim Volk beliebt machen. Und den Fall, da� jemand sich eigentlich dieser Einsicht anschlie�en wollte, durch die Kenntnis von Stalins "Gulag" aber davon abgeschreckt w�rde - den gibt es sowieso nicht. Es ist umgekehrt: Wer sich durch den Hinweis auf die vom "Kommunismus" begangenen moralischen Straftaten davon abhalten l��t, seine eigenen Bed�rfnisse in ein kritisches Verh�ltnis zu den herrschenden Interessen zu setzen und denen auf den Grund zu gehen, der hat dies in Wahrheit gar nicht vorgehabt. Anders ausgedr�ckt: Wer seine �berzeugungen vom sittlichen Image der F�hrungspers�nlichkeiten abh�ngig macht, die um sein Vertrauen werben, der ist mit seinen demokratischen und faschistischen H�uptlingen bestens bedient.

  • Autor: Peter Decker
    Quelle: © Kalaschnikow - Das Politmagazin
    Ausgabe 11, Heft 2/98