Die NATO-Staaten haben in den Waffen der Sowjetunion
das Hindernis ihrer weltpolitischen Handlungsfreiheit ausgemacht. Das ist
die "russische Bedrohung". Dieses Hindernis will der Westen
durch überlegene Rüstung aus der Welt schaffen. Das ist "Abschreckung".
In diesem Programm ist Westeuropa die Kriegsbastion Nr. 2. Das ist "Nachrüstung."
Beides wird der Sowjetunion in Genf diplomatisch klargemacht. Und sie
soll auch noch ja dazu sagen. Das sind die "Abrüstungsverhandlungen"
der 80er Jahre.
l. Das Ideal der "Kriegsverhinderung durch Abschreckung" ist ein logisches Monstrum. Denn um dem Ideal gemäß jede kriegerische Gewalt des feststehenden Gegners durch eigene Kriegsdrohungen zuverlässig unterbinden zu können, darf die eigene Entschlossenheit, Waffengewalt einzusetzen, auf keinen Fall ähnlichen Bedenklichkeiten aufgrund gegnerischer Drohungen unterliegen. "Wechselseitige Abschreckung" ist also ein Unsinn; "Abschreckung" des Gegners ernst genommen löst sich auf in das Ideal unbedingter Überlegenheit über ihn - eine Weisheit, die die Mehrheit der NATO-Strategen, die vor der "Gefahr" einer "Selbstabschreckung" des Westens von der Anwendung atomarer Waffengewalt warnen, längst drauf haben und die m der Praxis westlicher Aufrüstung seit jeher befolgt wird.,
Denn daß der Westen seine Atomraketen jemals als "bloß politische Waffe" betrachtet hätte - in klarem Unterschied zu manchem "herkömmlichen" Gerät, dessen militärischer Einsatz allenfalls in Erwägung gezogen worden sei -, ist nichts als eine realitätsferne Entschuldigungsideologie zum NATO-Kriegsgeschäft. Sie wird auch dadurch nicht besser, daß ausgerechnet die Friedensbewegung in der BRD sie übernommen hat, um damit ihrer Aufregung über die neuesten westlichen Atomraketen die höchste moralische Rechtfertigung zu verleihen, die sie sich offenbar nur vorstellen kann, nämlich durch eine nun angeblich verratene gute alte NATO-Doktrin. Die in der bundesdeutschen Öffentlichkeit noch immer sehr beliebte Idealisierung des NATO-Atomwaffenarsenals als einer historisch neuartigen Waffengattung, die gar nicht für einen wirklichen Einsatz geeignet, sondern ausschließlich um ihrer psychologischen Wirkung auf den "aggressiven" Gegner willen beschafft worden wäre, ist eine politpsychologische Naivität - wenn nicht eine apologetische Lüge -, die durch die tatsächlichen Kalkulationen der demokratisch beauftragten Strategiebeamten und Rüstungsexperten täglich blamiert wird. Diese Kriegsvorbereitungsmannschaft wird durch dieselbe Waffengattung in den Händen des Feindes keineswegs von militärischem Tun abgehalten, sondern zieht deren kriegerischen Einsatz ganz selbstverständlich als wichtiges Element in ihre Planungen und Beschaffungsvorhaben mit ein - keine Spur von einem politpsychologischen Effekt, der sie davor zurückscheuen ließe. Sollte das ausgerechnet bei einem als "aggressiv" unterstellten Gegner ganz anders sein?
Eine Strategie mit dem Inhalt und Zweck, den Krieg zu verhindern, ist also ein Widerspruch in sich, dessen die NATO sich noch nie schuldig gemacht hat; deswegen kann von einem Fortschritt von jener guten alten zu einer bösartigen neuen "Kriegsführungsstrategie", auch nicht die Rede sein. NATO-Waffen hatten immer und haben auch heute keinen anderen Zweck als den, eine umfassende Vernichtungsdrohung des westlichen gegen das "sozialistische Lager" "glaubwürdig" zu machen; und solche "Glaubwürdigkeit" ist auch keine psychologische Angelegenheit, sondern verweist auf das einzige praktische Problem der Kriegskunst, die Vernichtungsmittel des Gegners wirksam auszuschalten. Hinfällig geworden ist dieses Problem durch die Errungenschaft atomarer Waffen nicht; und davon, daß es für den Fall eines "Duells" mit Atomraketen unlösbar wäre, sind die westlichen Strategen in ihrem Bemühen, die "Glaubwürdigkeit des westlichen Verteidigungswillens" zu garantieren, nie ausgegangen. Der Fortschritt, der in den Aufrüstungsmaßnahmen der NATO derzeit zu verzeichnen ist, liegt nicht in einem etwa neu gefaßten Willen, den Feind auch atomar besiegen zu können, sondern einzig und allein auf dem Feld der dafür geschaffenen Mittel und Möglichkeiten.
Auf diesem Feld sind daher auch ganz andere Zwecke und Gesichtspunkte ausschlaggebend als ein irrationaler "Selbstlauf der Rüstungstechnologie, ein verbrecherisches Profitstreben der Rüstungsindustrie - die nach Auffassung mancher Kritiker ihrem Auftraggeber gegen dessen Willen immer Neues aufnötigt - oder so anonyme Prinzipien wie der "Rüstungswettlauf" oder die "Rüstungsspirale". Die Rüstungsproduzenten mit ihren Erfindungsabteilungen konkurrieren um ganz fraglose Aufträge ihres Staates; und dabei nehmen sie zwar Maß an den längst ausgekundschafteten Errungenschaften des Gegners - aber nicht, um sich danach zu richten. Nichts lächerlicher als die durch den Titel "Nachrüstung" nahegelegte Vorstellung, nur die "aggressiven" Russen würden mit ihrer "Vorrüstung" der NATO den Zwang antun, nachträglich "gleichzuziehen" - der freie Westen respektiert bei seinen Fortschritten wohl das ritterliche Ideal der Waffengleichheit?! -. Es ist weder Zufall noch eine Sache unterschiedlicher technologischer Intelligenz, daß bisher noch stets die USA die epochemachenden qualitativen Fortschritte in Rüstungsdingen zuwege gebracht haben. Stets ist die NATO-Aufrüstung politischen Maßgaben gefolgt, deren Inhalt dem aufgestellten Gerät ebenso wie seinen ideologischen Rechtfertigungen durchaus zu entnehmen ist.
Denn was ist von der freiheitlich-demokratischen Beschwerde zu halten, die sowjetischen Waffen - etwa die SS 20 - stellten eine wahrhaftige Bedrohung dar? Die Waffe müßte ja erst noch erfunden werden, mit der sich nicht drohen ließe! Welcher Anspruch steckt in dem stereotypen Vorwurf, die Sowjetunion besäße weit mehr Waffen "als zu ihrer Verteidigung nötig"? Werden Politiker gerade erpreßt, wenn sie alle Welt mit der "Befürchtung" bekannt machen, durch eine neue sowjetische Waffengattung - die es längst gibt - würden sie erpreßbar, und gleichzeitig ein Vernichtungsgerät aufstellen, das von westlichen Strategen als "Enthauptungswaffe" gewürdigt wird? Und was mag ein Bündnis wohl vorhaben, dessen Führungsmacht der Sowjetunion in Westeuropa eine zusätzliche Bedrohung bereitet - ähnlich jener sowjetischen Bedrohung der USA von Kuba aus, um deren Vermeidung willen Präsident Kennedy seinerzeit selbst zum Atomkrieg entschlossen war?
2. In ihren Beschwerden über sowjetische "Aggressivität", "Überrüstung", eigene "Erpreßbarkeit" und dergleichen werfen westliche Politiker sehr grundsätzliche Methodenfragen ihrer Politik auf. Da wird kein bestimmtes, inhaltliches und daher begrenztes Anliegen namhaft gemacht, dem ein sowjetisches Interesse und Machtwort im Wege stände - das wäre ja ein kompromißfähiger Konflikt, Stoff für diplomatische Geschäfte, wie es ihn zwischen den anderen Staaten und den NATO-Verbündeten selbst immerzu und mit der Sowjetunion bisweilen auch gibt. Nicht einmal ein bestimmter und begrenzter Anspruch, etwa territorialer Art, der mit Waffengewalt zu entscheiden wäre - wie zum Beispiel der Falkland-Konflikt zwischen Großbritannien und Argentinien -, wird da geltend gemacht. Die entscheidenden Ansprüche an und Vorwürfe gegen die Sowjetunion stehen gewissermaßen unter einem gewaltigen "überhaupt". Deswegen verlaufen Auseinandersetzungen mit der Sowjetunion auch nie "pragmatisch", sondern nach sehr prinzipiellen Gesichtspunkten.
Sich bei der Benutzung und politischen Zurichtung der Staatenwelt überhaupt mit sowjetischer Gewalt und einem darauf beruhenden möglichen Zwang zur Rücksichtnahme auf sowjetische Interessen konfrontiert zu sehen: das stört den Westen an den Russen. Und dieses Sich-Stören ist keineswegs eine bloß ideologische Angelegenheit. Ein Problem ist so etwas nämlich bloß für eine Macht, die sich der Benutzbarkeit der Staatenwelt ansonsten sicher ist; und diese Macht, nämlich die der vereinigten Demokratien des Westens, tut daher auch das Sachgemäße, um sich ihr letztes Hindernis vom Hals zu schaffen:
Die NATO ist gegründet und agiert als Kriegsbündnis - in der keineswegs schwierigen Erkenntnis, daß es die Souveränität ihres Gegners selbst ist, woran sie sich stört, ganz gleich was dieser gerade tatsächlich treibt, und daß die "Neutralisierung" dieses Störungselements einen Angriff auf die sowjetische Souveränität und dies ein Kriegsprogramm darstellt. Nicht erpreßbar sein zu wollen: das ist gleichbedeutend mit dem Willen, der Sowjetunion die Fähigkeit zur Drohung zu nehmen
exakt das, was jeder westliche Staat als das heiligste Recht seiner nationalen Souveränität kennt und hütet. Das Programm einer neuen, besseren, endgültigen Weltfriedensordnung ist damit aufgestellt, das die Ausschaltung des "Störenfrieds" einschließt - kein Wunder und schon gleich keine Abirrung vom NATO-Zweck, wenn die BRD sich dadurch berechtigt sieht, gleich ihre bundesdeutschen Spezialanforderungen an eine revidierte Nachkriegsordnung, den Anspruch auf die "Wiedervereinigung" mit der DDR und den früheren Ostgebieten Preußens, an dieses Programm anzuhängen.
So prinzipiell der westliche Wille ist, sich der sowjetischen Beeinträchtigung kapitalistisch-demokratischer Weltherrschaft zu entledigen, so global ist die Kriegsstrategie ausgelegt, der das westliche Bündnis hierbei folgt. Es ist eben kein Konflikt um begrenzte Besitztümer, den der Westen mit der Sowjetunion auszutragen hat, sondern einer um die Möglichkeit konkreter Konflikte; und deren Ort ist logischerweise die gesamte Erdkugel, nämlich jedes wirkliche oder mögliche Besitztum der anderen Seite. Mit seinen Bündnissystemen versichert sich der Westen daher nicht etwa bloß gegen eine oder für den Fall einer Ausweitung seines Krieges zum Weltkrieg gegen das feindliche Lager, sondern verwandelt vorsorglich die gesamte Staatenwelt zur Front. Die Kategorie des "begrenzten Konflikts", die der demokratischen Öffentlichkeit heute so geläufig ist, zeugt von der Selbstverständlichkeit, daß der Krieg von vornherein ein weltweiter ist. Erstmals in der Weltgeschichte ist der Weltfriede eine Realität, die durch "lokale" Kriege nicht beendet, sondern immerzu "gefährdet" wird: Sein Inhalt ist eben nicht allgemeiner Friede auf Erden, sondern der maßgebliche Weltkonflikt, solange der "Schlagabtausch" der gegnerischen Machtblöcke noch den Charakter "begrenzter", beispielhafter Aktionen hat und noch nicht den der Entscheidungsschlacht - der Weltkrieg in der Phase seiner Vorbereitung.
Mit dieser Weltkriegsstrategie haben die USA im Verein mit ihren Verbündeten ihrer Rüstung das Maß vorgegeben; den Auftrag nämlich, die Überlegenheit der eigenen Gewalt universell zu garantieren. Das adäquate Mittel dafür wurde in der Atombombe gefunden; kombiniert mit einem entsprechenden Transportsystem gibt diese Waffe unmittelbar und unter Garantie weltweit das optimale militärische Ergebnis, die Vernichtung gegnerischer Macht, her. Noch ehe die Atomwaffe dieses Werk vollstrecken konnte, sahen sich ihre Erfinder, die USA, mit einer entsprechenden Gegendrohung der Sowjetunion konfrontiert. Seither kalkulieren sie den Welt- als Atomkrieg; der sieht allerdings etwas anders aus als jenes alles verwüstende Raketenduell, das gutgläubige Staatsbürger in Ost und West sich als so unvorstellbar vorstellen, daß sie sich davor sicher wähnen und sich höchstens vor seiner "Auslösung" "aus Versehen" oder aus "Irrsinn" fürchten. Leider beweist der Zweifel an den Erfolgen einer Strategie, den man zum Trost ausbaut, wenig Kenntnis vom grundlegenden Zynismus des Kriegshandwerks nicht nur unserer Tage. Eher deutet er auf eine Moral, die selbst die als Opfer Vorgesehenen bei den Strategen nicht missen wollen.
Die NATO-Strategie hat in der "Option" auf einen "letzten" atomaren Schlag (und Gegenschlag) jedenfalls kein Hindernis, sondern die Freiheit entdeckt, sich um so unbefangener und souveräner aller anderen - "konventionellen" - Formen und Methoden kriegerischer Gewalt zu bedienen. Seit Sieg und Niederlage in letzter Instanz vom "konventionellen" Kriegsglück nicht mehr abhängen, beim wechselseitigen Beschuß mit Atomraketen aber nur noch schwer auseinanderzuhalten sind, plant das westliche Bündnis um so zielstrebiger weltweite "Kriegsszenarios", in denen es seinem Feind die Alternative zwischen Kapitulation und dem "letzten Duell" aufzwingt. Kriegsbastionen in aller Welt sind durch die interkontinentalen Waffenträger keineswegs überflüssig geworden, sondern unter strategischen Gesichtspunkten aufgewertet: Sie garantieren nicht mehr bloß die Präsenz militärischer Macht in einem Erdenwinkel, sondern sind darauf berechnet, dem Feind die "letzte" Entscheidung aufzwingen zu helfen.
Und unter allen Bastionen der "freien Welt" spielt - hinter den USA selbst - Westeuropa die wichtigste Rolle.
3. Daß es bei dem NATO-Beschluß, in Westeuropa amerikanische Mittelstreckenraketen aufzustellen, um nichts als ein Atomwaffen-"Gleichgewicht" ginge, gehört zu der Sorte ideologischer Milchmädchenrechnungen, die auf einen staatsbürgerlichen Willen bauen, sich täuschen zu lassen. Als "Ausgleich" gegen einige Dutzend moderner sowjetischer Raketen beschlossen, sollen die 108 Pershing II und 576 Cruise Missiles heute angeblich 300 SS 20 "neutralisieren"; entbehrlich sollen sie nur sein, wenn die Sowjetunion alles, auch die Vorgängermodelle der SS 20 abräumt, also mit weniger atomaren Mittelstreckenwaffen dasteht als in den Zeiten vor dem offiziellen "Nachrüstungs"-Beschluß. "Eurostrategisch" soll das "Gleichgewicht" sein; deswegen sollen die SS 20 aber auch nicht in den asiatischen Teilen der Sowjetunion stationiert sein dürfen. Die frontnahen Bombergeschwader der USA sollen unter "Gleichgewichts"-Gesichtspunkten mit den feindlichen Raketen ganz unvergleichbar sein, auf Sizilien stationierte "Marschflugkörper" mit der Geschwindigkeit eines Reiseflugzeugs aber so ziemlich dasselbe ...
Wer Bescheid wissen will, der kann sich außerdem längst problemlos darüber informiert haben, daß der "Nachrüstungs"-Beschluß schon Jahre vor der angeblichen "Vorrüstung" der Sowjetunion eingeleitet worden ist. Amerikanische Fachleute geben unbefangen bekannt, daß sie sich von einer US-Raketenwaffe in Europa ganz andere Dinge versprechen als eine "Neutralisierung" der SS 20 - was immer man sich darunter vorstellen mag -, und kritisieren sogar die propagandistische Gleichsetzung beider Arsenale, weil dies die Möglichkeit suggeriere, im Falle sowjetischer Abrüstung (mit dem dank entsprechender westlicher Verhandlungsführung allerdings nicht zu rechnen ist) doch auf das eigene Arsenal zu verzichten. In der Tat ist ja auch schwerlich eine Einsatzplanung für die Pershings und Cruise Missiles denkbar, in der diese die Rolle eines "Gegengewichts" oder einer , .Antwort" gegen die SS 20 spielen könnten - angeblich sollen sie ja noch nicht einmal deren Startplätze erreichen können, und um Flugabwehrgeschosse handelt es sich schon gleich nicht. Es ist also eine ganz eigenständig kalkulierte, von keiner speziellen Waffe des Gegners abhängig gemachte Vernichtungsdrohung gegen das europäische Kernland der Sowjetunion, die die NATO sich per "Nachrüstung" verschafft - wie ja auch die SS 20 zu nichts Ähnlichem auf westeuropäischem das "Gegengewicht" ist, sondern der Roten Armee eine zusätzliche "Option" in der Behauptung gegen das gigantische Machtpotential an die Hand geben soll, das auf dem westeuropäischen NATO-Gelände bereits konzentriert ist und weiter aufgebaut wird.
Über die Eigenart der kriegerischen "Option", die die NATO sich mit ihrer eurostrategischen Aufrüstung verschaffen will, sind - neben den offiziellen, dummdreist unglaubwürdigen defensiven Sprachregelungen - allerlei Mutmaßungen im Umlauf, die nicht weniger ideologisch sind. Da wird mit größter moralischer Bedenklichkeit diskutiert, ob es sich bei der Pershing II nicht um eine "typische Erstschlagwaffe" handle - so als wäre nicht jede Waffe je perfekter, um so wirksamer auch gegen gegnerische Waffen einsetzbar; und das ist schon der ganze militärische Gehalt der ominösen "Strategie" des "ersten Schlages". Aus der speziellen Eignung der neuen Raketen, in Minutenschnelle punktgenaue Vernichtungsschläge zu führen, die nicht gleich ganze Landstriche verwüsten, folgern besorgte Amateure und einzelne Profis des Kriegshandwerks, damit wäre der erstmalige Übergang zu einer Strategie der Atomkriegsführung gemacht - noch nie ist die NATO-Ideologie der "Abschreckung" durch "bloß politische" Atomwaffen so wörtlich geglaubt worden wie ausgerechnet von den Kritikern der "Nachrüstung". Daß der ,Reiz' eurostrategischer Waffen in der Möglichkeit liegt, der Sowjetunion das letzte vernichtende "Duell" doppelt "anbieten" zu können - neben dem interkontinentalen "Schlagabtausch" noch einmal innerhalb Europas -, wird durchaus .entdeckt', aber fast ausschließlich unter einem pur nationalistischen Gesichtspunkt kritisiert:
Statt auf die Vorhaben der NATO aufmerksam zu werden, ist der Argwohn wachgeworden, die USA würden sich Europa zum atomaren Kriegsschauplatz herrichten, um der Sowjetunion ohne eigenes Risiko den Garaus machen zu können. Es zeugt von der Hilflosigkeit sowjetischer Diplomatie und Propaganda, wenn dieses Mißtrauen von östlichen Kommentatoren bestärkt - und gleichzeitig von der Regierung in Moskau klargestellt wird, sie dächte überhaupt nicht daran, im Falle eines Atomkriegs ihre Interkontinentalraketen im Silo zu lassen. Vor allem aber zeugt es von der patriotischen Borniertheit der bundesdeutschen Opposition, wenn deren gesamte Kritik am NATO-Kurs sich auf die mißtrauische Sorge beruft, also auch auf sie zusammenkürzt, aufs heimatliche Gelände würde im Ernstfall weniger Rücksicht genommen als auf das der NATO-Partner.
Dieses Bedenken kann getröstet werden. Als Schauplatz für den atomaren Weltkrieg sieht die NATO den gesamten Globus vor; um die Sowjetunion zu besiegen, reicht eine europäische Front heute noch weniger als in den beiden ersten Weltkriegen. Und dabei ist Westeuropa nicht als Areal zum Verpulvern möglichst vieler atomarer Sprengköpfe abgeschrieben, sondern für den Auftrag eingeplant und ausgerüstet, die gegnerischen Machtmittel vernichten zu helfen, so daß die sowjetische Regierung vor der Wahl zwischen Kapitulation und dem "letzten Gefecht" mit allen ihren Atomraketen steht. Daß es hierfür auch im amerikanischen Interesse Europa noch so lange wie möglich geben muß, versteht sich von selbst. Mit den neuen US-Mittelstreckenraketen wird Europa erst recht nicht zum Opfer der NATO-Strategie ab-, sondern in genau dem Maße zu einer mit den USA fast gleichrangigen Kriegsbastion aufgewertet, wie die regierenden Patrioten der BRD, die sozialliberalen am nachdrücklichsten und erfolgreichsten, immer gefordert haben. Denn nun steht demnächst diesseits des Atlantik eine sachgerecht verkleinerte Zweitausgabe des strategischen Vernichtungspotentials der USA: genug, um die letzte Alternative des Atomkriegs wahr zu machen. Sicher, für die Eingeborenen keine erbauliche Aussicht; aber seit wann würden denn Kriege geführt, um die "Zivilbevölkerung" zu schonen? Gesichert, gewissermaßen "gehärtet"/ werden durch das neue Gerät nicht Mensch und Vieh, Städte und Wälder, sondern Truppen und Waffen. Die Bundeswehr und ihre Waffenbrüder werden mit der Sicherheit ausgestattet, daß sie auf gar keinen Fall geopfert werden, um dem letzten Entscheidungsschlag auszuweichen, sondern daß mit ihrem Einsatz die letzte Entscheidung ansteht - so oder so. Endlich herrscht die seit Adenauer geforderte gleiche Sicherheit für alle NATO-Staaten:
Es ist garantiert, daß jeder europäische Krieg gleich als Atomkrieg stattfindet - und das heißt nicht, daß sofort die Atombomben fallen, sondern bedeutet, daß die NATO nur eine Alternative kennt, nämlich Sieg oder Eskalation bis zum äußersten. So kann der "konventionelle" Krieg in Europa endlich in der zuverlässigen Gewißheit geführt werden, daß im schlimmsten Fall das Potential zur strategischen Vernichtung der europäischen Sowjetunion ins Spiel kommt: Jede "konventionelle" Granate steht unter dem "Schutz" des strategischen Duells und nimmt es quasi vorweg. Umgekehrt wird damit nichts vom "konventionellen" Potential der NATO überflüssig; im Gegenteil. Die atomare "Garantie" für jede andere Schlacht soll und darf keinen Automatismus der Ausweitung bedeuten; das Potential für einen eurostrategischen Endsieg wird beschafft, um die Freiheit zu seinem Einsatz zu benutzen. Für diese Freiheit kommt alles auf die Überlegenheit in sämtlichen anderen "Kriegsszenarios" und auf allen unteren Eskalationsstufen an; nur so taugt ein "konventionell" und mit taktischen Atomwaffen gerüstetes Militär als eurostrategisch abgesichertes Instrument in einem atomaren Weltkrieg. Das ist der Anspruch, dem der Erfindungssgeist der kapitalistischen Rüstungsindustrie mit einer Flut von Neuentwicklungen nachzukommen sucht: Tornados mit "intelligenten" Bomben, Panzer mit einer "mitdenkenden" Kanone, "herkömmliche" Munition von atombombenähnlicher Wucht, Neutronengranaten und dergleichen sind die logische Ergänzung zum Aufbau einer strategischen Atomraketenstreitmacht an der Westgrenze des "sozialistischen Lagers", sichern nämlich ihrerseits die Freiheit der Kalkulation mit deren Einsatz. Mit der. SS 20, zu der Pershing II und Cruise Missiles das "Gegengewicht" darstellen sollen, hat die "Nachrüstung" somit in einem ganz anderen Sinn zu tun: Berechnet waren die sowjetischen Mittelstreckenraketen darauf, die mit Gewaltmitteln vollgestopften Vorposten des Westens zu bedrohen - "Vorposten" in dem Sinn, daß sie nicht das Gelände sind, von dem aus und gegen das das "äußerste" strategische Gefecht geführt wird. Dieser Unterschied im strategischen Gewicht von amerikanischem und westeuropäischem, vor allem westdeutschem Staatsgebiet wird durch die neuen Waffen aufgehoben - und damit der Sowjetunion eine ganz neue Kalkulation mit ihren Mittelstreckenraketen aufgezwungen, nämlich unter dem Gesichtspunkt eines vernichtenden Duells. Daß die Sowjetunion die Null-Forderung überhaupt für verhandlungswürdig hält, legt die Vermutung nahe, daß sie durch diese Aufwertung Westeuropas vom Vorposten zur Hauptbastion Nr. 2 ihr bisheriges Potential nahezu entwertet sieht.
4. Geht es nach herrschender westlicher Meinung, dann wird der Kriegswille der NATO, der sich an Maßstäben wie Entscheidungen ihrer Aufrüstung ablesen läßt, durch die immer noch laufenden Verhandlungen in Genf dementiert.
Das nimmt schon deshalb wunder, weil noch nicht einmal den dafür geläufigen Beruhigungsargumenten und öffentlich geförderten Hoffnungen auf ein Verhandlungsergebnis eine besondere Zuversicht in den unbedingten Friedenswillen der eigenen Herrschaften zu entnehmen ist. "Solange verhandelt wird, wird immerhin nicht geschossen", lautet da ein Argument; und heißt das nicht, daß ohne gegnerisches Einlenken der Westen für sich ganz unmöglich Friedensgarantien abgeben kann? Gehören zum "Schießen", das bei einem Scheitern der Verhandlungen näherrücken soll, denn nicht immer noch zwei? Und was soll man davon halten, daß nirgends versprochen und erwartet wird, ein wie immer geartetes Ergebnis bezüglich der beiderseitigen Raketenstationierung könne die einmal erklärte Kriegsträchtigkeit des unterstellten Gegensatzes zum Verschwinden bringen? Statt dessen darf man sich für den Fall ergebnisloser Verhandlungen vorstellen, daß die Rüstung dann "ungehemmt" weitergeht. Hat sich diese Befürchtung nicht schon längst auf die Entschlossenheit der NATO eingestellt, ihre weltweite Atomkriegsplanung entscheidend, nämlich in Richtung auf eine Entscheidung voranzutreiben?
Daß es in den Genfer Verhandlungen nur zum Schein um die sowjetischen Mittelstreckenraketen und ein diplomatisches Geschäft "Raketenabbau gegen Rüstungsverzicht" geht, wird in der demokratischen Weltöffentlichkeit als offenes Geheimnis gehandelt. Zwar wird offiziell ganz ungerührt der Idealismus eines "Waffengleichgewichts auf niedrigerem Niveau" aufrechterhalten und jedes amerikanische "Angebot", es kann beinhalten, was es will, als Kompromißformel und Dokument des zähcsten Einigungswillens ausgegeben. Gleichzeitig werden aber ebenso ungerührt die Klarstellungen des US-Präsidenten über den propagandistischen Charakter seiner Vorschläge bekanntgemacht, und jedermann weiß, daß die westlichen Verhandlungs-"Angebote" in Abrüstungsforderungen an die Sowjetunion bestehen, mit deren Erfüllung kein westlicher Politiker ernsthaft rechnet. Wäre es den NATO-Führem um eine Minderung der "russischen Gefahr" zu tun, was hätte sie dann davon abhalten können, sofort zuzugreifen, als ihnen die Verschrottung der SS 20 bis auf eine den französischen und britischen Mittelstreckenraketen entsprechende Anzahl angeboten wurde? Wären sie dann nicht schon im Herbst '81 auf Breschnews Vorschlag eines Raketenaufstellungs-"Moratoriums" eingegangen? Stattdessen werden alle sowjetischen Kompromißangebote in wechselnder Tonlage, aber stereotyp zurückgewiesen: 'mal als "Schritt in die richtige Richtung", der aber noch längst nicht ausreiche, dann wieder als besonders bösartiger Anschlag auf die "Einheit des Westens". Grundlage und Ausgangspunkt dieser Verhandlungen ist eben nicht mehr - wie bei den SALT-Verhandlungen - die Sorge vor der Unberechenbarkeit der gegnerischen Rüstung und die Bereitschaft, sich eine gewisse Kontrolle darüber auch ein paar eigene Zugeständnisse kosten zu lassen; nicht umsonst hat die Reagan-Regierung diese Kompromißdiplomatie als Politik der Schwäche verteufelt und mit Nachdruck aufgekündigt. Dennoch sind die Genfer Verhandlungen selber kein bloßes Scheinmanöver des Westens, womöglich bloß zu Propagandazwecken. Das wird dort ja immerhin diplomatisch klar- und insofern als politisches Faktum hergestellt, daß die NATO eine auch nur mögliche Gefährdung ihrer Politik, einen Zwang zur Rücksichtnahme auf sowjetische Interessen nicht mehr dulden will. Das westliche Null-Lösungs-"Angebot", die Forderung an die Sowjetunion, sich ihrer besten Sicherheit gegen die "Vorposten" der gegnerischen Weltmacht zu entledigen, ist weder auf einen Kompromiß berechnet, noch setzt die westliche Politik auf ihre Erfüllung. Deswegen ist sie aber nicht etwa bloß ein Betrugsmanöver, sondern der diplomatische Kunstgriff, alle "Ost-West-Politik" fortan unter den Anspruch zu stellen, die Sowjetunion dürfe in keiner Weise ein Hindernis westlicher Weltherrschaft mehr sein und deswegen auch nicht mehr sein können. Die Souveränität des gegnerischen Blocks selbst wird an einem seiner wesentlichen Machtmittel zur Debatte gestellt, so wie es dem globalen und prinzipiellen Herrschaftsanspruch der verbündeten kapitalistischen Demokratien entspricht, und mit den Mitteln und Methoden, die der Westen sich mit jener "Doppelstrategie" der Bedrohung und des formellen Einvernehmens verschafft hat, die heute "Entspannungspolitik" heißt. Daß dieser Anspruch kein leerer Wunsch ist, liegt an der Entschlossenheit der NATO-Mächte, sich durch den Ausbau ihrer Kriegsbastionen in den Stand zu versetzen, die weltpolitische Nachgiebigkeit der Sowjetunion, nach eigenem Ermessen zu erzwingen. Der Durchschlagskraft ihrer geplanten Aufrüstung waren diese Staaten sich von Anfang an so sicher, daß sie den Bewaffnungsbeschluß sogar noch vor seiner Realisierung auf seine - -diplomatisch als Verhandlungsangebot formulierte - politische Quintessenz gebracht und ihren Gegner damit konfrontiert haben. Es ist, als setzte die NATO-Diplomatie darauf, der Sowjetunion totale Nachgiebigkeit, die Zustimmung zu einem westlichen Monopol auf Weltpolitik und die entsprechenden Gewaltmittel, also nichts Geringeres als die Kapitulation in der weltpolitischen Konkurrenz friedlich abzuhandeln. Wenn irgendetwas, dann ist das das Fiktive an den Genfer Gesprächen. Denn daß ein neues Weltkriegsergebnis sich am Verhandlungstisch durchsetzen ließe, dürften die Politiker am wenigsten glauben, die so gern bekanntgeben, Kommunisten verstünden nur "die Sprache der Gewalt" ...
Wer Raketen so zählt wie der Westen, der hat mit seiner "Erpreßbarkeit" kein Problem. Wer dem Gegner neue Waffen vorsetzt, die auf dessen Entwaffnung berechnet sind, der dringt auf die Kapitulation seines Feindes in der weltpolitischen Konkurrenz. Wer schließlich sein Ultimatum als Verhandlungsergebnis festlegt und seine Bereitschaft zu solchen Verhandlungen als Mäßigung anerkannt sehen will, der ist zu allem entschlossen. Den Westen quält beim Rüsten nicht die Furcht vor einer "Vernichtung der Menschheit". Seine Sorge gilt dem Sieg.