Die NATO hat die Sowjetunion zum Erzfeind erklärt. Für die Manövriermasse der NATO gibt es deshalb d e n Russen - das F e i n d b i l d. Diese Konstruktion eines mißratenen Menschenschlags dient der "Überzeugung", daß die Russen den tödlichen Befreiungskrieg sowohl brauchen wie verdienen, den die NATO-Armeen gerade üben.
Daß die Länder der Freiheit, speziell die deutsche Bundesrepublik und ihre Wehrmacht kein Feindbild brauchten und hätten, ist die bestdurchschaute öffentliche Lüge der Nation. Jeder weiß, wohin die Waffen gerichtet sind. Diese Lüge ist gleichzeitig die Dokumentation des guten Gewissens, mit dem die ungebrochene Tradition der Verhetzung anderer Völker jetzt modern, demokratisch und systemkonkurrenzgemäß fortgesetzt wird: Der alte Erbfeind, der Franzmann, die englische Krämerseele und der jüdische Untermensch haben ausgedient. Dank neuer weltpolitischer Konstellationen haben sie sich als tragische Verzeichnungen heutiger Freunde, die auch Menschen sind, herausgestellt. Nur "der Russe" hat seine alten und schlechten Qualitäten nicht eingebüßt. Weil sein Staat und "Lager" den Freiheitsläden "des Westens nicht als Freund und Partner zur Verfügung steht, kommen "wir" nicht umhin, diesen Subjekten einiges nachzusagen. Denn soviel steht fest: "Wir" verdienen nur Freundschaft, Offenheit und Verzicht auf alle, besonders waffenmäßige Vorbehalte gegen "uns". Wer den Westen nicht als Freund und unbewaffnet empfängt, ist "rechtmäßig" der Feind und berechtigt zu jeder Verdächtigung, Verächtlichmachung und Hetze, wie eh und je.
Das bundesdeutsche Feindbild ist keine Meinung, der man sich anschließen könnte oder auch nicht. Eine schlechte Meinung von den Russen ist verlangt; die Versicherung, sie nicht in Schutz nehmen zu wollen, unerläßliche Vorbedingung jedes nationalen Diskussionsbeitrags, der ernst genommen werden will, - auch in der Friedensbewegung. Ohne das einschlägige politische Vorurteil fällt man auf, und zwar negativ. Das läßt sich allerdings leicht vermeiden: durch einen vor jeder Kenntnisnahme und Besichtigung östlichen Lebens und Wirkens gepflegten Generalverdacht. Mit ihm läßt sich jede Kunde, die durch den ziemlich durchlässigen "Eisernen Vorhang" dringt, lässig einordnen. Und jede banale Nachricht gerät zum Zeugnis für ein Prinzip, dessen man sich sicher ist: mit diesen Leuten kann man nicht in Frieden leben. Freud und Leid der Untertanen und der Funktionäre, die Tugenden, die Laster und die Leistungen der Leute, die Moden, die Freizeit sowie Alter, Gesundheitszustand und Bildungsgrad der Regierungsleute - alles belegt die Schwäche und Unmoral, aber auch die Stärke und Gefährlichkeit des Feindes.
l. Da zeugt einerseits das gute Volk mit all den alltäglichen Unarten, die gute Völker so an sich haben, vom menschenunwürdigen System. Ganz prinzipiell läßt sich die erstaunliche Banalität nicht leugnen, daß auch der Sowjetmensch tatsächlich ein Mensch ist, die eintönige Vielfalt seiner Neigungen - Kartenspiel und Suff, Sex und Moral, Kunst und Religion - sind ein einziger Widerstandsakt und Gegenbeweis gegen den Einheitsmenschen und das total verkehrte Menschenbild des östlichen Staates, der eben diese Grundtatsache leugnen will, wenn er sich vergeblich daran macht, "den neuen Menschen zu schaffen".
Liebt der Russe eine Russin, heiraten sie gar, machen ein Kind, das sie dann auch noch ernähren, dann sind sie lebendige Zeugen dafür, daß ein richtiger Mensch nicht das Kollektiv lieben kann und etwas Eigenes braucht - Eigentum natürlich! Baut sich ein DDR-Bürger eine kleine Datscha in den Wald, dann ist gewiß, daß er sich "einen Rückzugsort der Privatheit" vor den zudringlichen Ansprüchen von Staat und Partei" geschaffen hat. Usw.
Mit allem beweisen östliche Menschen, daß sie ungeheuer nach der Freiheit lechzen. Jede ihrer Lebensäußerungen belegt einen Mangel. Sie bedürfen der Befreiung und bezeugen so ihr Einverständnis damit, daß "wir" für diejenigen Mitverantwortung tragen, die für sich selber nicht frei sprechen können.
Doch die beim Feind so scharfsinnig bemerkte Unterscheidung von Regierenden und Regierten - die das nationale "Wir" im Inland nicht kennt - wird dann auch wieder fallen gelassen. Zu sträflich vernachlässigen die braven Leute die ihnen angedichtete antisowjetische Menschennatur.. Sie richten sich ein und zeigen sogar die bei Westbürgern hochgeschätzten Formen des ordinären Patriotismus. Der ist zwar unter Umständen ganz ehrlich, aber auch ziemlich naiv und irgendwie ein erschreckendes Resultat totalitärer Herrschaft. Er zeigt ja auch schon beträchtliche Defekte und weicht ganz offensichtlichen Anstrengungen, die Individualität ins Spiel zu bringen: Westlicher Alkoholismus, Jeansmode und Rockmusik sind des Russen Finte, in einer unmenschlichen politischen Umwelt, zu überleben. "Latenten Widerstand" übt er so, obwohl er von dieser Idiotie noch nie im Leben was zu hören gekriegt hat. Auch dafür freilich hat das Feindbild eine Erklärung: im Russischen gibt's dafür kein Wort!
Für den Herrgott haben sie ein Wort, aber ihre "tiefe Religiosität" ist dennoch eine zweischneidige Sache. Im Osten ist sie tatsächlich Opium fürs Volk und steigert die ohnehin sprichwörtliche Leidensfähigkeit dieses Volkes unter einer gottlosen Regierung. Und was die Religion nicht schafft, das erledigt die Propagandamaschine des Systems. Sie seift den Verstand der Unglücklichen ein, damit sie gar nicht mehr anders können als mitmachen. Das wirft wiederum ein bezeichnendes Licht nicht nur auf die Gemeinheit des "Apparates", sondern auch auf die Dummheit eines Volkes, das absurderweise seiner eigenen (!) Regierung glaubt.
Dem Kenner der russischen Seele verraten diese im Westen hochgelobten Knechtstugenden, die ganz offensichtlich der verkehrten Seite zu Gebote stehen, eine ganze Menge: Erstens passen das unmenschliche System und das menschliche Volk gerade deswegen zusammen. Zweitens war das Volk schon .immer so, weil es ewig unter den Zaren pariert hat. Drittens beweist es durch seine Gefügigkeit unter den "roten Zaren" keineswegs, daß es die Freiheit gar nicht will und braucht; diese Menschen sind nur nicht selbst in der Lage, sich in Freiheit zu begeben, so daß sie gegen ihren Willen von außen befreit werden müssen.
2. Angesichts des feststehenden Resultats der Feindbildkonstruktion ist alles erlaubt und gefragt, was der untertänige Ver-' stand anständiger Weltbürger an Lob und Tadel, privatem Geschmack, Moral und ihrer parteiischen Außerkraftsetzung zustande bringt.
Da wird Gromyko als dienstältester Außenpolitiker der Erde dafür gelobt, ein ausgefuchster Diplomat zu sein, und schon ist seine Gefährlichkeit herausgestrichen. Spricht er aber einmal die sowjetische Sicht der Dinge für den Geschmack des Fernsehkommentators-West zu offen aus, ist er "undiplomatisch" und entlarvt, sich als Machtpolitiker, der die "Sprache der Gewalt" spricht. Als "Realist" darf er einem dann wieder lieber sein als die sowieso unberechenbaren und fanatischen "Ideologen" im Kreml.
Andropow muß unbedingt immer wieder als Intellektueller tituliert werden, weil auch die Ausnahme die Regel beweist - daß nämlich lauter engstirnige und ungebildete Kommiß-Köpfe des ZK mehrheitlich besetzen, die einem Kohl oder Reagan auf dem Feld der Bildung nicht das Wasser reichen können.
Macht Andropow Antikorruptions- und Pünktlichkeitskampagnen, dann hat er die Reformbedürftigkeit der Planwirtschaft bemerkt; leider vergeblich. Denn Breschnew hat sich ein Jahrzehnt lang mit den Nonnen zufrieden gegeben und mit seiner Starrheit längst die Reformunfähigkeit des Systems verkörpert.
Sportler von drüben sind Dressurprodukte, um die man den Osten beneidet. Aus dem Osten kommend beweisen sie den menschenverachtenden Leistungsterror, mit dem das Regime für seine Prestigepflege das Leben schon junger Menschen völlig in den Dienst nimmt. Gewinnen sie dann, sind sie entmenschte Kampfmaschinen, die genau dieselben Leute verachten dürfen, die hierzulande "Verweichlichung" schreien, wenn die Nationalelf einmal nicht gewinnt. Im übrigen können die Kampfmaschinen beweisen, daß auch in ihrer Brust nicht nur eine Pumpe, sondern ein fühlendes Herz schlägt - dadurch nämlich, daß sie rübermachen und ihre sportlichen Fähigkeiten hier anbieten.
Politiker des Realen Sozialismus sind für den westlichen Geschmack, der sich an Dressmen wie Verteidigungsminister Wörner bildet, zu einfach, geradezu kleinbürgerlich gekleidet. Da nimmt man also die Unterdrücker europäischer Menschen einmal als Staatsmänner, um sie an diesem Maß alt aussehen zu lassen: Staatsmänner haben in ihrer Kluft den Reichtum zu repräsentieren, den der Staat aus seinem Menschenmaterial zu schlagen versteht - daran gemessen erscheint Honecker mit seinem Kleine-Leute-Kult ärmlich, der durch ihn repräsentierte Staatsreichtum lächerlich. Umgekehrt weiß der feindgebildete Bürger natürlich, daß auch drüben Funktionäre der Staatsmacht in besonderen Villenvierteln wohnen und in reservierten Jagdrevieren herumbauern dürfen. Das nimmt er, der Lambsdorff nicht die Schmiergelder und F. J. Strauß weder den Besitz ganzer Stadtviertel noch Privatjet oder Jagdreviere neiden darf, den Ost-Funktionären übel - zeigt es doch, wie sehr die Funktionärsherrschaft das Volk aussaugt. Und so weiter und so fort. Was immer Menschen-Ost, Regierte wie Regierende anstellen - einem Menschen-West können sie es einfach nicht recht machen. Dem ist es nämlich gestattet, sich als Angehöriger des richtigen Systems und der guten Seite einiges darauf zugute zu halten, nicht bei den Verkehrten gelandet zu sein. Aus dem vielfältigen Angebot von Verdammungen darf er sich nach Belieben aussuchen, was ihm Freude macht - und als Privatmann die Kriegserklärung seines Staates in lauter kleinen, ganz persönlichen Antipathien gegen die Russen bestätigen. Auch ein Segen der Freiheit!
3. Das Feindbild setzt sich aus tausend Idiotien und Gemeinheiten zusammen, die bei aller Komik ihren ernsten Grund und ihre Zielsetzung nicht verleugnen: Konstruiert wird da ein unverbesserlich schlechter, unerträglicher Charakter - ein Typus, dem ideell die Existenzberechtigung abgesprochen ist. Im Unterschied zur Politik, die Grad und Verlaufsform ihrer Feindschaft gegen die Sowjetunion ihren Mitteln und Gelegenheiten anpaßt, ist das Feindbild immer schon am Ziel: Es fordert schon immer die Endlösung, zu der die Politik erst schreitet, wenn sie sich dafür gerüstet fühlt. Insofern steht den Führern der Freiheit von den als harmlos geltenden Russenwitzen bis zu den knallharten Rassismen ein ganzes Arsenal zur Verfügung, das sie für die konjunkturgemäßen Schritte der Mobilmachung nur noch abzurufen brauchen. Das Volk jedenfalls ist nicht aus der Fassung zu bringen, wenn die feinsten Regierungschefs des Westens die häßlichen Töne zum Inhalt sogar des diplomatischen Verkehrs mit dem Hauptfeind machen, die daheim sowieso schon immer über die Russen kursieren: Mörder, Verbrecher, Lügner.
Der Abschuß des koreanischen Jumbos durch sowjetische Abfangjäger wurde als gefundenes Fressen aufgegriffen. Die Russen hatten ein Flugzeug abgeschossen, das unidentifiziert stundenlang über ihre geheimen militärischen Anlagen geflogen war, auf Anruf nicht antwortete, auf Leuchtstoffraketen und Warnschüsse nicht reagierte - ein Spionageflugzeug, wie sie meinten.
Der Westen, der ein Massaker in Beirut, einen Krieg um die Falkland-Inseln, einen in Nicaragua und im Libanon als Probleme der Friedenssicherung "versteht", wollte diese Angelegenheit anders gewertet wissen. Er folgte dem Stichwort, das US-Präsident Reagan nach kurzem Überlegen herausgab: namenloses Entsetzen! Mord, kaltblütig, absichtlich an unschuldigen Zivilisten, mitten im Frieden! Wie auf Verabredung kam die Frage, was die Sowjets vom Abschuß einer als harmlos erkannten Zivilmaschine denn für einen Vorteil haben sollten, überhaupt nicht auf. Die Russen sind die Feinde der Menschheit - und deshalb ist ihnen das Schlimmste zuzutrauen, sinnloser Mord. Die US-Stellen fälschen Tonbänder; später ziehen sie die Fälschung zurück, ohne von der Weltöffentlichkeit ausgepfiffen zu werden. Dient es der Hetze gegen den Feind, dann ist eben jedes Mittel recht, und jeder Lüge wird die gute Absicht entnommen. Die Russen geben den Irrtum zu, entschuldigen sich sogar inoffiziell und berufen sich auf die geltenden internationalen Regeln - es nützt ihnen alles nichts, denn sie sind der Feind. Die USA fordern immer mehr Aufklärung, obwohl schon alles klar ist - unter einem Bekenntnis der Russen, daß sie Verbrecher an der Menschheit sind, geht nichts mehr.
Die deutschen Intellektuellenblätter handeln sich von der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" den Vorwurf ein, es sei unwürdig, wie der "Spiegel" mit seinem Hintergrundbericht "unsere Empörung" versachliche und damit dämpfe. Der deutschen Öffentlichkeit ist Haß auf die Russen heilig, den läßt man sich nicht wegdiskutieren! Dabei hatte der "Spiegel" das gleiche Resultat nur auf dem anderen Weg erreichen wollen: Er hatte den Irrtum der Russen akzeptiert und von da auf die Unfähigkeit und Verantwortungslosigkeit der sowjetischen militärischen Entscheidungsstruktur geschlossen: Ein Militär, das sich so sehr politischer Kontrolle entzieht, ist eine Gefahr für die Menschheit; im Unterschied zu den Amerikanern, die nur Leute umlegen und Kriege beginnen, wenn ihre Politiker das auch wollen!
Alles sinnt auf angemessene Reaktionen auf das "Unfaßbare". Die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" merkt prompt, daß man heute wegen 269 Toter keinen Krieg mehr führen könne; "Bild" hört das "leider" darin heraus und betont, daß man es trotzdem müßte: "Muß erst Paris bombardiert werden, ehe der Westen sich zu gemeinsamen Reaktionen entschließen kann?" - Wirtschaftssanktionen werden geschlossen abgelehnt, weil sie gegen eine bewaffnete Weltmacht nichts nützen .
So bleibt nur noch ein Schluß - und der ist ja mit dem Feindbild längst im Umlauf: Gegen die böse, bewaffnete Weltmacht hilft nur Krieg!