Einwände gegen und
Verbesserungsvorschläge für das Editorial »Es war einmal« von Hermann L.
Gremliza in KONKRET 10/92
Harald
Kuhn
Der Ärger über die Deutschen,
die das Anzünden von Ausländern zum Volkssport entwickeln und die dabei auf
eine erstaunlich tolerante Staatsgewalt sowie auf das Verständnis all derer
rechnen können, die Ausländer für ein Problem halten, ist begreiflich. Gerade
deswegen kommt es auf eine korrekte Erklärung an, die Gremliza leider nicht
gibt. Statt dessen zeichnet er das Charakterbild eines Volkes, das gegenüber
Ausländern immer schon eine unerbittliche Abneigung empfunden und sich über
die letzten Jahrzehnte soweit saturiert hat, daß es von Tätlichkeiten gegen
Ausländer eine Zeitlang absehen konnte, das nun aber, da es seine Besitzstände
gefährdet sieht, wieder auf seine alten, quasi naturgegebenen Unarten verfällt.
Die Kumpanei zwischen oben und unten erledigt Gremliza mit dem Satz: »Und wie
die Gesellschaft so ihr Staat.« Der Staat betreibe eine ausländerfeindliche
Politik, weil »anständige deutsche Bürger« den Steinewerfern Beifall
zollten; er lasse seine Gesellschaftsmitglieder beim Ausleben ihrer
Charakterschwäche gewähren, was angeblich schon mal der Fall war, damals im
Faschismus. So kommt Gremliza schließlich zu seiner Lagebestimmung: »Anfang
vom Ende der zweiten deutschen Republik.«
Diese Erklärung leidet erstens
an einem untauglichen Vergleich und zweitens an einer Verwechslung von Ursache
und Wirkung. Zum ersten: Mit Blick auf schon mal Dagewesenes den »Anfang vom
Ende der zweiten deutschen Republik« auszurufen, könnte Gremliza getrost
denjenigen überlassen, denen die Bundesrepublik derart ans Herz gewachsen ist,
daß sie sich ernsthaft um ihren Bestand sorgen. Die Sache ist jedoch nicht nur
eine Geschmacksfrage. Immerhin behauptet Gremliza mit seiner Mahnung auch etwas,
und zwar etwas Verkehrtes: daß das, was gegen Ausländer von unten und von oben
derzeit unternommen wird, gegen die Absichten und Vorhaben dieser »zweiten
deutschen Republik« verstoße. Sonderlich logisch ist das nicht: Was diese
Republik treibt, das wird schon in ihren Anliegen seinen Grund haben, und wenn
sie ihre Ausländer so schlecht behandelt, daß sich manch einer an alte Zeiten
erinnert fühlt, dann ist das eben aus ihren Absichten zu erklären.
Wenn die Bundesrepublik den
Elenden anderer Länder, die bei ihr um ein Bleiberecht nachsuchen, dieses
prinzipiell versagt, sie außer Landes expediert bzw. dafür sorgt, daß sie gar
nicht erst reinkommen, exekutiert sie an ihnen den Befund, daß sie Ausländer
sind. Ausländer, so will es dieser Staat per Recht und Gesetz, haben in der BRD
kein Bleiberecht. Es bedarf besonderer Gründe, damit der Staat Ausnahmen zuläßt
und Ausländern ein Aufenthaltsrecht einräumt. Diese sind ebenfalls gesetzlich
geregelt und betreffen deren Brauchbarkeit — als zusätzliches Arbeitskräftepotential
für die nationale Wirtschaft und als Material der politischen Konkurrenz. Sich
nützlich zu machen, liegt allerdings überhaupt nicht in ihrer Hand. Ob sie
brauchbar sind, darüber entscheiden die ökonomischen und politischen
Konjunkturen. Und derzeit sind es eben zuviele — gemessen an den Maßstäben,
die der Staat in Kraft setzt. An diesen Maßstäben zu scheitern, ist allerdings
keine Besonderheit von Ausländern. Auch ein paar Millionen arbeitslose Deutsche
machen derzeit ihre Erfahrung mit dem kapitalistischen Prinzip, nach dem einen
Lebensunterhalt nur der verdient, dessen Dienste gefragt sind. Der Unterschied
liegt vielmehr darin, wie der Staat die für überflüssig Erklärten behandelt.
Volksgenossen bereitet er den Abstieg zum Sozialfall, der sich als Mitglied der
Arbeitskräftereserve bereithalten darf. Ausländern verwehrt er auch diese
Karriere. Mit ihrem Beharren darauf, daß Ausländer und Inländer eine
unterschiedliche Behandlung verdienen, praktiziert die deutsche Demokratie ihren
Rassismus.
Anders als es die moralische
Vorstellung will, nach der die kleine BRD mit ihren notorisch guten, caritativen
Absichten durch das Übermaß des auf sie zudrängenden weltweiten Elends überfordert
ist, erklärt sich die Dringlichkeit, mit der die BRD derzeit ein
Asylantenproblem entdeckt und seine »Lösung« betreibt, aus der Masse einer
weltweiten Überbevölkerung, deren Zustandekommen Deutschland maßgeblich fördert.
Nicht zuletzt die Interessen, die diese Exportweltmeister- und
Waffenschiebernation unter dem Schutz des Gewaltmonopols der imperialistischen
Staaten auf dem ganzen Globus verfolgt, sorgen dafür, daß das Überleben für
beträchtliche Teile der Weltbevölkerung zunehmend in Frage gestellt ist. Mit
diesem Elend will sie nichts zu tun haben. Sie will es von ihren Grenzen
fernhalten und in jenen Weltgegenden territorialisieren, in denen es anfällt.
Das ist ihre Ausländerpolitik.
Das alles könnte gut auch
Gremliza zur Kenntnis nehmen — es erklärt nämlich manches von dem, was ihm
als »Entwicklung zum Faschistischen« aufstößt. Er tut es nicht, weil er
einen Vergleich anstellt, mit dem er in der Bundesrepublik immerzu nicht diese
entdeckt, sondern den alten Faschismus, den er ihr unbedingt entgegenhalten
will. Warum eigentlich? Gremliza läßt doch selbst kein gutes Haar an den Taten
der Bundesrepublik. Wieso will er mit seinem Faschismusvergleich diesem
demokratischen Musterland unbedingt die Ehre antun, es wäre eigentlich und
irgendwie doch was besseres als das, was es ins Werk setzt? Ist ein ganz
abstrakter, durch nichts zu rechtfertigender Glaube an das Gute der Demokratie
nicht — sagen wir mal — überflüssig? Oder glaubt er wirklich, in der vom
Bundespräsidenten geübten Tradition deutscher Vergangenheitsbewältigung ließe
sich ausgerechnet linke Kritik an der Bundesrepublik gut unter die Leute
bringen?
Zum zweiten: Klagen über ein
Nachgeben des Staates gegenüber einer ausländerfeindlichen Volksgesinnung und
ihrer Praxis müßten auch nicht unbedingt sein. So erstrebenswert ist sie nämlich
auch nicht, die geistige Gesellschaft von Weizsäcker und ähnlichen, die die
Durchsetzung des staatlichen Gewaltmonopols als größtmögliche soziale Wohltat
anpreisen — womöglich noch denselben Ausländern, die sie gerade per
Staatsgewalt außer Landes schaffen wollen. Aber auch das ist nicht bloß eine
Frage des Geschmacks. Es ist nämlich nicht zu übersehen, daß die von Skins
und anderen nationalistischen Gesinnungstätern praktizierte Ausländerfeindlichkeit
und die entschiedene Zustimmung, die Anschläge auf Flüchtlingsheime und Ausländer
bei der Bevölkerung finden, den Staat gar nicht zum Nachgeben zwingen, sondern
im Gegenteil ein Produkt dieses Staates und seiner Politik sind. Das fängt
schon damit an, daß niemand anderes als dieser Staat die Unterscheidung
zwischen Aus- und Inländern setzt und dann auch durchsetzt — er behandelt sie
anders. Das geht weiter damit, daß sich dieser Staat zu einer andren Ausländerpolitik
entschlossen und alle Hände voll damit zu tun hat, diese in die passende
rechtliche Form zu gießen. Das setzt sich fort damit, daß er sich dabei
rechtfertigend auf Volkes Stimme beruft. Und endet damit, daß sich
Volksgenossen, die sowieso nichts auf ihre Nation kommen lassen, aufgerufen
sehen, tätig zu werden.
Daß die Politik des Staates
die Ausländerfeindlichkeit des Volkes provoziert, ist übrigens ein Gedanke,
den Gremliza gelegentlich selbst den politischen Vertretern dieses Landes um die
Ohren haut. Wieso bleibt er nicht bei diesem Gedanken? Die gegenteilige
Behauptung, die er unbedingt auch noch loswerden will, ist nämlich gar nicht so
gelungen. Wenn er die Ausschreitungen gegen Ausländer und womöglich noch die
Ausländerpolitik des Staates aus der ausländerfeindlichen Einstellung der
Gesellschaft erklärt, läßt er das Entscheidende einfach weg: den Gegenstand nämlich,
auf den sich diese Einstellung bezieht: die durch den Staat getroffene,
politische Scheidung der Aus- von den Inländern. Wird dann aus dieser
entpolitisierten Volkspsychologie die staatliche Politik abgeleitet, ist die
Verwechslung von Ursache und Wirkung perfekt. Wie im Sozialkundebuch wird die
Politik des demokratischen Staates als Ausfluß der innersten Volksbedürfnisse
erläutert; nur eben nicht in affirmativer Absicht. Die kritische Absicht bleibt
jedoch dabei auf der Strecke: Linke wie Gremliza, die sich herausgefordert
sehen, etwas gegen den Nationalismus einzuwenden, kommen — weil sie ihn als
reine Einstellungsfrage betrachten — einfach nicht dazu, etwas gegen die
Zwecke der Nation zu sagen, denen diese Einstellung gilt.
Statt dessen wird eine
politische Kritik betrieben, als ginge es darum, schlechtes Benehmen zu geißeln.
Der Versuch, Ausländerfeindlichkeit aus »materieller Gier« (»Zweitwagen und
Dritturlaub«) zu erklären, die an ihre Grenzen stößt, geht schief.
Materialismus und Nationalismus lassen sich nämlich auch dann noch
unterscheiden, wenn jedem dahergelaufenen Politiker und selbst noch dem letzten
Volksgenossen einleuchtet, daß soziale Notlagen zu Exzessen gegen Ausländer führen.
Schließlich sind Nationalisten — die von oben wie die von unten — auf
soziale Ansprüche im allgemeinen gar nicht gut zu sprechen. Ihnen kommen ja
auch in diesem Fall die sozialen Ansprüche nur in den Sinn, weil sie als
Argument anerkannt sind, mit dem man Ausländer berechtigterweise unerträglich
finden darf; auf ihrer Erfüllung besteht schließlich niemand. Daß ein Linker
der öffentlichen Hetze, die Ausländer für Wohnungsnot und Arbeitslosigkeit
verantwortlich macht, nichts anderes entgegenzusetzen weiß als die moralische
Abwehr von sozialen Ansprüchen, ist eher traurig. Er bestätigt damit nämlich
das Argument, mit dem die Gegenseite ihre Hetze begründet: daß Ausländer auf
Kosten anderer leben und deswegen nur um den Preis materieller Opfer ausgehalten
werden können.
Deswegen bleibt am Ende nur die
moralische Beschimpfung: Gremliza vermißt bei den Deutschen Toleranz — jene
Tugend, die darauf beruht, daß man sein Gegenüber erst einmal ziemlich unerträglich
findet. Und er hält dies für den moralischen Makel eines nationalen
Kollektivs, das eben so ist und immer schon so war — so hilflos steht er
letztlich der Ausländerfeindlichkeit gegenüber, daß ihm gegen sie nichts als
ein selber rassistisches Charakterurteil einfällt.
Der langen Rede kurzer Sinn:
Wenn Demokraten und ihre gelehrigen Banden auf Ausländer losgehen, dann ist die
Erinnerung an den Faschismus völlig fehl am Platz. Selbst wenn es nie einen
Faschismus gegeben hätte, selbst wenn Gremliza von den Untaten dieser
Sternstunden des deutschen Nationalismus nicht in Kenntnis gesetzt worden wäre,
wäre doch eines ganz sicher — die Kritik am praktizierten Rassismus der
deutschen Nation. Und die wird nicht aufgewertet oder treffender durch den
Vergleich mit den Nazis, sondern entwertet. Der moralische Vorschlaghammer —
»Wie unter Hitler!« — verfährt nämlich zu wohlwollend mit den
demokratischen Nationalisten unserer Tage. Er zielt auf das gar nicht belegbare
Bedürfnis unserer Demokraten, sich auf jeden Fall von Faschisten wohltuend zu
unterscheiden. In einer Zeit, wo pfeiferauchende Demokraten dasselbe tun wollen
wie Faschisten, nur damit es nicht die tun.
Harald
Kuhn ist Mitautor der politischen Vierteljahreszeitschrift »Gegenstandpunkt«
Hermann
L. Gremliza
Fußnote
zu Kuhn
Die »Einwände und
Verbesserungsvorschläge« enthalten so viele nachdenkliche Sätze (und manche,
fuhrKarl Kraus fort, die mir nachgedacht sind), daß der langen Rede kurzer
Unsinn erst auf den zweiten Blick erscheint. Es geht um die Rettung der
deutschen Ehre durch Klassenanalyse: Was in dieser Zeit in diesem Land
geschieht, könnte nämlich zu jeder Zeit in jedem vergleichbaren Land
geschehen. Wer das bezweifelt, weil er sich und andere daran erinnert, daß die
Deutschen schon einmal zu ganz anderem fähig waren als ihre Nachbarn, fällt »rassistische
Charakterurteile« und ist selber ein Rassist.
Radikal anders als Wilhelm II.,
der, als er den Deutschen einen Platz an der Sonne beschaffen wollte, keine
Parteien mehr kannte, sondern nur noch Deutsche, kennt der vaterländische
Geselle Kuhn keine Deutschen mehr, sondern nur noch Parteien: unterdrücktes »Volk«
unterschiedlicher Herkunft einer- und eine imperialistische Staatspolitik
andererseits. Was das deutsche Volk in Hünxe, Rostock und Sachsenhausen tut,
tut es nur, weil »die Politik des Staates« es dazu »provoziert«. Daß das
Volk seine ungewollten Pogrome mit seiner schlechten sozialen Lage rechtfertigt,
darf man ihm nicht übelnehmen, schon gar nicht als Linker, der »soziale Ansprüche«
bedingungslos zu achten hat. Damit aber am »provozierten« Volk nicht doch noch
etwas hängenbleibt, werden die Leute, von denen es sich anstecken ließ, post
festum keimfrei gemacht: Politiker dieser Republik seien und blieben auch und
gerade dann ganz normale Demokraten, wenn sie »dasselbe tun wollen wie
Faschisten«. Was wir in Hünxe, Rostock und Sachsenhausen erlebt haben, das ist
er halt, der demokratische Imperialismus. »Die Erinnerung an den Faschismus ist
völlig fehl am Platz«, und erst recht die an seine deutsche Variante, die
deshalb nicht einmal beim Namen genannt wird.
Wer nur behauptet, daß die
Politik des Staates den unnützen Ausländer zum Volksfeind erklärt und Pogrome
provoziert, aber »die gegenteilige Behauptung«, daß der Rassenhaß der
Deutschen eine besondere sozio- und psychogenetische Geschichte hat, verschweigt
oder als »nicht so gelungen« bestreitet, entschuldigt den Mob und entwaffnet
die Kritik. Der deutsche Rassismus wird ihm zu einem jener sagenhaften
Nebenwidersprüche, die mit dem Sieg über den demokratischen Imperialismus von
selber verschwinden werden. Stünde es Spitz auf Knopf zwischen Imperialismus
und Revolution, könnte man das ja abwarten. Weil aber, wie Georg Fülberth
schrieb, nur noch die Wahl steht zwischen einer deutschnationalen Variante des
Imperialismus und einer eher »internationalistischen«, europäisch oder
atlantisch geprägten, ist nichts so sehr am Platz wie die Wahrnehmung der
Unterschiede zwischen ihnen und die Erinnerung, daß die Differenz zwischen der
deutschen Variante des Imperialismus und der anderen einmal 60 Millionen
Menschenleben ausgemacht hat.