Interview mit Peter Decker
"Es geht nicht um Gebrauchswerte
..."
Der Streit zwischen EU und USA um Schutzzölle auf Stahlimporte
Frage: Diesseits des Atlantik herrscht Empörung über den Beschluß der
US-Regierung, Schutzzölle auf Stahlimporte zu erheben. Wirtschaftsbosse,
Politik und Öffentlichkeit sind sich einig, daß es sich hier um
ungerechtfertigte Strafzölle für unsere guten, konkurrenzfähigen Produkte
handelt. Die Europäer werfen den Amerikanern vor, aus nationalem Egoismus gegen
den Grundwert »Freier Welthandel« zu verstoßen. Teilen Sie als Europäer
diese Empörung?
Peter Decker: Lassen wir den Europäer, die europäische Aufregung und
Selbstgerechtigkeit einmal weg, dann ist die Aktion der USA ein Lehrstück darüber,
wie im internationalen Handel gerechnet wird - und durchaus kein aus dem Rahmen
fallender Sündenfall. Der amerikanische Beschluß nämlich widerlegt blitzartig
die schönen Ideologien über die allseitige Wohlstandsmehrung durch Handel. Es
tröstet die USA offenbar nicht, daß sie sich durch Import den guten,
preiswerten Stahl angeeignet haben, daß andere Völker ihnen das Produkt ihrer
Arbeit überlassen und dafür nur den Ami-Dollar genommen haben. Daran sieht
man, was es heißt, daß der Gebrauchswert im Kapitalismus nur Mittel des
Gelderwerbs ist und nicht der Zweck der Produktion. Der gleichgewichtige Tausch
von Geld und Ware ist nicht so gleichgewichtig. Verkaufen ist seliger denn
Kaufen; ersteres macht die Nation reich, zweiteres macht sie arm. Deshalb stimmt
es auch nicht, daß alle marktwirtschaftenden Gemeinwesen dadurch reicher
werden, daß jedes Volk das produziert, was es am besten und billigsten
herstellen kann und dann alle die preiswerteste Weltmarktware kaufen. In den
konkurrenzfähigen Exportnationen wird nämlich fast alles billiger hergestellt
als anderswo - diese Länder können dann immer mehr verkaufen, andere müssen
immer nur kaufen und können das deshalb immer weniger.
Der Standpunkt, möglichst viel zu verkaufen und möglichst billig einzukaufen,
gilt für jeden einzelnen Privatunternehmer. Ein Staat aber zieht Bilanz über
die Importe und Exporte seiner Nation und stellt dann fest, ob sich in seinem
Land das Geld der Welt sammelt oder die Zahlungspflichten. Die USA sind gerade
zu dem Schluß gekommen, daß ihr Zahlungsbilanzdefizit auf die Dauer nicht
tragbar ist. Mit Handelshemmnissen korrigieren sie ihre negative Bilanz.
Zudem ist die Eigenart des Stahlsektors nicht zu vergessen: Mit den neuen Zöllen
verteidigt die amerikanische Supermacht eine industrielle und militärische
Grundstoffindustrie, bei der kein Staat sich durch niedrige Importpreise dazu
verführen läßt, in Abhängigkeit von auswärtigen Lieferanten zu geraten.
Schon gleich nicht Amerika, das gerade ein gigantisches Rüstungsprogramm
auflegt und einen langjährigen Krieg gegen die letzten Feinde seiner
Weltordnung in Angriff nimmt.
Frage: Welche Zwecke und Ziele werden beim globalen Handel verfolgt, und
welche Rolle spielen dabei die politischen Mächte, die Staaten?
Peter Decker: Wie schon gesagt, wir reden nicht über die privaten
Exporteure oder Importeure, die den Umkreis ihrer Geschäfte über den
nationalen Markt hinaus ausdehnen und ihre Gewinne vergrößern. Wir reden
davon, wie Staaten dabei rechnen. Auch sie wollen die Ausdehnung der Geschäfte,
auch sie wollen die Nutzung günstiger Importware, schon wegen der Konkurrenzfähigkeit
ihrer Exporteure. Aber die nationale Bereicherung aus dem Handel selbst ist
einseitig, denn nur eine Seite kann eine positive Bilanz erzielen. Die Benutzung
fremder Länder durch grenzüberschreitenden Handel geht bei durchschlagendem
eigenen Erfolg auf deren Kosten - und umgekehrt. Deshalb sind dieselben Staaten,
die den Welthandel wollen und fördern, stets damit beschäftigt, diejenigen
politischen Korrekturen, das heißt Verfälschungen des internationalen Preis-
und Produktivitätsvergleichs, zu verordnen, mit denen sie ihren einseitigen
Vorteil aus der heiklen Benutzung fremder Märkte sichern. Der Welthandel ist
daher eine durch und durch politisch-gewaltsame Angelegenheit und nirgendwo ein
staatliches Zulassen und Zugucken, was denn die privaten Kapitale so treiben.
Frage: Worum geht es den Weltmächten, wenn sie sich wechselseitig zur
Liberalisierung ihres grenzüberschreitenden Geschäftsverkehrs auffordern?
Peter Decker: Die sogenannte Liberalisierung des Welthandels ist ein
konfliktvolles Geschäft und eine imperialistische Machtaffäre: Einerseits
fordert jede Regierung von der anderen, sie solle die Hindernisse abbauen, die
ihren nationalen Kaufleuten auf dem anderen Markt Geschäftserfolge verbauen.
Andererseits hält jede Handelsnation die Zoll- und anderen Schranken, die sie
zum Schutz ihrer Bilanzen und zum - vorläufigen - Schutz unterlegener
nationaler Industrien erläßt, für absolut unverzichtbar. Die Wahrheit der
Handelsdiplomatie ist das Feilschen darum, daß der eine Staat auf einen
Schutzzoll eventuell verzichten würde, wenn der Partnerstaat auf einem anderen
Feld den Zoll zurücknimmt, auf welchem der erste sich eine Überlegenheit
seiner Exporteure ausrechnet. Liberalisierung fordert jeder vom anderen. Es ist
die Parole, unter der das Feilschen um den notwendigen Protektionismus geführt
wird. Kein Staat ist ein unbedingter Anhänger unkontrolliert offener Märkte.
Es versteht sich übrigens, daß in das diplomatische Ringen um Zölle und
Zollabbau das allgemeine wirtschaftliche, politische und militärische Gewicht
einer Nation eingeht: Welches Land hat welche Konzessionen nötig, welches Land
kann sich Ausnahmen herausnehmen etc. In der Welthandelsorganisation WTO wird
halbwegs gleichrangig nur zwischen Europa und den USA gestritten. Der ganze Rest
der Welt muß sich die Handelsregeln bieten lassen, die zwischen diesen beiden
imperialistischen Zentren ausgemacht werden.
Frage: Die EU hat vor dem WTO-Schiedsgericht gegen die USA geklagt. Für
Idealisten ist die WTO eine Art überstaatliche Regulierungsbehörde, deren
Aufgabe es ist, über den wechselseitigen Nutzen der beteiligten Nationen beim
weltweiten Kaufen und Verkaufen zu wachen und gegen ruinöse Konkurrenzpraktiken
einzelner Staaten vorzugehen. Wie sehen Sie diese Organisation?
Peter Decker: Die WTO ist eher das Gegenteil. Sie hat keineswegs die
Aufgabe, den allseitigen Nutzen des Handels zu sichern und ruinöse Konkurrenz
zu unterbinden. Sie ist zunächst einmal die Agentur und die Streitbühne des
feindlichen Gegensatzes, der mit dem Handel und der politischen Korrektur der
Handelsströme zur Sicherstellung der nationalen Bereicherung gegeben ist.
Staaten vereinbaren bestimmte Handelskonditionen und versprechen, diese nicht
einseitig zu ändern. Der Bedarf für diese Zusicherung kommt daher, daß die
Handelsstaaten dauernd Gründe haben, Genehmigungen zurückzunehmen und
Konditionen zu verändern. Die WTO erhebt Handelskonditionen zu multilateralen
internationalen Verträgen, als ob die Mitgliedsstaaten gar nicht mehr frei wären,
ihr handelseitiges »Rein und Raus« festzulegen und zu korrigieren; und als ob
das Recht auf die Benutzung fremder Märkte ein unwiderruflicher Besitz der
Konkurrenznationen wäre, der gilt und befolgt werden muß - völlig ohne Rücksicht
auf den Schaden, der einem benutzten Land daraus erwächst. Die WTO formuliert
das Ideal, daß die Staaten sich dem Welthandel unterzuordnen hätten und nicht
mehr nach ihrem Vorteil und Gutdünken an grenzüberschreitendem Verkehr
zulassen und verbieten, was sie wollen. Wohlgemerkt, das ist das Ideal der WTO,
nicht ihre Wirklichkeit. Tatsächlich gelten ihre Pflichten und Regeln so lange,
wie die beteiligten Nationen sie gelten lassen wollen.
Die USA vertreten seit den ersten Tagen der Welthandelsorganisation den
Standpunkt, daß sie sich deren Regeln nur unterordnen, solange sie ihnen nützen.
Jetzt kündigen sie eben ihr Versprechen, was den Stahlimport betrifft. Und sie
behaupten noch nicht einmal, daß sie sich - WTO-konform - nur gegen unfaire
Geschäftspraktiken ihrer Handelspartner, etwa Dumping, wehren würden. Insofern
ist ihre Ankündigung neuer Schutzzölle dann doch ein »Sündenfall«. Die
Supermacht, die gerade die ganze Welt kriegerisch neu ordnet und ihre
verbliebenen Feinde vernichtet, macht deutlich, daß sie sich von Handelsverträgen
nicht binden läßt, und verlangt von ihren Partnern, daß diese durch Verträge
selbstverständlich weiterhin gebunden bleiben. Wie in Fragen der
weltpolitischen Rechte und der Bewaffnung nehmen die USA auch im Kampf um den
Reichtum der Welt, im Handel, eine Ausnahmestellung in Anspruch - und verlangen,
daß die Konkurrenznationen sich damit abfinden. Das heißt, daß diese
Konkurrenten Regeln akzeptieren, die den bleibenden auch ökonomisch einseitigen
Vorteil der Supermacht garantieren und zementieren. Darunter leiden die europäischen
Imperialisten dann schon.
Frage: Brüssel hat Gegenmaßnahmen zum Schutz des EU-Marktes angekündigt.
Damit das Überangebot an Stahl, das in den USA nicht mehr abgesetzt werden
kann, nicht den europäischen Markt überschwemmt, heißt es, seien eigene
protektionistische Maßnahmen gerechtfertigt und von der WTO zu genehmigen.
Peter Decker: Die Brüsseler Reaktion beweist, daß die Europäer
haargenau so wie die kritisierten Amerikaner rechnen. Die EU hält sich schadlos
an anderen, ärmeren Nationen. Sie reicht ihre Schädigung an diese weiter,
indem sie deren Stahlexporte vom europäischen Markt fern hält.
Frage: Darüber hinaus erwägt die EU Vergeltungszölle gegen
US-Waren-Importe. Halten Sie es für wahrscheinlich, daß die Europäer eine
Eskalation des Handelskrieges mit den USA riskieren?
Peter Decker: Das werden sich die Europäer gut überlegen. Die
Supermacht nennt immerhin den größten Binnenmarkt der Welt ihr eigen und kann
noch viele Marktchancen gewähren und verweigern.
Frage: Wir sind es gewohnt, das grenzüberschreitende Kaufen und
Verkaufen für alternativlos und normal zu halten, obwohl es schon lange
offensichtlich ist, daß diese Art des Wirtschaftens der Mehrheit der Länder
und besonders deren Bewohnern schlecht bekommt. Worin sehen Sie die Gründe dafür?
Peter Decker: Es ist eben verkehrt, was kürzlich Globalisierungskritiker
von ATTAC öffentlich sagten: Sie seien keine Feinde des Handels, denn sie tränken
selbst gerne Kaffee und liebten Südfrüchte. Man muß sich klarmachen, daß der
Welthandel nicht den Zweck - und deshalb auch nicht das Ergebnis - hat, daß
Gebrauchswerte von dem Ort ihrer Entstehung an den Ort des Bedarfs gelangen.
Kaffee wird nicht importiert, weil wir ihn trinken mögen, sondern weil und wenn
sich damit - privat und national - Geld machen läßt. Unsere Versorgung mit
sogenannten Kolonialwaren ist das Abfallprodukt der Profitmacherei. Wo der
Import von Kaffee dafür nicht taugt, fällt er ebenso aus, wie der von Bananen
in die ehemalige DDR oder der von AIDS-Medikamenten in das südliche Afrika. Das
aber liegt am Zweck des kapitalistischen Kaufens und Verkaufens - und nicht am
Unterschied des einheimischen gegenüber dem grenzüberschreitenden Tausch.
Daß der globalisierte Kapitalismus den Menschen im Norden und Süden schlecht
bekommt, sollte niemanden zu einem Plädoyer für einen beschränkten,
abgeschotteten Nationalkapitalismus verführen, in dem dann genau so gerechnet
wird - nur ohne Kaffee und Orangen. Es braucht - im Inland und weltweit - die
Abschaffung der Unterordnung der Versorgung unter die Geldvermehrung - dann ist
es auch keine Schwierigkeit, die Menschen noch in den entferntesten Regionen mit
Südfrüchten und Medikamenten einzudecken.
Die Gleichsetzung von Ländern und ihren Bewohnern in Ihrer Frage, denen der
Welthandel gleichermaßen schlecht bekommt, mag ich im übrigen nicht. Staaten
sind schließlich die Subjekte politischer Herrschaft, die ihre Völker - oft
mit Hungerlöhnen, oft durch Vertreibung von fruchtbaren Böden und
wirtschaftlich nutzbarem Terrain - dafür verschleißen, daß die Nation die
internationale Konkurrenz bestehen und sich über den Weltmarkt bereichern kann.
Wenn Staaten dabei scheitern, weil andere Staaten ihre Leute noch effektiver
auszubeuten verstehen und in der Konkurrenz um Preise und Profite die Nase vorn
haben, dann ist das ihr Pech, aber kein guter Anlaß für mein Mitleid.
Peter Decker ist Redakteur der marxistischen Vierteljahreszeitschrift Gegenstandpunkt
Interview: Jutta Kienemann
aus: Junge Welt vom
30.03.2002