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II. Der Systemvergleich zwischen der "Herrschaft des Rechts" und dem "Unrechtssystem" ist eine Kampfansage

Der freie Westen hält seine Weltpolitik für einen Kampf des Rechts gegen das Unrecht. Die russischen Verbrecher haben sich vor der "richtigen" Weltordnung zu verantworten und verdienen eine gerechte Bestrafung durch die Guten.

Die Idee, daß der Kommunismus ein Irrweg der Menschengeschichte sei, dessen letzte Kapitel gerade geschrieben würden, ist keineswegs ein spezieller Einfall von US-Präsident Ronald Reagan, der angeblich nicht differenzieren und nur im groben "Gut-Böse"-Schema denken kann. Auch wenn der Satz von Reagan stammt, so ist er doch Gemeingut all der westeuropäischen Staatsmänner und ihrer journalistischen Nachbeter, die "differenziert zu denken" und "gemäßigt" zu formulieren verstehen. In jeder offiziellen politischen Verlautbarung, in jedem Kommentar der Medien und in jeder Stellungnahme der freien Wissenschaften wird an diesem Beweis gearbeitet: Die sozialistischen Staaten, ihre Wirtschaft und Politik haben eigentlich keine Existenzberechtigung. Dieser Beweis ist weniger wegen der selbstsicheren Idiotien bemerkenswert, mit denen er "geführt" wird. Eher schon als Dokument der unbedingten Feindschaft und des unverwüstlichen guten Gewissens derer, die sich von der Geschichte beauftragt und berechtigt fühlen, das längst fällige Urteil zu vollstrecken.

l. Wenn westliche Friedens- und Freiheitskämpfer die sowjetische Außenpolitik betrachten, dann fallen ihnen Vokabeln ein, die sie als Kennzeichnung der Politik ihrer Vaterländer seit wenigstens 60 Jahren verboten haben. Wenn die Russen in einer westlich ausgerichteten Staatenwelt von ca. 160 bei der UNO angemeldeten Regionalherrschaften in einigen wenigen Fällen (Angola, Äthiopien, Afghanistan, Vietnam - wer wüßte überhaupt viel mehr zu nennen) das tun, was beim Westen "Pflege der Partnerschaft" und "Hilfe für die Dritte Welt" heißt, wenn sie sich also um befreundete Regierungen mit Geschenken, Aufbau der Polizei, Waffenlieferungen gegen Feinde oder gar mit cubanischen Soldaten bemühen, dann ist das ohne Zweifel Expansion und Imperialismus.

Wenn dann bemerkt wird, daß die Sowjetunion mit ihren praktizierten Völkerfreundschaften gar nichts weiter anfangen kann, daß sie außer dem negativen Resultat, ein Land aus der Front ihrer Feinde herausgelöst zu haben, außer einer eventuellen strategischen Nutzung - Marinestützpunkte usw. - nichts will und kann, dann wird diese Ausnahme in der modernen Weltpolitik zum Beweis ihrer besonderen Bösartigkeit ausgenutzt. Dabei deutet es darauf hin, daß die russische Teilhabe an der Werbung befreundeter Regierungen keinen Grund m der sozialistischen Ökonomie, sondern nur den defensiven Ausgangspunkt hat, in einer vom Feind organisierten Staatenwelt und angesichts der damit verbundenen Bedrohung das eigene Lager durch Neuzugänge zu stärken, um militärisch weltweit Paroli bieten zu können. Daß die Planer aus dem rohstoffreichsten Land der Erde gar nicht versuchen, bei ihren wenigen Freunden den Abbau der Bodenschätze und den Anbau verkaufbarer Agrarprodukte in den Griff zu bekommen, führt nie zu dem Schluß, daß es ihnen darum vielleicht nicht geht. Dagegen ist es dem westlichen Begutachter nur ein weiteres Beispiel dafür, daß die Russen eben noch nicht einmal dazu in der Lage sind! Das unvermeidliche Draufzahlen der Russen bei der Werbung eigener "Freunde" - sie verschenken Stahlwerke wirklich, und wenn sie Straßen anlegen, dann nicht, weil der Transport auf ihnen sich für ihre oder die einheimische Wirtschaft auszahlt - wird einerseits als gerechte Strafe dafür registriert, daß ihre verrottete Wirtschaft noch nicht einmal zur Ausbeutung der "Dritten Welt" imstande ist, und deshalb auch kein Recht darauf hat! Dieselben Richter über russische Weltpolitik sind sich andererseits absolut sicher, "daß die Russen auch nichts zu verschenken haben". Einen Nutzen des weltpolitischen Engagements für die Russen will man nicht erkennen, und daraus wird ein hartes Argument gemacht: Es muß sich um ein ganz hinterhältiges - wegen seiner Untauglichkeit für wirtschaftliche Ausbeute - "reines" Macht- und Unterdrückungsinteresse handeln. Also um die Absurdität eines Beherrschens für nichts und wieder nichts. Diese Bösartigkeit traut man dem anderen System eben zu, so daß sich eigene blutige Ordnungsaufgaben in der "Dritten Welt" als gut motiviert und durchaus verständlich dagegen abheben, weil "wir" doch von den Rohstoffen so abhängig sind. Wenn rechtlich denkende NATO-Menschen dann wieder bemerken, wie wenig "Abhängigkeit" durch die Lieferung von Waffen und die Schenkung von Staudämmen entsteht; wie andererseits die Herren Regierungschefs südlicher Breiten um ihre Berücksichtigung in der "Weltwirtschaft" besorgt sind und sich einiges an "Bindung" einstellt — dann ist für sie alles klar. Nicht ohne Schadenfreude deuten sie das Überwechseln Chinas oder Ägyptens ins westliche Lager als Befreiung dieser Völker aus der beengenden Umarmung des russischen Bären. Da spielt die Tatsache, daß westliche Kredite und Waffen"hilfe" die "Stabilität" und das Interesse ganzer Staaten bestimmen, höchstens in der Frage eine Rolle, ob die Schulden nicht zu groß für die Kalkulationen des internationalen Bankwesens werden. Die Armut und die Gewalt vor Ort heißen "Unterentwicklung" - und für die tun die Russen entschieden zu wenig. Weil der Westen den Staatsführern befreundeter Nationen ein Mehr an Rüstung und Finanzierung für ihren Herrschaftsapparat zu bieten hat, ist der Westen der natürliche Freund der damit regierten Völker, der Osten ihr Feind, der außerhalb seiner Landesgrenzen nichts zu suchen hat.

2. Aber nicht nur außerhalb, auch daheim hat die russische Form des Wirtschaftens keinerlei Lebensrecht; sie ist nämlich hoffnungslos ineffizient. Gewonnen wird dieser Schiedsspruch gegen die östliche Wirtschaft analog zum Verfahren bei der Außenpolitik: Weil die drüben den Erfolg ihrer Wirtschaft nicht im Wachstum des Kapitals messen, erweisen sie sich als absolut unfähig, ein kapitalistisches Wachstum zustandezubringen. Die Russen sollen an etwas scheitern, was sie gar nicht wollen! Da erfährt man in Fernsehmagazinen, daß die arbeitende Bevölkerung drüben ohne die so stark motivierende Drohung, den Arbeitsplatz verlieren zu können, und ohne die leistungssteigernde Konkurrenz mit einem stets bereiten Arbeitslosenheer ihr Tagwerk verrichtet. Und siehe da - es kommt nichts raus! Die Leute können auch mal zu spät kommen; können während der Arbeitszeit Arztbesuche und ihr obligates Schlangestehen absolvieren, und bei der Arbeit reißt sich angeblich keiner ein Bein aus. Lebensqualität? Oder wenigstens Gemütlichkeit? Von wegen - die Ostökonomen versündigen sich am Recht des Volkes auf eine Wirtschaft, die es gehörig ausnützt und dadurch "wächst"! Dieselben Kommentatoren haben dabei kein Problem, das pure Gegenteil ebenso zu verkünden; anläßlich der Orden für die "Helden der sozialistischen Arbeit" entdecken sie nicht, daß Leistungssteigerungen drüben mit moralischen Mitteln, also ziemlich matt angereizt werden müssen; noch weniger fällt ihnen auf, daß es jenen "stummen Zwang der Verhältnisse", die auf rentable Leistung programmierten Arbeitsplätze kapitalistischer Fabriken, nicht gibt. Ihre Diagnose lautet anders und ziemlich schlicht: Drüben herrscht die "reine" Ausbeutung und "der Mensch" ist dem Alleinunternehmer Staat ausgeliefert, der ihm nicht mit Lohn, sondern mit billigem Ordensblech dankt - was es im Westen höchstens für Jubilare der kapitalistischen Arbeit nach 30jähriger Betriebszugehörigkeit gibt.

Da erfährt man, daß im Osten niedrigste, die Versorgung der Bevölkerung sichernde Preise für das Nötigste festgelegt werden: Wohnung, Grundnahrungsmittel und öffentlicher Verkehr kosten so wenig, daß hier niemand sparen muß. Während hier tatsächlich zum Vorschein kommt, daß wenigstens die Gegenstände der Grundversorgung im Osten nicht dazu benutzt werden, den Leuten den Lohn wieder aus der Tasche zu ziehen und das gute Geld dorthin zurückzubringen, wo es hingehört - in die Hände derer, die es vermehren können -, entdecken fachkundige Kritiker des Ostens hier nur eines: Verfälschung - lauter falsche Preise! So kann eine Wirtschaft ja nicht funktionieren, wenn sie nicht jede Ware so teuer wie möglich macht, um möglichst viel Geld herauszuschlagen.

Billige Lebensmittel sind für kapitalistisch geschulte Fachleute eine unverständliche "Subventionierung", welche auf "Mißwirtschaft" deutet und angesichts einer viel zu niedrigen Arbeitsproduktivität eigentlich unmöglich ist.

In den Augen kritischer westlicher Berater in Wirtschaftsdingen hält sich im Osten ein gar nicht lebensfähiges System, das sich der Verachtung auch nicht durch zweifelhafte Leistungen in technischen Disziplinen wie dem Flugzeugbau entziehen kann. Mit ihren zivilen und militärischen Prachtstücken beweist die SU eben nur die Perfidie des sozialistischen Systems: Obwohl ihre Wirtschaft dazu eigentlich gar nicht in der Lage ist, legen sie sich modernste Waffen zu - zu denen sie wegen der Unterproduktion an Lebensmitteln, die eben noch zu billig waren, nicht berechtigt sind. Das Besitzrecht auf technisch ausgereifte Waffen erwirbt man sich nämlich nur durch Staffelmieten auf einem freien Wohnungsmarkt, niedrige Löhne, freie Benzin- und Fleischpreise sowie eine inflationshemmende Mehrwertsteuerrate, wodurch die Rüstung aufs erfreulichste mit den Konsumwünschen der Menschheit harmoniert.

3. Da der Beweis der Unwirtschaftlichkeit sozialistischen Wirtschaftens schon nur durch ein Messen derselben an der Elle kapitalistischer Erfolgskriterien geliefert wird, wird die beabsichtigte Verurteilung um so sicherer durch die Methode des offenen Systemvergleichs sichergestellt - ein Vergleich, der schon deshalb nicht schiefgehen kann, weil sich der analytische Geist von vornherein darüber im klaren ist, daß drüben alles Schlechte am System liegt, während das Rätsel, daß die Leute dort immerhin auch leben, nur durch ihren Fleiß zu erklären ist, den sie trotzdem noch aufbringen; umgekehrt weiß der Systemvergleicher, daß im Westen das ganze Leben der vortrefflichen Einrichtung von Staat und Wirtschaft zu danken ist, während alles Unvollkommene, das es auch hier gibt, "der Mensch" mit seinem menschlichen Versagen zu verantworten hat. Diese gesicherte Parteilichkeit ist es, die verhindert, daß pure Stilblüten der Vergleicherei nicht zu Lachsalven führen, weil vorweg sichergestellt ist, daß Mängel in Ost und West keinesfalls gleich zu bewerten sind. Da findet sich im Wirtschaftsteil derselben Zeitung nebeneinander ein sorgenvoller Bericht darüber, daß in den westlichen Nationalökonomien nach 3 Jahren realer Schrumpfung die Wirtschaftskrise noch immer nicht überwunden sei, und dann eine höhnische Bemerkung darüber, daß in der DDR das Wirtschaftswachstum mit 4,5% wieder einmal deutlich hinter den Planziffern zurückgeblieben sei - im Westen ein Problem, für dessen Lösung alle mit anpacken und in ihren Ansprüchen zurückstecken, bei dem "vorschnelle" Verallgemeinerungen und Schuldzuweisungen vermieden werden müssen. Im Osten dagegen beweist sogar eine Differenz von geplantem und tatsächlichem Wachstum die hoffnungslose Realitätsferne des Versuches, wirtschaftliche Abläufe planen zu wollen, wie überhaupt hinter dem "Eisernen Vorhang" jeder wirkliche oder erfundene Engpaß zu jeder Verallgemeinerung auf und zur Schuldzuweisung ans "System" berechtigt, dessen Lebensunfähigkeit durch Verbesserungsbemühungen nur unverdient verdeckt wird.

Wegen dieser Methode werden pure Fakten Beweise: Da braucht nur mehr erwähnt zu werden, daß man in Leipzig keine Bananen kaufen konnte, oder daß in Polen Werke wegen Ersatzteilmangel stillstehen - und schon weiß der NATO-Gebildete, was er davon zu halten hat. Das "System" - von dem man ansonsten nichts zu wissen braucht - ist schuld. Die Bauruinen und abgestellten Fabrikanlagen des Westens mag schon gar niemand zählen - und darüber, daß Leute in den Städten keine bezahlbaren Wohnungen finden, könnte man sich nie so grundsätzlich und systemfeindlich empören wie über die fehlenden Bananen (die derweil im Westen aus Gründen der Preisstabilität vernichtet werden). Im goldenen Westen verhungern jährlich Millionen Menschen - und das nicht nur in den südlichen Randbezirken der freien Marktwirtschaft, nein mitten im reichsten Land der Welt, in der US-Autostadt Detroit. Liegt das am System? Unmöglich! Ein Problem - und ein unerklärliches dazu: Präsident Reagan finanziert - nein: keine Hungerhilfe, die hatte er kurz vor dem Hungerwinter in Detroit gestrichen! - eine wissenschaftliche Studie zur Untersuchung der völlig dunklen Ursachen solcher Armut. Im Osten dagegen, wo ein Heer akkreditierter Schnüffler noch die verwegensten Mißstände ausfindig macht, wird von Hunger und gar Hungertod nichts berichtet; dafür müssen auch Besserverdienende bisweilen Schlange stehen. Das liegt am System der Planwirtschaft und ist unmöglich eine Panne.

4. Weil aus dem so gewonnenen Beweis dafür, daß der Sozialismus ein ziemlich untauglicher Kapitalismus ist, höchstens die Beschwörung der Rückständigkeit, der Unterlegenheit, nie aber die Begründung einer Feindschaft herauskommt - wenn die schon nichts zusammenbringen, braucht man sich vor ihnen um so weniger zu fürchten -,wird der Systemvergleich ausgebaut zu einem Beweis dessen, daß das dortige System dem Menschen widerspricht. Bewiesen wird ununterbrochen, daß kein Westbürger unter den Russen je leben könnte, und bewiesen wird es dadurch, daß "der Mensch" eben der Untertan einer kapitalistischen Demokratie ist. Ein ideeller Export der Westbürger beweist, daß das dortige System den Tugenden und Gewohnheiten, die man sich hier zulegen muß, gar nicht entspricht - also menschenfeindlich ist.

— Armut ist dem Menschen des freien Westens keineswegs fremd. Die nie überwundene Existenzunsicherheit, Sparen und Schuldenmachen sind der großen Mehrheit in den westeuropäischen Musterdemokratien eine stetige Gewohnheit, und viele Genüsse kennen auch sie nur aus Illustrierten. Allerdings steht einem jeden die reiche Auswahl von Deutungen des eigenen bescheidenen Lebenswandels zu: Ungerechtigkeiten, verpaßte Chancen und Versagen sind die Verse des Reims, den sich "der Mensch" auf seine Lage machen darf. Kundige Anleitung kommt aus dem Zeitungsladen.

Ganz anders die Armut im Osten: keine Chance, reich zu werden - das ist dem Staat anzulasten, der ihm nichts als die für ihn sowieso verpaßte Möglichkeit vorenthält, in der Konkurrenz nach vorne zu kommen. Das ist ein Anschlag auf den Menschen, der ausgerechnet ein Recht darauf einklagen soll, seines vergeigten Glückes Schmied gewesen sein zu dürfen.

— Dieses Recht blüht im Westen und tritt in Gestalt der freien Meinung zutage, die im Osten weder gewährt noch geschützt wird. Westbürger kennen sich da genau aus, insbesondere dann, wenn einer hierzulande das Maul aufreißt. Dann weisen sie zwar nicht die geäußerte Kritik zurück, wohl aber den Kritiker zurecht. Er soll sich nämlich darüber klar werden, daß er etwas meinen darf, dafür dankbar sein und deswegen seine Einwände gegen Staat und Kapital für nichtig halten. Mehr als diese sehr prinzipielle Anti-Kritik für den Hausgebrauch im eigenen System kommt nie zustande, wenn Leute ihre Vorliebe für eine Erlaubnis zum Dagegensein bekunden - drüben, versteht sich.

Das Verlangen nach staatlich gewährter Staatsfeindlichkeit im anderen Lager übersieht geflissentlich, was in den demokratischen Paradiesen so an freien Meinungen kursiert. Daß sich da eine ganze freie Presse samt Rundfunk und Fernsehen daran zu schaffen macht, den Bürgern immerzu beizubringen, welche Interessen hinter anderen zurückstehen müssen, ist gleichgültig. Ebenso gleichgültig wie die gar nicht schwer zu ermittelnden Maßstabe, an denen sich das hochgelobte Gemecker vom Stammtisch über die Bildzeitung bis zu den. Tagesthemen orientiert. Um das Gelingen von Politik und Wirtschaft darf man sich tatsächlich ausgiebig sorgen, nach Schuldigen fahnden und jedermann auf seinen "Beitrag" festlegen. Wer freilich der - abweichenden - Meinung ist, daß die Ziele der Nation und ihrer Geschäftswelt ihm selber und den meisten anderen gar nicht gut bekommen, erfährt, wie ungemütlich eine "wehrhafte Demokratie" ihre "Dissidenten" behandelt. Gerade dies aber halten die Verehrer der Meinungsfreiheit für äußerst gerecht; wenn sie das Kommando ""Geh doch nach drüben!" erteilen, machen sie ja aus ihrem politischen Rezept kein Hehl. Was sie an drüben so eifrig tadeln - die staatliche Kontrolle staatsgefährdender Regungen -, wünschen sie jedem an den Hals, der sich hierzulande für ihren Geschmack zu viel herausnimmt! Von den Techniken der Observation, des freiheitlichen Geheimdienstwesens, des Berufsverbots etc. kriegen sie erstens nichts mit - wegen ihrer "Linientreue". Und zweitens würden sie die üblichen Praktiken-West nur begrüßen, wären sie ihnen bekannt: Sie plädieren ja nicht nur für Enthaltsamkeit in Sachen Kritik, weil "sie nicht verboten ist bei uns". Sie halten sie für nicht gerechtfertigt und beteiligen sich mit ihrer freien Meinung an der Zurechtweisung, die praktisch in die Zuständigkeit diverser Ämter fällt!

Da braucht es wirklich nicht weiter zu interessieren, daß es im Ostblock - vom Russenwitz über kirchliche Opposition und Arbeiterkämpfen bis zu abtrünnigen Regierungen des "Blocks" - einiges an abweichender Meinung gibt, die im freien Westen ganz anders geahndet wird.

Wenn sich westliche Bürgertugenden an der Kritik des Ostens zu schaffen machen, dann kommt ein Vergleich zwischen drüben und hüben garantiert nicht zustande. Wo es auf den Beweis der Menschenfeindlichkeit und Lebensunwürdigkeit des Realen Sozialismus ankommt, bietet nicht einmal die Sache mit den Arbeitsplätzen, die im Westen ja wirklich von oben genügend breitgetreten wird ("soziales Problem Nr. l"), die Chance, dem Osten einen kleinen Pluspunkt zuzugestehen. Noch nicht einmal für die Millionen Dauerarbeitslosen der EG kommt es in Frage, auch nur ideell die Mauer in umgekehrter Richtung zu überqueren, wenn sie ihre Lage des sicheren und immer weitergehenden Abstiegs ins Elend mit der bescheidenen Solidität mitteldeutscher Arbeitsplatzsicherheit vergleichen. Auch und gerade sie haben das Recht auf freie Wahlen höher einzuschätzen, um es wie ihre Kollegen in der DDR dazu zu benutzen, sich in den 95%-Block der staatstragenden Parteien einzureihen! Das unverzichtbare Recht auf freie Meinung dürfen sie deswegen auch hemmungslos auskosten und außer auf Ausländer immer auf Kommunisten schimpfen.

Und dennoch: Ein Bürger mag durch derlei "Beweise" zu dem Schluß kommen, daß er lieber sterben würde, als drüben zu leben - mehr als die Genugtuung, es im Westen relativ gut getroffen zu haben, kommt dabei auch nicht heraus. Auch die angestrengtesten Verrenkungen westlicher Ideologen machen eben noch deutlich, daß es nicht der Bürger sein kann, den die Russen stören; sie stören seinen Staat, nicht den Privatmann. Jedenfalls taugt diese Zufriedenheit, in der besseren Hälfte der Welt daheim zu sein, nicht zu den Konsequenzen, die stets gezogen und begrüßt werden, wenn der Osten nach gründlicher Abwägung von Vor- und Nachteilen wieder einmal schlechter abschneidet. Diese Konsequenzen zieht allerdings auch nicht der mit seiner Demokratie glückliche Privatmann, sondern der Staatsbürger und Nationalist, dem die Wünsche und Ärgernisse seiner Obrigkeit zum eigenen Anliegen geworden sind. Nur wer die Probleme seiner Regierung für den Katalog der eigenen Bedürfnisse hält, dabei ganz und gar vergißt, welche "Probleme" ihm seine Herrschaften aufmachen, meint, daß ihn die Russen stören. Nur für den vergehen sich die Russen im Kreml an den guten Sitten im ordentlichen Verkehr zwischen den Nationen; für den vorenthalten sie aber auch ihrem Volk die Menschenrechte und können nicht wirtschaften. Und jede fällige Korrektur an ihren Verstößen gegen eine nach außen wie nach innen respektable Staatsführung verhindern sie - durch ihre politische Gewalt! Westliche Staatsmänner entdecken wie ihre Untertanen Amateure deshalb drüben immerzu ihre Ohnmacht. Es liegt ihnen offenbar daran, die Menschen des Ostens mit den Segnungen freien Wirtschaftens beglücken zu können.

Daß es dieses unnatürliche Wirtschaften überhaupt noch gibt, verweist westliche Durchblicker auf die Gewalt, durch die sich das geplante Völkergefängnis gegen seinen natürlichen Tod erhalten läßt. Leute, die sich ganz offen zur Gewalt "unserer Ordnung" bekennen und gar nicht genug davon kriegen können, taufen jede Regierung drüben kurzerhand "Regime". Aber nicht, weil sie französisch können, sondern sich mit einer alternativen, nicht dem eigenen Staat anvertrauten Gewalt nicht abfinden mögen. Ein solcher Staat behindert nämlich die gerechte Einmischung der einzigen anerkennenswerten Macht. Die "Gewaltherrschaft" im Osten gilt als verabscheuungswürdig, und zwar aus einem einzigen Grund: Hier ist die Herrschaft rechts- und menschengemäß; die viel freizügigere Handhabung der staatlichen Gewaltmittel gegen Demonstranten und andere Staatsfeinde zeigt ja nur, mit was für Chaoten die Herrschaft des Rechts fertigwerden muß. Der Staatsgewalt-Ost nützt es bei dieser Betrachtung überhaupt nichts, daß sie ebenfalls nicht ohne Recht, Gesetz, Verfassung und Justizorgane zu Werke geht. Die Unrechtmäßigkeit östlicher Staatsgewalt unterscheidet sich von der rechtmäßigen westlichen Gewaltherrschaft eben darin, daß dort nicht das Recht des Westens gilt. Nicht die Freiheit des Eigentums und der Geschäftemacherei, sondern die planmäßige Mehrung des sozialistischen Nationaleinkommens ist dort Verfassungsauftrag. Damit behindert die Staatsgewalt im Osten zwar kaum den westdeutschen Straßenkehrer Atatürk; dem Recht des Westens auf Einmischung steht sie aber im Wege und ist deshalb unrechtmäßig.

Diese prinzipielle Exkommunizierung aus der Welt der menschengerechten Herrschaft ist älter als die Präsidentschaft Reagans und älter als der Doppelbeschluß - sie geht auf die Gründung der NATO zurück, bei der sich die maßgeblichen kapitalistischen Staaten auf folgende oberste, gar nicht für den Hausgebrauch gedachte, außenpolitische Zielsetzung einigten: Gemeinsame, und damit weltweite Verteidigung der "Herrschaft des Rechts", ihrer "freiheitlichen Traditionen" und der "Demokratie".

Der unnützen Macht wurde der infame Hang zur Machtpolitik attestiert, die auf die Veränderung all der liebenswerten und unwidersprechlich guten Ordnungsleistungen des Zweiten Weltkrieges zielt. Das Stichwort für das verbotene Eingreifen der Sowjetunion in die Weltpolitik entnahmen die Herren des Westens der östlichen Ideologie selbst: die "Weltrevolution", jenes Ideal einer vom Kapital, von den Gewaltverhältnissen des Privateigentums befreiten Welt, stand schließlich immer noch im Katechismus des Kreml. Daß der ein etwas anderes Verständnis von der Sache praktizierte als der tote Karl Marx, brauchte die NATO-Herren nicht zu irritieren - für sie ist der Entzug von dienstbaren Staaten und Völkern aus ihrem "Einflußbereich" haargenau dasselbe wie die Abschaffung des Kapitals und seiner wuchtig angewandten Freiheit. Da nützte auch die Definition der sowjetischen Weltpolitik als "friedliche Koexistenz" herzlich wenig - dem so getauften Anliegen, gleichberechtigt als Weltmacht um Partner und Einfluß ringen zu wollen, mußte eine Absage erteilt werden. Und zwar dauerhaft und überall - die Bewahrung der Welt vor der einzigen mächtigen Alternative war fällig - durch die gründliche Infragestellung und Schwächung von deren Macht.

Dieses Militärbündnis ist sich deshalb seiner Sache als einer des Rechts sicher - so sicher, daß es auch Diktatoren zu den Verfechtern der freiheitlichen Traditionen zählt. Schließlich muß es dem prinzipiell berechtigten System in der Welt schon überlassen bleiben zu entscheiden, was für ein Regieren wo nottut: Da gibt es Völker, die sind für die Demokratie einfach nicht reif, und Diktatoren, die führen ihr geliebtes Volk ein bißchen autoritär auf den langen Weg zu ihr. Umgekehrt sind Regierungen, die nach den geheiligten Prozeduren der Demokratie zustandegekommen sind, "unfähig", "unstabil" ("Stabilität" ist für Partner der Demokratie Pflicht! Mangelnde Partnerschaft wird mit "Destabilisierung" geahndet!) bis verfassungsbrüchig, wenn sie, wie vor 10 Jahren die chilenische, das gute Geld für eine Milchspeisung der Schulkinder verschleudern, anstatt das Kapital zu fördern; besonders, wenn sie gar noch die obligate Verurteilung der Sowjetunion vermissen lassen. Eine Diktatur, die ökonomisch, politisch und strategisch den westlichen Demokratien zu Willen ist, befindet sich allein dadurch schon auf dem Weg zur Demokratie; eine Demokratie, die sich mit linken Zielen dem zu entziehen versucht, ist sowieso verdeckte leninistische Tyrannei.

Wer die Welt so kompromißlos sortiert; wer so entschlossen die einzige Ausnahme zur kapitalistischen Weltwirtschaftsordnung, den Ostblock, für ebenso lebensunfähig wie lebensunwürdig erklärt, der gibt eines über seine Weltpolitik bekannt: Die kapitalistischen Demokratien finden sich mit der Existenz eines Lagers, in dem ihre Prinzipien nicht gelten und das ihnen nicht unbeschränkt zur Verfügung steht, nicht ab. Sie prophezeien dem östlichen System den frühen Tod - und geben mit dem größten Rüstungsprogramm aller Zeiten aktive Sterbehilfe, damit ihre Vorhersage auch eintrifft.

Wer so spricht - und damit nur seine längst geübte Praxis rechtfertigt, der ist kein Opfer einer anonymen Kriegsgefahr und auch nicht Opfer einer Übermacht, der er sich nicht mehr zu erwehren weiß; er produziert "Kriegsgefahr" und plant Krieg in der festen Absicht, ein ganzes Lager der Staatenwelt abzuschaffen.