Karl Held
Buch des Monats: Diplomatie der verlogensten Form
Michail S. Gorbatschow: Gipfelgespräche. Geheime Protokolle aus meiner Amtszeit. Rowohlt
Verlag Berlin, 1993, 352 Seiten, 36 Mark
»Geheime Protokolle aus meiner Amtszeit« - verspricht der Untertitel und verheißt
den Sitz in der ersten Reihe, direkt am Schlüsselloch, durch das man in die Weltpolitik
linst. Die wurde ein ganzes Jahrfünft von einem Herrn Gorbatschow maßgeblich
mitgestaltet, woraus eben dieser Politiker die Pflicht ableitet, seine
»Gipfelgespräche« schleunigst der Öffentlichkeit, der schwarz-rot-goldenen zumal,
vorzulegen. Damit das Publikum die gewichtigen diplomatischen Leistungen nicht
mißversteht und an gewissen Formalitäten des internationalen Dialogs keinen Anstoß
nimmt, beugt der Autor vor. Er rahmt die Zeugnisse seiner Regierungs- und
Verhandlungskunst - »Ich denke, wir haben ein nützliches Gespräch geführt«, »Ich
freue mich außerordentlich, daß wir dieses Gespräch geführt haben...« - durch eine
persönliche Würdigung der eigenen Leistungen ein. Sein Werk und er selbst geraten da zum
historischen Großereignis; dessen Bedeutung steigt proportional mit der Bereitschaft des
Autors, seine Taten ums Verrecken nicht daran zu messen, was er angerichtet hat. Der Mann
ist schlicht stolz darauf, mit seinem »neuen Denken« die Staatsraison des »realen
Sozialismus«, das System, das er »Stalinismus« und »Post-Stalinismus« nennt,
weggeputzt zu haben. Was er hervorgebracht hat mit seiner Tätigkeit, die schließlich
eine Staatsmacht größeren Kalibers beseitigt hat, verbucht er als eine Ansammlung
tragischer Folgen, die er bescheiden anderen in die Schuhe schiebt und mit seinem Aufbruch
einfach nicht in Verbindung bringt. Er bedauert den mörderischen Nationalismus der
ehemaligen Sowjetrepubliken zutiefst und liefert ein Sittenbild des vom Kommandosystem
befreiten Rußland: »Statt Stabilisierung mit anschließendem allmählichen Aufschwung,
die man dem Volk versprochen hatte, Inflation, die jeden Moment in eine Hyperinflation
umschlagen kann. Durch den Rückgang der Industrieproduktion droht ganzen Bereichen der
Wirtschaft der völlige Zusammenbruch. Die Lenkung der ökonomischen Prozesse ist außer
Kontrolle geraten. Der Lebensstandard der Bevölkerung hat sich in einer seit dem Krieg
nie dagewesenen Weise verschlechtert. Arbeitslosigkeit ist entstanden, die seit über
sechzig Jahren in unserer Gesellschaft unbekannt war. Die Rentner, die sozial schwächste
Schicht der Bevölkerung, haben innerhalb von wenigen Tagen ihre Ersparnisse verloren. Die
Inflation hat ihr Geld zu Makulatur werden lassen. Sozialversicherungen und
Gesundheitswesen, Bildung und Kultur sind in einem erbärmlichen Zustand. Selbst für das
russische Staatswesen besteht eine reale Gefahr.«
Nichts jedoch liegt dem Mann ferner als eine Prüfung der Sorte praktischer Kritik, die er
- kraft seines Amtes (!) - am realsozialistischen Laden vollstreckte. Er, der angesichts
des immer wieder geäußerten Verdachts, als Zögling des Parteiapparats könne er nur die
Fortsetzung des Bösen mit anderen Mitteln im Sinne haben, stets energisch dementierte;
er, der an die Spitze der von ihm für pervertiert gehaltenen Staatsmacht »kommmen
mußte«, um sie zu zerschlagen; er, der auf die Urheberschaft jenes Ungetüms einer
»Revolution von oben« so merkwürdig viel Wert legt, distanziert sich bedauernd und
warnend vom Elend, das seine Staats- und Wirtschaftserneuerung auf den Weg gebracht hat.
Und wie in den ersten Tagen seines »neuen Denkens« zitiert er die »Betroffenen«, um
das »Staatswesen« selbst in den Status eines Opfers zu versetzen.
Die pflichtschuldige Kundgabe seiner Unzufriedenheit darüber, daß aus der Nation, die er
retten wollte, einfach kein blühendes Gemeinwesen mit Ordnung und Reichtum geworden ist,
ergänzt er um eine Befürchtung, die er um sich und seinen Ruf als Erneuerer hegt:
»Unter diesen Bedingungen mehren sich die Anzeichen dafür, daß allein schon die Idee
einer Reformierung der Gesellschaft in Mißkredit geraten ist. Enttäuschung macht sich
breit hinsichtlich solcher Werte wie Demokratie, Pluralismus und Pressefreiheit. Und das
führt auch zu Eingriffen in diese Freiheit. Unglaube an die Prinzipien der
Marktwirtschaft, Zweifel an ihrer Fähigkeit, einen Ausweg aus der Krise zu garantieren,
greifen um sich. In der Marktwirtschaft sieht man nur noch ein Mittel zur Bereicherung
weniger und zur Verarmung vieler.«
Der Herr Reformator ist enttäuscht darüber, daß der Glaube an den Kapitalismus, mit dem
er der Sowjetunion nach westlichem Vorbild eine neue Machtgrundlage verpassen wollte, zu
wenig Anklang findet. Und der Leser wundert sich, woher ein Mensch, der sich unablässig
auf die »Realität« beruft, seine Ansichten über die »Fähigkeiten« der
Marktwirtschaft bezieht. Daß dieses sagenhafte Patent für politische Ökonomie
ausgerechnet beim Einzug ins russische Reich der Plankennziffern ganz vielen zur
Bereicherung verhelfen würde; daß der Maßstab des Geldes, wie er auf dem Weltmarkt
regiert, ausgerechnet der von Gorbatschow der Minderwertigkeit und Rückständigkeit
geziehenen russischen Produktion das Prädikat »wertvoll« ausstellen könnte - daran
glaubt eben nur ein Ausnahmeathlet. Einer, der politische Ökonomie mit den Vokabeln
»Stagnation« und »Effizienz« betreibt und die Effizienz, die er mag, auch aufsagt:
»Das erneuerte und folglich ökonomisch gesundete Rußland wird seine Rolle in der Welt,
im gesamten System der internationalen Beziehungen wiedererlangen.«
Das soziale Herz dieses Nobelpreisträgers schlägt für die Leistungen, die der
demokratisch verwaltete Kapitalismus für die Beziehungskiste erbringt, die auch im
Allunionswörterbuch einmal »Imperialismus« hieß. Schade nur, daß die staatlichen
Vorbilder des Michail Gorbatschow im Westen weder von ihren ökonomischen Kalkulationen
her noch aufgrund ihrer politischen »Weltordnungs«-Ansprüche bereit sind, das
Sonderangebot wahrzunehmen, das da aus russischen Breiten vernehmlich wird. Wo Gorbatschow
»riesige ungenutzte Vorräte an wertvollen Bodenschätzen« anpreist, die
»qualifizierten Arbeitskräfte« der sowjetischen Erbmasse empfiehlt und »ein mächtiges
Produktionspotential« in Aussicht stellt, verhalten sich seine Partner aus den Hochzeiten
der Perestroika-Diplomatie ziemlich reserviert. Er weiß eben auch nicht, wie
Imperialismus geht. Diese schicke Kombination aus Benützung und Kontrolle anderer
Nationen ist mit der Aus- und Aufrüstung der Nachfolger des Hauptfeindes zu neuen
Konkurrenten nämlich nicht vereinbar.
Dennoch: Auch die ausbleibende Honorierung der weltpolitischen Leistung, die Gorbatschow
zugeschrieben werden muß - er hat in der Erwartung einer Lizenz für sein Land, in den
Kreis der effektiven Weltmächte aufzurücken, die Systemkonkurrenz beendet -, läßt
diesen Mann nicht verzweifeln. Daß er aus dem schlecht und recht funktionierenden
ökonomischen Apparat der Weltmacht SU eine Katastrophenlandschaft herbeiregiert hat - im
Westen ginge solches als hochverräterische Verzichtspolitik in die Annalen einer Nation
ein - kratzt sein Selbstbewußtsein weniger an als die Lebensmittelversorgung in seiner
Heimat. Stolz traktiert er die Leser mit Antworten auf »persönliche Fragen«, die
höchstens den in der Kammerdienerperspektive bewanderten Journalisten aus dem Reich der
Meinungsfreiheit einfallen: »Habe ich mich als Mensch und als Politiker in den
vergangenen Jahren der großen Arbeit und der großen Prüfungen verändert?«
Klar, daß er sich »mit der Perestroika verändert« hat! Er hat ja so viel gelernt und
»Scheuklappen« abgelegt, und in bester Gesellschaft hat sich der eitle Fratz deswegen
herumtreiben dürfen: »Meine Mitwirkung an der Weltpolitik, die Zusammenarbeit mit den
wichtigsten Staatsmännern unserer Zeit, der Kontakt zu Menschen, die die politische und
intellektuelle Weltelite verkörpern, hat mir viel gegeben.«
Nach dieser Seite hin stimmt also der Ertrag. Und sonst? »Die zweite Frage lautete:
Glaube ich, alles erreicht zu haben, und bin ich in dieser Hinsicht glücklich?« Auch
diese Frage muß, da »nicht leicht«, unter gekonnter Absehung von der Qualität der
kleinen Veränderungen, die er in der heimatlichen und Welt-Ordnung herbeigeführt hat,
mit einer Antwort über seine Befindlichkeit bedacht werden, die einem die Socken
auszieht: »Wenn man davon ausgeht, daß ich nicht nur an einer der größten Umwälzungen
des 20. Jahrhunderts einfach teilnehmen konnte, sondern diesen Prozeß sogar anführte,
dann kann man sagen, daß ich Glück gehabt habe.«
Der Mensch kann wahrlich von Glück sagen - weder in seiner Partei noch sonstwo im
Vielvölkerstaat haben sich ein paar Kommunisten gefunden, die ihm das Schicksal des
Anführers erspart hätten!
Bleibt noch zu würdigen, was die zwischen den der Selbstbespiegelung gewidmeten Gedanken
eingebundenen Dokumente leisten. Vor allem belegen sie, daß der weltweit gefeierte
Zusammenbruch des mißgestalteten »Riesenreiches« keiner Notwendigkeit der Art
entsprang, wie sie die Siegertypen des Westens so beredt beschwören, seit es vorbei ist
mit der SU. Zu diesem historischen Großereignis bedurfte es 1. schon einer Führung, die
ihre Macht über Land und Leute darauf verwandte, den realsozialistischen Laden
umzukrempeln. Und zwar so, wie es unter dem Titel »Hinter verschlossenen Türen« belegt
ist. Nämlich 2. auf der Grundlage vorzüglicher ökonomischer Analysen, die mit
Mangelerscheinungen, z.B. schlechter Brotversorgung, ins Gericht gehen und zu der
Schlußfolgerung führen: »Das Volk ist an Schmarotzertum gewöhnt und nicht in der Lage,
sein Geld zu zählen.« Oder: »Die Sache ist außerordentlich kompliziert.« Auch die
Dialektik zwischen Kommando und Freiheit der Leistung ist da bemerkenswert: »Noch einmal
zurück zu den Kontrollkennziffern. Sie müssen die Ausgangsposition bestimmen und die
Dynamik gewährleisten. Sie müssen uns helfen, die Proportionen zu wahren und den
Hauptkettengliedern der Produktion genügend Freiheit lassen. Ohne sie verlieren wir die
Kontrolle über die Gesamtentwicklung. Aber wir dürfen nicht extrem mit ihnen umgehen,
sie weder als Anlaß zum Bremsen oder zum Verzicht auf die Leitung betrachten.«
Das sitzt, ebenso wie das Gegenteil, ein paar Sätze später: »Die Kontrollkennziffern,
ich sage es noch einmal (!), dürfen keine Direktive sein.« Von solchen vor Sachverstand
triefenden Befunden ist es zwar nicht weit zu der Einsicht, daß, wer eine Produktion
planen will, besser Abstand nimmt von einer Garnitur von »Planungsinstrumenten«, die mit
ihren stofflichen und geldlichen Vorgaben alles durcheinanderbringen. Für Gorbatschow,
der zehnmal seinen überaus klugen Gedanken drucken läßt, daß »neue Probleme nicht mit
alten Methoden« gelöst werden können, lag da aber etwas anderes näher. Der uralte
Behelf mit der Produktivkraft »Moral« - »Wir müssen auch weiter darauf hinwirken,
Ordnung und Disziplin zu wahren und die sozialistischen Werte wiederzubeleben. Das
erfordert keine Investitionen, ist aber von prinzipieller Bedeutung« - tut für ihn
ebenso gute Dienste wie die Besichtigung des Preises als Planungshebel, was auch eine
solide Tradition hat: »Ohne angemessene Preise ist nichts zu machen, auch keine
Zielvorgaben.«
Das führt den ersten Mann einer Gesellschaft, die er »sozialistisch« schimpft, zu ganz
anderen Einfällen, etwa zu diesem: »Oder die Frage von Grund und Boden: In allen
Ländern wird dafür gezahlt, besonders für Bauland, nur bei uns nicht.«
Und immer wieder zurück zum »mangelnden Ehrgeiz«, welcher eine »schreckliche Geißel«
ist, so daß die Unart, das Geld als Hebel staatlicher Planung einzusetzen, dieselben
Ergebnisse zeitigt wie schon die letzten Jahrzehnte auch; Ergebnisse, mit denen ein
Staatsmann, der kein Berliner, aber »von Natur aus ein Reformer« ist, einfach nicht
zufrieden sein kann: »In keinem Fünfjahresplan wird der Plan erfüllt, aber der Haushalt
stimmt immer.« Und: »Der Plan wird erfüllt und übererfüllt, aber der Betrieb ist
unrentabel.«
Da kommen ernste Fragen auf, die fast den Einbruch von Vernunft anzukündigen scheinen -
»Warum nicht von der Bedarfsbefriedigung, vom Ziel ausgehen« -, aber dann doch nicht so
gemeint sind: »Keinen weiteren Aufschub duldet die Frage der Preise«, sagt Gorbatschow
im Politbüro ein paar Sätze später, muß aber auch die Seinen darauf hinweisen, was
alles verkehrt laufen kann: »Der Vorteil der Kontrollziffern gegenüber der
durchgängigen Planung kann sich, wenn er nicht klug genutzt wird, ins Absurde
verkehren.« Usw.
Was der Blick hinter die verschlossenen Türen des Kreml da offenbart, ist dasselbe
Karussell, das die realsozialistische Hebelökonomie in zig Lehrbüchern und
Fünfjahresplänen, in Nöspls und anderen Reformvorhaben breitgetreten hat. Und in den
flammenden Aufrufen an die »Kampfabteilungen« namens »Propaganda«, »Organisation«
und »Wirtschaft«: »Ihr arbeitet nicht genug!« ist ebenfalls nichts Umwälzendes zu
entdecken; es sei denn, man hält die aufgeregten Wiederholungen der Warnung, daß
»Perestroika und Glasnost« in Gefahr seien, wenn die »wirtschaftliche
Rechnungsführung« nicht hinhaut, für mehr als einen neuen Berufungstitel. Nur in
einigen rhetorischen Fragen deutet sich das Ende der jahrelang praktizierten Contradictio
in adjecto eines »geplanten Marktes« an. Ein Ende, dessen Vollzug von Gorbatschows
Nachfolgern erledigt worden ist, und zwar zugunsten des Marktes, des echten, und polemisch
gegen den Plan, der den Staatshaushalt auf keinen grünen Zweig kommen läßt: »Aber wer
sagt denn, daß ihr hier im Gosplan besser wißt als die Betriebsleitungen, wieviel dieser
oder jener Betrieb produzieren und verkaufen kann. Hemmen wir so nicht Initiative und
Selbständigkeit?«
»Wie kann man schon vor Beginn des Planzeitraums die Größe des Gewinns bestimmen?«
Daß es nicht übermäßigen Schwung in den Laden bringt, wenn der Staat in Geld gemessene
Gewinne plant, wollen die Vollender der Perestroika eingesehen haben. Ihre Absage an diese
Alternative zum Kapitalismus gilt freilich nicht dem Ärgernis, daß sich so keine
Produktion planen läßt, die den gelobten Werktätigen Mühe erspart und den Reichtum der
Gesellschaft, den sie herstellen, zur Verfügung stellt. Sondern allem Sozialistischem
schlechthin; den Versuch, anders als auf kapitalistische Weise zu wirtschaften, haben sie
eingestellt - so sehr hat es ihnen die Freiheit und Macht des Regierens angetan, die in
den kapitalistischen Nationen auf der Grundlage eines funktionierenden Gegensatzes von
Eigentum und Arbeit entgegenschlägt. Gorbatschow hat nun der lieben Welt die Dokumente
vorgelegt, in denen er unter sorgfältiger Abwägung von Tempofragen und unter dem Titel
»Perestroika« diesem Entschluß den Weg bereitet hat. Und bildet sich viel darauf ein.
Zweitens, und das belegen die Dokumente des Kapitels »Die großen Entscheidungen«, ist
der Reformer in außenpolitischen Dingen denselben Weg gegangen. Da ist nachzulesen, wie
Gorbatschow mit den Großen der Weltordnung so lange verhandelt, bis feststeht, welche
Seite Angebote parat hat, die die andere nachfragt. Freilich muß gegen falsche
Erwartungen betont werden, daß in diesen herzerfrischenden Dialogen nicht die jüngsten
Händel um Geld und Gewalt der Geheimhaltung entrissen werden. So klar die großen
Gewaltfragen - die Rüstungskonkurrenz und die Auflösung des Ostblocks - als Gegenstand
der Gespräche sind, so herzlich zanken sich die Akteure um die ideologischen Abziehbilder
ihrer wirklichen Gegensätze. Es ist Diplomatie der verlogensten Form, von jener Art, die
dem Wort diplomatisch die Zusatzbedeutung berechnender Heuchelei verliehen hat.
Ein Eindruck drängt sich allerdings dem gar nicht geneigten Leser auf: Gorbatschow
scheint sich viel darauf zugute zu halten, daß er an die Titel glaubt, unter denen seine
Kontrahenten ihre Interessen vortra-gen. Reagiert er im Dialog mit M. Thatcher noch
halbwegs zurechnungsfähig auf deren Erläuterung »westlicher Werte« und
Regierungsdienste - er traut sich eine zarte Andeutung in Richtung Einmischungstitel -,
verliert er schon im Zuge des Gesprächs mit diesem Kotzbrocken imperialistischer Arroganz
jeglichen Halt: »Ich möchte bei Ihnen nicht den Eindruck erwecken, wir stelltendie
Bedeutung der westlichen Demokratie grundsätzlich in Frage. Wir wissen den Beitrag der
Bourgeoisie zum historischen Fortschritt angemessen zu würdigen. Sie hingegen erkennen
den Beitrag des Sozialismus nicht an und sprechen ihm sogar das historische Existenzrecht
ab.«
Man sieht, mit wie wenig Zugeständnissen ein anerkennungssüchtiger Realsozialist
zufrieden ist. Im Gespräch mit Bush geht er dann gemeinsam mit Jakowlew schon weiter:
»Wieso sind Demokratie, Offenheit und Markt "westliche Werte"?« So auf
Mitverfügung über imperialistische Legitimationen erpicht, fällt es ihm auch nicht
schwer, die »Verletzung von Menschenrechten« auswärts mit der »Zulässigkeit einer
internationalen Einmischung« gleichzusetzen. Mit dieser glanzvollen Probe seiner
Gelehrigkeit in Sachen »Neue Weltordnung« und ihren Eingreiftruppen macht er sich noch
nach seiner Entmachtung zum Affen derer, denen mit der Schließung des sowjetischen
Konkurrenzbetriebs nur noch ein Recht geläufig ist - das auf die unangefochtene Kontrolle
der Staatenwelt. Genauso wie die Herrschaften aus den imperialistischen Führungsnationen
konstatiert er die Gefahren, die von einem neuen »übersteigerten Nationalismus«
ausgehen. Allerdings mit dem Unterschied, daß seine Gesprächspartner sehr genau
unterscheiden zwischen ihrem eigenen nationalen Recht und dem auf Benutzung und Aufsicht
abonnierten Interesse aller anderen Nationalisten. Dieser Heini glaubt an ein »neues
Niveau der Zusammenarbeit der internationalen Gemeinschaft«, in der seine
Rechtsnachfolger schon längst als Stimmvieh für völkerrechtliche Auswärtsspiele
notorischer Freiheitsexportnationen fungieren. So kann er sich nur wundern: »Doch
ausgerechnet jetzt, da die gegenseitige Abhängigkeit in der Welt rapide zunimmt, betonen
etliche Staaten und Völker ihre nationale Selbständigkeit und Identität.«
Tja, wenn sie gar nichts miteinander zu tun hätten, gäbs vielleicht auch keinen
Streit um Geld und mit Gewalt! Und in gewissem Sinn geben ihm die westlichen Staatsmänner
ja auch recht; über eine Lesart der Gleichung von Abhängigkeit und Friedenspflicht
verfügen sie schließlich auch, wenngleich sie sich zu Herren des Kriegsrechts ernennen.
Den Gesamteindruck des ausgezeichneten Politikers rundet ein Gespräch mit dem Papst ab,
in dem dieser für Gewissensfreiheit in der SU plädierte. Die müßte sich »auch auf
Baptisten, Protestanten und Juden erstrecken. Das gleiche gilt auch für Moslems.« Darauf
Gorbi: »Ja. Moslems sind für uns ein realer Faktor.«
Ja dann!
Karl Held ist verantwortlicher Redakteur der Zeitschrift »Gegenstandpunkt«
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