Inhalt

l. Kapitel

Israel und seine Opfer:
Der Vernichtungsfeldzug im Libanon - Sommer '82

l.

Für die israelische Regierung stand von vorneherein fest, daß ihr brutaler Einmarsch in den Libanon der Schritt zum Frieden war: "Friede für Galiläa!" schien den maßgeblichen Leuten das passende Motto für den militärischen Überfall, der zielstrebig nach Beirut führte. Aus dem Westteil der Stadt wurde dank israelischem Artilleriefeuer und durch die Bomben der Luftwaffe eine Todesfalle für alle widerspenstigen Palästinenser. Und für alle anderen, die sich dort aufhielten. Auch deren Schicksal geht nach israelischer Auffassung wie der ganze Krieg auf das Konto der palästinensischen "Terroristen": Diese Feinde Israels sind sein Kriegsgrund - weil ihre Existenz den Frieden stört.

Für kaum störend erachtet wird in der an diplomatische Heuchelei gewöhnten Weltöffentlichkeit diese selbstgerechte Deklaration eines Staates, der ganz nach westlicher Sitte sein Interesse auch schon als unanfechtbare Legitimation seiner Gewaltausübung verstanden wissen will. Eine Legitimation dieser Art wird akzeptiert, und es bedarf dazu gar nicht des Glaubens an einen bedingungslosen israelischen Friedenswillen, der leider an den bösen Nachbarn zuschanden wird. Diesen Glauben wollen die parteilichen Sachkenner des "Nah-Ost-Problems" auch gar nicht weiter strapazieren, wenn die Streitkräfte des Landes 100 km tief im Nachbarland eine halbe Millionenstadt in Schutt und Asche legen und dafür sogar mehr eigene "Bürger in Uniform" opfern, als jemals jener "Unfriede" an Israels Nordgrenze gekostet hat, der dadurch angeblich beendet werden soll. Auf theoretische Stichhaltigkeit kommt es bei der israelischen Lagebeurteilung aber auch am allerwenigsten an; und daß die darin enthaltene Heuchelei niemanden wirklich überzeugt, schadet ihr nicht. Denn jeder weiß, daß es sich dabei um die israelische Absichtserklärung handelt, die organisierten Palästinenser endlich ein für allemal fertigzumachen - sie zu ,,eliminieren" und den Libanon von ihnen zu "säubern", wie Premierminister Begin in der ihm eigenen unmißverständlichen faschistischen Diktion gleich zu Beginn der Kämpfe klargestellt hat. Und Kriegserklärungen sind nun einmal keine Erklärung der Gründe eines Krieges, sondern seine Eröffnung, also Dokumente des Entschlusses, die Existenz eines auswärtigen Gegners als nicht mehr hinnehmbare Gefahr zu definieren und dieses Urteil aus eigener Rechts- und Machtvollkommenheit gegen ihn zu vollstrecken. Durch den Erfolg der dafür eingesetzten militärischen Gewalt wird die Verurteilung des Feindes nicht theoretisch wahr, wohl aber praktisch objektiv - und darauf kommt es schließlich an bei staatlichen "Erklärungen"!

Dem israelischen Oberkommando, seiner Regierung und deren Diplomaten hat es deswegen auch kein intellektuelles oder moralisches Problem bereitet, den beabsichtigten "Frieden für Galiläa" nach einer imperialistischen Logik zu erläutern und, vor allem, durchzuführen, die nicht gerade zur Stärkung des frommen Glaubens beigetragen hat, ihr feiner Staat würde seine Entschlüsse und Taten ernstlich an ihm vorgegebenen moralischen Maßstäben bemessen. Vom Standpunkt des Sicherheitsinteresses aus beurteilt, das Israel sich als sein "legitimes Recht" zumißt, verlangte der Schutz der Nordprovinz des Landes die Kontrolle über einen wenigstens 40 km tiefen Streifen libanesischen Gebiets; für die Sicherheit der dazu nötigen Truppen war die "Säuberung" des angrenzenden Geländes von wirklichen wie möglichen Feinden erforderlich; damit waren erneut israelische "Staatsbürger in Uniform" einer Gefährdung durch noch weiter nördlich stationierte gegnerische Kämpfer ausgesetzt ..., die 100 km bis Beirut sind da schnell beisammen, und nicht nur das. Da die israelische Regierung sich einmal entschlossen hat, ihre Definition eines jeden organisierten Palästinensers als "Terrorist" praktisch objektiv zu machen, liegt es im verantwortlichen Interesse nationaler Selbstverteidigung, diese Leute zusammenzutreiben und niederzumachen. Ein Vernichtungsfeldzug gegen die politisch und militärisch organisierten Palästinenser war also von Anfang an der unmißverständliche und eindeutig erklärte Zweck der Aktion "Frieden für Galiläa"; und nichts ist alberner, als gegen diesen kompromißlos kriegerischen Inhalt des' israelischen Selbstverteidigungsinteresses den mißverstandenen Schein eines rein defensiven Befreiungsschlags, der 40 km jenseits der israelischen Nordgrenze hätte enden sollen, .als den eigentlichen, moralisch akzeptablen Kriegszweck einklagen zu wollen. Wie jeder Krieg, so widerlegt auch der jüngste israelische gegen die organisierten Palästinenser im Libanon die liebliche Vorstellung, der Entschluß eines Staates zum Einsatz militärischer Gewalt könnte im Grunde "vernünftigerweise" nie ernst gemeint sein, also als Entschluß zur radikalen, kompromißlosen gewaltsamen Beseitigung eines Feindes, sondern allenfalls als ein auf baldigen Kompromiß und wiederhergestelltes Einvernehmen berechnetes "Druckmittel". Den verharmlosend gemeinten Ehrentitel einer "militärischen Konfliktlösung" verdient der jüngste israelische so wie jeder Krieg nur in dem brutalen Sinn, daß da eine Staatsgewalt sich die Freiheit nimmt, ihren Interessensgegensatz zu einer fremden Macht zur Bedrohung ihres Lebensinteresses, zu einem Anschlag auf ihre Souveränität, also überhaupt erst zu einem prinzipiellen, antagonistischen Konflikt zu erklären und dementsprechend durchzufechten. Das einzig "sachgerechte" Ziel ist es dann, dem Feind die Mittel seiner Macht aus der Hand zu schlagen und damit jede Möglichkeit zur praktischen Aufrechterhaltung seines gegensätzlichen Interesses zu nehmen - im Zweifelsfall durch die Vernichtung des "Menschenmaterials", auf dessen Verfügbarkeit alle politische Macht in letzter Instanz beruht. Ist einmal der Übergang zum Krieg gemacht, dann geht es dem kriegführenden Souverän eben nicht mehr um ,.gütliche Einigung", also darum, die Zustimmung einer fremden Macht zu den eigenen, ihr entgegensetzten Interessen durchzusetzen: deren eigenständiger Wille, ihre Freiheit zu autonomer Zwecksetzung, soll grundsätzlich gebrochen werden.

2.

In diesem letzten Punkt legte Israel in seinem Libanonkrieg eine bemerkenswerte politische Radikalität an den Tag. In ihrem Vernichtungsfeldzug gegen die Verbände der Palästinenser bestanden die Führer des Staates Israel darauf, die feindlichen Kämpfer nicht als die Soldaten eines gegnerischen Souveräns, sondern als Vereinigung gemeingefährlicher Privatpersonen: als einen Haufen Krimineller zu definieren und zu behandeln. In der Welt und für die Regeln der Diplomatie, des offiziellen Verkehrs anerkannter Souveräne untereinander, ist Krieg ja nichts Außergewöhnliches; im Gegenteil. Von der Kriegserklärung über eine detaillierte Land- und Seekriegsordnung bis hin zu Kapitulation und Friedensschluß sind alle Phasen eines anständigen Kriegsgeschehens diplomatisch vorgesehen und in ebenso geheiligte wie hinderliche Umgangsformen gefaßt. Selbst im Krieg soll nach völkerrechtlicher Sitte die formelle Anerkennung der feindlichen Souveränität, die Grundlage aller Diplomatie, keineswegs enden - und zwar im Interesse des Kriegszwecks selbst. Dieser heißt nämlich zunächst einmal immer: Kapitulation des Gegners; und die besteht nicht einfach in der militärischen Niederlage, sondern in dem erklärten Willen des feindlichen Souveräns, seine Niederlage anzuerkennen und als Verlierer zu agieren und zu verhandeln. Um des souveränen Eingeständnisses der erlittenen Niederlage willen, aber auch nur dazu bleibt selbst in einem völkerrechtlich regulären Krieg der prinzipielle Respekt der verfeindeten "höchsten Gewalten" voreinander formell erhalten.

Genau darauf wollte sich Israel bei seinem Feldzug gegen die Palästinenserverbände im Libanon von Anfang an nicht festlegen. Es agierte hier mit dem Anspruch, überhaupt keinem regulären Souverän gegenüberzustehen: weder einem libanesischen, weil die offizielle Staatsgewalt durch die PLO als "Staat im Staate" außer Kraft und außer Kurs gesetzt sei, noch erst recht, andererseits, einem palästinensischen. So als hätte sie im Libanon einen Bürgerkrieg zu führen, deklarierte die israelische Regierung den palästinensischen "Staat im Staate" als Verbrecherorganisation, gegen die sie eigentlich gar keinen Krieg führe, sondern an der sie gewissermaßen eine von ihr verhängte kollektive Todesstrafe exekutiere. Zur Verdeutlichung der unzweifelhaften Berechtigung dieses Anliegens ist Premier Begin der Vergleich mit Dresden und Coventry eingefallen, mit zwei Großtaten neuzeitlicher Kriegskunst, die schließlich auch nicht die Wucht weltöffentlicher Kritik auf sich gezogen hätten. Dabei war es ihm keineswegs suspekt, sich in der Zurückweisung von Bedenken gegen seinen Entschluß zum "totalen Krieg" auf die Freiheit zu besinnen, die sich ausgerechnet Hitlers Wehrmacht herausgenommen hatte!

Für das Kampfgeschehen hat dieser Unterschied zwar nichts weiter zu bedeuten. Ob mit oder ohne diplomatische Respektserweise vor der Haager Landkriegsordnung, der Genfer Konvention und den Privilegien des Roten Kreuzes: im Krieg ist die Vernichtung der feindlichen Macht der alles entscheidende, durch keinerlei Bedenklichkeitcn zu relativierende Zweck; und nichts ist da alberner als die heuchlerische oder empörte Beschwerde über besonders scheußliche Waffen - vor allem, wenn sie aus dem Hersteller- und Lieferland herübertönt wie im Falle der sinnreichen und für den Kriegszweck so effektiven amerikanischen Splitterbombe. Der "saubere" Krieg ist und bleibt das absurde Ideal eines Gewaltgeschäfts, in dem das Massensterben als anerkanntes Mittel für den erstrebten Endzweck planmäßig, deswegen auch mit Hilfe neuester großtechnologischer Errungenschaften ins Werk gesetzt wird.

Daß Israel so nachdrücklich darauf besteht, mit den Palästinensern keine regulären Kombattanten, sondern "Terroristen" umzubringen, macht politisch allerdings einen entscheidenden Unterschied. Als politisches Kriegsziel ist damit nämlich klargestellt, daß es nicht um die gewaltsame Zurückweisung eines bestimmten, als unerträgliche Bedrohung definierten Interesses der feindlichen Seite geht, so daß nach erfolgter Kapitulation zu den Bedingungen des Siegers ein friedlicher Verkehr Wiederaufleben könnte. Der Anspruch der Palästinenserorganisationen, überhaupt als Subjekt von Völkerrechten, als diplomatisch respektabler Quasi-Souverän, also als autonomer Verhandlungspartner anerkannt zu werden, soll durch den israelischen Feldzug ganz prinzipiell aus der Welt geschafft werden — eben durch die kompromißlose Vernichtung derer, die ihn überhaupt erheben. Schon eine reguläre Kapitulation des zum Terroristenhaufen erklärten Feindes wäre da ein Widerspruch zum politischen Zweck des Unternehmens; denn damit wäre ihm ja, wenn auch um den Preis einer von ihm anerkannten Niederlage, formell ein Stück Ebenbürtigkeit und ein Moment von Souveränität zuerkannt worden.

Konsequenterweise hat Israel den organisierten Palästinensern noch nicht einmal die "Chance" zur Kapitulation eingeräumt. Allenfalls Dritten gegenüber, nämlich der amerikanischen Regierung, hat Israel sich bereitgefunden, der Zerschlagung der Palästinenserorganisationen im Libanon und der Zerstreuung und Internierung ihrer in Beirut festgesetzten Mitglieder als Alternative zu ihrer Liquidierung zuzustimmen. Und noch dabei hat es sorgfältig darauf geachtet, den Anschein einer ehrenwerten, den Feind als autonomes Subjekt unterstellenden Kapitulation zu vermeiden bzw. zu zerstören. Während der US-Botschafter Habib mit den Palästinensern die Modalitäten ihrer Entfernung aus Beirut aushandelte, vollstreckten Luftwaffe und Artillerie der israelischen Armee noch möglichst viel von dem regierungsamtlichen Todesurteil über sie und dokumentierten damit die unwiderruflich fortbestehende diplomatische Nicht-Beachtung ihrer Organisationen. Der Abtransport der palästinensischen Kämpfer selbst wurde als jederzeit widerruflicher israelischer Gnadenakt gestaltet. Die Entsender der Überwachungstruppe, die NATO-Mächte USA, Frankreich und Italien, gingen ihrerseits auf Israels politisches Hauptanliegen ein, sicherten die Preisgabe der Palästinenser an die israelische Armee im Falle einer Verzögerung ihres Abtransportes zu und erklärten sich damit selbst zu einer Art internationaler Gefängniswache für die am Leben gelassenen Terroristen". So brauchte Israel West-Beirut weder zu erobern noch komplett einzuebnen und dennoch keinerlei Abstriche von seinem Kriegsziel zu machen: der gewaltsamen Entkräftung aller palästinensischen Ansprüche auf eine international respektable Souveränität. Sehr beharrlich ließ die Regierung sich von ihrem amerikanischen Verbündeten zu diesem Erfolg drängen, demonstrierte immer wieder machtvoll ihr Mißtrauen und ihre unausgeräumte prinzipielle Abneigung gegen jede Alternative zur fast schon vollendeten "militärischen Lösung" des "Palästinenserproblems", führte sich in Absprache mit ihrem Verbündeten wie das gewalttätige "enfant terrible" der amerikanischen Nahost-Politik auf und bekräftigte so die kompromißlose Nichtanerkennung jeglicher palästinensischen Autonomieansprüche als ein "essential" ihrer Sicherheitspolitik, das ihr jederzeit einen erneuten Vernichtungsfeldzug wert sein würde. Und als sich Arafat in Rom mit dem Papst und dem italienischen Premier auf Diplomatensofas ablichten ließ und in Sachen "internationaler Anerkennung" der PLO für den israelischen Geschmack zu viel "Erfolg" einheimste, geriet kurzerhand die italienische Botschaft in Beirut unter Beschuß.

3.

Als offiziellen Grund für ihre unbedingte Unduldsamkeit gegen jeden organisierten Palästinenser führen die israelischen Regierungen seit jeher die Bedrohung der Existenz ihrer Nation an, die von diesen "Elementen" ausgehe. Als Beweis für die "Lebensgefahr", in der Staat und Volk Israels schweben sollen, gelten dabei die israelisch-arabischen Kriege seit dem UNO-Beschluß zur Aufteilung Palästinas in zwei souveräne Staaten sowie die Absichtserklärungen arabischer Politiker, den Judenstaat zum Verschwinden zu bringen.

Nun ist die völlige Ohnmacht solcher Drohungen von palästinensischer Seite gar nicht zu übersehen; und den israelischen Staatsgewaltigen ist sie am allerbesten bekannt: Sie sind sich ihrer Überlegenheit ja gerade so sicher, daß sie ihre "Todfeinde" gar nicht als gleichrangige Gegner ernstnehmen, sondern als einen Haufen frech gewordener Staatsfeinde betrachten und behandeln. Und das - anders als sie es meinen! - durchaus zu Recht. Die angebliche "Existenzgefahr" für Israel geht ja tatsächlich, soweit es die Palästinenser betrifft, nicht von einer souveränen Staatsgewalt aus, die aus eigener Rechts-, geschweige denn Machtvollkommenheit handeln würde, sondern von Leuten, die sich durch die israelische Staatsgewalt unmittelbar geschädigt finden: von vertriebenen, unter israelischer Besatzungsgewalt stehenden bzw. als Bürger zweiter Klasse behandelten arabischen Landesbewohnern. Sie sind noch nicht einmal nützliche Manövriermasse, von deren Verfügbarkeit und Loyalität die israelische Staatsgewalt in irgendeiner Hinsicht abhinge, so wie die jüdischen Israelis, sondern bloßes Opfer des Durchsetzungswillens israelischer Souveränität. Und schon deshalb ist ihr Widerstand gegen die sie schädigende Staatsgewalt ein wenig hoffnungsvolles Unterfangen. Ihnen bleibt ab einziges Mittel die bewaffnete Auseinandersetzung, also der praktische Vergleich mit den allzeit einsatzbereiten Machtmitteln genau der Gewalt, die sie zu Opfern gemacht hat! Die Erbitterung und die rhetorische Unbedingtheit des palästinensischen Wunsches, den Judenstaat aus der Welt zu schaffen, reflektiert denn auch - ganz anders als die unerbittliche Rechthaberei ihres Gegners - seit Jahrzehnten die Ansprüche, die Israel mit Füßen tritt.

Die arabischen Opfer der israelischen Staatsgewalt sind also nicht die "tödliche Bedrohung" für deren Bestand, die sie in früheren Kampfansagen vielleicht gerne gewesen wären. So ist es auch keine richtige Einsicht, sondern ein israelisches Staatsprogramm, sie zu einer Gefahr zu erklären, gegen die Israel sich kompromißlos und mit allen Mitteln zu wehren hätte. Hier definiert die Staatsgewalt ihre Opfer als Feind und deren Widerstand gegen erlittenen Schaden als staatsgefährdendes Verbrechen.

4.

Die "Logik", nach der sie das tut, ist einerseits die moderner Souveränität überhaupt. Eine anständige Staatsgewalt vertritt nicht einfach bedingte Interessen, sondern sie verficht ihre Interessen als ihr höchstes Recht - soweit sie es kann. Aus jedem Konflikt mit geschädigten Interessen, seien es solche ihrer Untertanen oder auswärtige, macht sie eine Prinzipienfrage, nämlich ein Anliegen ihrer anerkannten Selbstbehauptung. Eine bürgerliche - oder dieser nachgebildete - Staatsgewalt weiß und betätigt sich als universeller "Mittler" und damit als die Bedingung sämtlicher Interessen, die in ihrem Herrschaftsbereich zum Zuge kommen möchten. Stets weist sie mit ihren Machtinstrumenten Interessen zurück oder verhilft ihnen zum Erfolg - und in der Sicherheit, daß die von ihr beaufsichtigte Klassengesellschaft ohne sie und ihre souveränen Reglements weder nach innen "lebensfähig" noch nach außen ,,aktionsfähig" wäre, emanzipiert sie sich von den ökonomischen Anliegen der Klassen, die sie verwaltet. Sich selber und ihre Dienstbarkeit für die von ihr regierte Gesellschaft würde sie aufgeben, sobald sie nicht mehr kompromißlos auf der Unbedingtheit und der Exklusivität ihrer Zuständigkeit für jegliches Geschehen in ihrem Machtbereich bestünde. Diesen "Prinzipien" ordnet sie alles unter: das Wohlergehen, ja das Überleben ihrer eigenen Gesellschaft wie erst recht dasjenige .fremder Mächte mit ihrem , .Menschenmaterial". Souveränität schließt die "Unverhältnismäßigkeit" der Mittel notwendigerweise ein; denn sie will gerade außer und über jedem Vergleich mit all den materiellen Ansprüchen und Gefahren stehen, auf die sie sich bezieht. Und Rechtsstaatlichkeit bedeutet gerade nicht, daß die Staatsgewalt sich gewissen höheren, ihrer Machtvollkommenheit entzogenen Maßstäben beugen würde, sondern genau das Gegenteil: im Innern wie nach außen betätigt sie sich - ökonomisch gar nicht sparsam - als Urheber jeglichen wirklichen Rechts, setzt also entsprechend ihren Mitteln ihre Macht als den höchsten Rechtsmaßstab in die Welt.

5.

Diesen unbedingten Anspruch des bürgerlichen Rechtsstaats, Über Erlaubtes und Verbotenes zu befinden, den Zugang zu und Ausschluß von Reichtum zu regeln, also "Chancen" zu verteilen, wendet der Staat Israel nun allerdings in einmaliger Weise gegen die vertriebenen wie die verbliebenen arabischen Bewohner seines Herrschaftsgebiets. Er hat seine Souveränität von Anfang an für weitgehend unvereinbar mit den bürgerlichen Interessen und staatsbürgerlichen Illusionen, ja sogar schon mit einer massenhaften Anwesenheit von arabischen Untertanen erklärt. Für ihre jüdischen Untertanen will die israelische Staatsgewalt zuständig sein, und das so unterschiedslos und gleichmäßig, wie sich das in einem demokratischen Klassenstaat gehört; gleichzeitig will sie diese ihre Alleinzuständigkeit behaupten gegen die arabischen Landesbewohner und insbesondere gegen alle Vertriebenen, die noch irgendwie dem durch etliche Kriege vergrößerten Herrschaftsbereich Israels als der Sphäre ihrer Existenz anhängen - und darin unterscheidet sie sich durchaus von den übrigen Souveränen der modernen, imperialistisch geordneten Staatenwelt. Hier leistet sich eine bürgerlich-demokratisch organisierte, vom politisierten Willen und nationalen Bewußtsein ihrer Untertanen getragene Staatsgewalt einen völkischen Charakter: Sie konstituiert und betätigt sich in der klaren und erklärten Absicht, sich auf Kosten der vorfindlichen arabischen Landesbewohner in ihrem Herrschaftsgebiet breitzumachen und dadurch dem jüdischen als ihrem eigentlichen Staatsvolk einen politischen "Lebensraum" zu verschaffen, in dem Araber allenfalls als politisch belanglose Minderheit "Duldung" finden. So macht sie die arabischen Bewohner ihres zusammeneroberten Staatsgebiets, die vertriebenen wie die verbliebenen, zum "Palästineneserproblem " und jede politische Ambition von deren Seite auf eine Staatsgewalt, die sie als vollgültiges Staatsvolk anerkennt, zum verfolgungswürdigen Verstoß gegen ihre Souveränität.

6.

Der Vorwurf des Völkermords - so töricht moralisch er in der Regel ist: als wäre ein Krieg erst dann so richtig schlimm, wenn von dem überfallenen Volk wirklich niemand mehr übrig ist! - trifft daher durchaus Grund und Absicht des israelischen Libanon-Feldzugs. Hier will eine souveräne Staatsgewalt unvereinbar sein erstens mit den politischen Ambitionen einer ganzen arabischen Völkerschaft, so wie diese von den politischen Organisationen dieser verhinderten Nation artikuliert werden; sie will insofern zweitens unvereinbar sein mit dem unmittelbaren Überlebensinteresse der betroffenen Leute, aus dem der Wunsch nach einem palästinensischen bzw. einem Staat mit bürgerlicher Gleichberechtigung für Araber sich speist - daß dieser Wunsch ein falsches Ideal jener Interessen ist und kein Weg zu ihrer Verwirklichung, das ist wirklich das Letzte, was ausgerechnet eine Staatsgewalt, noch dazu eine bewußt völkische, daran auszusetzen haben könnte. Und diese Unvereinbarkeit der israelischen Souveränität mit den' Anliegen einer ganzen Völkerschaft ist keine theoretische Angelegenheit: Sie wird blutig vollstreckt, wenn die Führer Israels jeden organisierten Palästinenser als "Terroristen" definieren, zum Abschuß freigeben, und ihrer Armee überdies Rücksichtslosigkeit gegen jedermann zur Pflicht machen, der sich in der Nähe eines solchen Ziels aufhält und damit den tödlichen "Fehler" begeht, einen "Schutzschild für Terroristen" abzugeben.

Dabei geht Israel nicht bloß mit den eigenen Streitkräften unmittelbar gegen jede palästinensische Gegenwehr vor. Nach sämtlichen Kunstregeln eines professionellen Terrorismus läßt es jeden Staat der Region - und bisweilen auch weiter entfernte Staaten - seine Unzufriedenheit spüren, wenn deren Souveräne sich entweder nach israelischem Urteil als unfähig erweisen oder aber nicht willens sind, dem israelischen Verdikt über die Palästinenserflüchtlinge und ihre politischen Assoziationen Genüge zu tun und sie klein und ohnmächtig zu halten. Die Bewohner des Libanon haben es jedenfalls bitter zu spüren bekommen, daß die israelische Regierung bei ihnen eine schlagkräftige Staatsgewalt zur Unterdrückung der PLO vermißt und es sich daher zu ihrer weltpolitischen Pflicht gemacht hat, gegen den angeblichen palästinensischen "Staat im Staate" eine "souveräne" libanesische Zentralgewalt wiederherzustellen. Nachdem permanente Luftüberfälle, kurzfristige Einmärsche und die Einrichtung eines kleinen, israelhörigen "Staats im Staate" im Süden des Landes unter dem christlich-faschistischen Milizführer Haddad den "Beweis" geliefert hatten, wie untragbar ein zerrütteter Libanon für Israel ist, "mußten" Bombenflugzeuge und Panzer dieses selbstlose Geschenk direkt in Beirut abliefern - einige tausend Untertanen hat das ihr Leben, einige Zehntausend den Rest ihrer ökonomischen Existenz gekostet.

Erst recht schlägt Israel seit jeher gegen jeden Staat zu, dessen Führung sich nicht dafür hergeben will, "ihren" Flüchtlingen jede Bewegungsfreiheit zu nehmen. Mit kriegerischen Aktionen, die nach Geschmack 'mal als "Vergeltungs-", 'mal als "Präventivschläge" ausgegeben werden und tatsächlich mittlere Vernichtungsfeldzüge gegen die Palästinenser und die Machtmittel ihrer "Schutzmächte" sind, "bestraft" Israel seine Nachbarstaaten für jede - wirkliche oder auch nur behauptete - palästinensische Kommandoaktion von ihrem Territorium aus, und zwar allemal bewußt "unverhältnismäßig" im Vergleich zum vorgeblichen Anlaß (eine Zeitlang galt schließlich sogar das Attentat auf einen israelischen Diplomaten in London als Rechtfertigung für Israels Libanonfeldzug!). Der gewünschte Erfolg ist nicht ausgeblieben. In Jordanien haben Terrorkommandos der israelischen Armee Anschläge von Palästinensern aus jordanischen Lagern zum Anlaß genommen, ganze Dörfer einzuäschern; und der zuständige König Hussein hat wunschgemäß reagiert: mit schärferer Kontrolle der Lager und härterer Unterdrückung ihrer Insassen. Der Abwehr kämpf der Palästinenser, die ihrerseits die jordanische Staatsgewalt in stärkerem Maße für den Schutz vor israelischen Überfällen nutzen wollten, endete in dem berüchtigten "Schwarzen September" 1970 mit einem Sieg der Hussein-treuen Beduinentruppen, der den israelischen Übergriffen an Brutalität nicht nachstand und für Israel nichts zu wünschen übrig ließ. Unterstützt hat die israelische Regierung diesen Erfolg zumindest durch eine wirksame Drohung an Syrien, jeden Beistand für die Palästinenser zu unterlassen. Der syrische Präsident Assad hat es seinerseits nie so weit kommen lassen und "seine" organisierten Flüchtlinge stets streng »unter Kontrolle" gehalten. Und nicht nur das. Die Angst der syrischen Regierung vor einem israelischen Eingreifen - schon damals mindestens bis Beirut - war bekanntlich mindestens ein Grund für ihre Intervention in den libanesischen Bürgerkrieg im Jahr 1976: zugunsten der wenig syrienfreundlichen, von Israel militärisch aufgebauten und unterstützten christlichen Milizen und gegen die Palästinenser und die mit ihnen verbündeten moslemischen Organisationen, die kurz davor standen, die Macht im Libanon und damit eine souveräne Basis für ihre Politik zu erobern. Gerechterweise gilt Präsident Assad auch jetzt wieder als verläßlicher Lagerwärter für die nach Syrien deportierten palästinensischen Kämpfer aus Beirut. Der Abtransport der Palästinenser aus Beirut, unter NATO-Aufsicht in verschiedene arabische Ländenist im übrigen Israels vorläufig größter Erfolg bei seiner "Lösung" der von ihm aufgeworfenen Palästinenser-"Frage": nicht bloß, weil ihre Organisationen praktisch zerschlagen und ihre Mitglieder in alle Himmelsrichtungen zerstreut sind, sondern vor allem deshalb, weil praktisch alle wichtigen arabischen Kontrahenten Israels sich zum Helfershelfer genau dafür gemacht haben. Das ist nicht neu, immerhin aber ein entschiedener Fortschritt in der miesen Tradition der arabischen "Schutzmächte" der Palästinenser, aus Furcht und Berechnung ihre "Schützlinge" fast härter zu behandeln, als Israel es sich überhaupt nur wünschen kann, und so dem Urheber des Elends die Drecksarbeit der Unterdrückung auch noch abzunehmen.

Daß dabei die Liquidierung von Palästinensern als die wirksamste Art der Unterdrückung stets auf der Tagesordnung steht, hat das zu trauriger Berühmtheit gelangte Massaker von Beirut der Welt im September '82 vor Augen geführt. Kaum waren die bewaffneten und organisierten Palästinenser unter UNO-Aufsicht - was heute dasselbe ist wie NATO-Aufsicht — aus Beirut entfernt, demonstrierten Freunde des Staates Israel unter wohlwollender Beteiligung von dessen "Schutz truppen", wie man mit entwaffneten Feinden umgeht. Nicht einmal dieser Berechnung der Palästinenser - sie waren um ihres Überlebens und der Existenz ihrer Familien willen abgezogen - wurde stattgegeben, so daß die westliche Öffentlichkeit während der Bergung der Leichen Gelegenheit bekam, sich mit professionellem Abscheu zu distanzieren und zugleich davor zu warnen, den Opfern zuviel moralische Pluspunkte zuzuschanzen, die dann trotz der militärisch perfekten Niederlage zu einem "politischen Erfolg" der PLO führen könnten ...