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Ausgabe 04/94, S. 18
Karl Held
Neues vom Juglar
Wie beurteilen einschlägig spezialisierte KONKRET-Autoren die »gesamtwirtschaftliche
Entwicklung« in der BRD? Die Redaktion hat Robert Kurz, Winfried Wolf, Jürgen Kuczinsky,
Kurt Hübner und Karl Held um ein knappes »Jahresgutachten 94« gebeten. Obwohl sie in
der Beurteilung des weiteren Krisenverlaufs sich nahezu einig sind, hätten ihre Beiträge
doch kaum unterschiedlicher ausfallen können
Prognosen über die »wirtschaftliche Entwicklung« taugen auch dann nichts, wenn sie die
Deutung des hinreichend bekannt gemachten Zahlenmaterials links einfärben. Aber nicht
deswegen, weil man sich in bezug auf die Zukunft nie so recht sicher sein könnte.
Unsinnig sind die verhalten optimistischen Einschätzungen und die pessimistischen
Warnungen darin, daß sie lauter Ideologien über den kapitalistischen Zirkus kolportieren
und das Funktionieren des Ladens zum theoretischen Sorgeobjekt befördern. Da marschieren
dann in Gestalt von vorsichtig gewichteten Ziffern alle möglichen Faktoren aus der Welt
von Lohn, Preis und Profit auf, entwickeln sich aufgrund von Umständen, die eintreten,
ohne daß irgendjemand Einfluß auf sie nimmt - bis dann die Botschaft von den
»Sachzwängen« fertig ist, denen sich auch und gerade die maßgeblichen Figuren in Staat
und Geschäftswelt ohnmächtig unterwerfen müssen. Von Amts wegen sind sie dazu
gezwungen, auf Daten und Fakten zu reagieren - und der leicht elitäre Genuß des
Prognostikers besteht darin, Bescheid zu wissen über die gebieterische Natur der
Umstände und die Hilflosigkeit der Macher. Es soll sogar Leute geben, die mit dieser
Betrachtungsweise dem »Wertgesetz« in seiner geballten Unerbittlichkeit auf die Spur
gekommen sein wollen; gewöhnlich aber endet der Einblick in die »Lage« und ihre für
den Kenner erkennbaren »Tendenzen« in einer ideellen Amtsübernahme - »linke«
Prognostiker gefallen sich in alternativen Rezepten fürs Regieren und Geschäftemachen.
Eingedenk der kaum zu beweisenden Hypothese, daß es sich bei denen, die sich auf Daten
als »Sachzwänge« berufen, um dieselben handelt, die jene Sachzwänge in Kraft setzen
und sie ausnützen, fallen Prognosen natürlich eher wie Diagnosen aus. Sie befassen sich
mit den Entscheidungen von Unternehmen wie Politikern, die das »Wertgesetz« des alten
Marx sowieso nicht anders kennen, als es dieser für die Erfahrung genehmigt hat: als den
Zwang der Konkurrenz, die sie bestehen wollen. Diese Entscheidungen stellen nämlich die
Weichen für das »Wirtschaftsleben« der Zukunft, auf das die Bedenkenträger der Nation
immer so gespannt sind, daß sie sich Prognosen bestellen. Das Bedürfnis nach Auskünften
über die Geschäfte der kommenden Monate verrät dabei den Zweifel daran, ob die
ergriffenen Maßnahmen auch die beabsichtigten Wirkungen zeitigen - was wiederum
verständlich ist angesichts der entsprechenden Anstrengungen der Konkurrenten, die den
Vergleich »preiswerter« Waren zu ihren Gunsten zu entscheiden trachten.
Der gemeinnützige Verein, der bei uns »die Wirtschaft« heißt, weil seine speziellen
Interessen an einem einträglichen Geschäftsgang in der Demokratie den Rang des
Allgemeinwohls erhalten haben, hat in bezug auf die nächsten Runden Marktwirtschaft
ziemlich fatale Entscheidungen getroffen. Was andere »Krise« nennen und mit
abenteuerlichen Theorien aufzuhellen suchen, war für die Mitglieder der »Wirtschaft«,
soweit sie über die Produktion gebieten, schlicht ein Einbruch ihrer Geschäfte; seit
geraumer Zeit schränken sie das Produzieren ein, weil es sich nicht rentiert - und machen
den Rest der Welt dafür haftbar, daß sie »rechnen müssen«. Dieses Argument zählt bei
denen, die nicht zur »Wirtschaft« zählen, aber von ihr abhängig sind, nichts. Deswegen
sind die Statistiken und Prognosen über Leute, die von ihrer Arbeit leben müßten, aber
nicht können, nicht von der Hand zu weisen. Daß bei ausbleibendem Wachstum der
»Wirtschaft« zum Ausgleich die Armut wächst, ist eine vernünftige Vorhersage in einer
freien Gesellschaft, in der »nützlich« nun einmal dasselbe ist wie »rentabel«. Eine
Anstalt in Nürnberg zählt die Ergebnisse bis auf zwei Stellen hinter dem Komma nach.
Soweit die »Wirtschaft« über ehrlich verdientes Geld verfügt, dem in der Produktion
keine lohnende Anlage zu Gebote steht, wird sie auch weiterhin ihren Reichtum in einer
Unterabteilung »arbeiten lassen«, die zu den Schönheiten des Kapitalismus gehört. Das
Recht auf Vermehrung von in Geld gemessenem Privateigentum, das in der freien Welt
gesetzlich geschützt ist, wird neben und zusätzlich zur produktiven Investition
wahrgenommen. Kapital verzinst sich in allerlei finanziellen Transaktionen, denen in
Zeiten des Wachstums die Leistung zugeschrieben wird, alles flüssige Geld der
Gesellschaft der einzig senkrechten Anwendung zuzuführen, die die Missionare der
Marktwirtschaft kennen. In Zeiten der Krise treten sie an die Stelle der produktiven
Investitionen, weil die sich nicht rentieren, und lassen sogar das Vermögen von Konzernen
wachsen, die ansonsten durch Entlassungen glänzen. Die Ahnung, daß sich diese Geschäfte
des Finanzkapitals mit einem Schlag als unsolide erweisen können, bestimmt zu Recht das
»Klima« an den Finanzplätzen; sie hat aber schon allein deshalb nicht einen Ausstieg
der rührigen Schwindler zur Folge, weil deren Habe nur in dieser Sphäre der
Leistungsgesellschaft Bestand hat. Der Ausstieg wäre der Crash und das jähe Ende mancher
Null, vor dem Komma.
Diese Lage hat auch die Bundesregierung samt ihren tüchtigen Zuarbeitern, die die Waren-,
Geld- und Arbeitsmärkte statistisch minutiös beäugen, beeindruckt. Daß es so nicht
weitergehen kann, ist ihre Dia- und zugleich Prognose bezüglich der »wirtschaftlichen
Entwicklung«, welche die Krise verheißt. Die feine Redensart, daß »wir über unsere
Verhältnisse gelebt haben«, meint sie aber in einer Weise beherzigen zu müssen, die
selbst anständigen Nationalisten die klassenlose und gerechte 1. Person Plural verleiden
könnte. Die politische Elite der BRD besteht darauf, daß der nationale Erfolg in
Wirtschaftsdingen nichts mit der halbwegs gesunden Ernährung ihrer deutschen
Stammbelegschaft zu tun hat, sondern mit der Erhaltung und dem Wachstum von Kapital, das
deutsch ist. Die »Zukunftssicherung des Wirtschaftsstandorts Deutschland« geht so:
· Die Erfolge deutscher »Wirtschaft«, mit denen »wir« über
Jahrzehnte hinweg »Exportweltmeister« waren, haben sich in einer weltweiten Nachfrage
nach deutschem Geld niedergeschlagen. Deutscher Kredit läuft in aller Herren Länder um,
sein Besitz gilt als Verfügung über gutes, weltweit akzeptiertes Geld; deutsche Banken
und ihr Schirmherr, der deutsche Staat als Garant aller in DM denominierten Zettel, sind
Gläubiger an den Finanzplätzen; ihre relativ zu anderen Nationalkrediten solide Ware
genießt bei den finanzkapitalistischen Umtrieben enormen Zuspruch. In der von »den
Märkten« wie von anderen Währungshütern respektierten Stärke der DM entdeckt die
deutsche Führung erstens die ungebrochene Zahlungsfähigkeit der Nation und ihrer
privaten Agenten, der Banken und Konzerne; zweitens leitet sie daraus das Recht ab auf die
Verfügung über sämtliche Sorten internationalen Reichtums und dessen Zuwächse.
Während vor allem die europäischen Partner eingestehen müssen, daß ihre Freiheit zu
Verschuldung geschwunden ist, weil bei ihnen die Gleichung »nationaler Kredit =
internationales Geld« nicht mehr aufgeht, genehmigt sich die BRD in der Produktion von
Schulden alles, was ihr nützlich vorkommt.
· Das damit verbundene Risiko, daß »die Märkte« und die
konkurrierenden Währungshüter den privaten und öffentlichen Herren der DM Bescheid
stoßen und deren »Härte« anzweifeln, ist den Agenten des schwarz-rot-goldenen
Reichtums bekannt. Abgehalten hat sie das jedoch von nichts - und bislang hat die
Abhängigkeit der ausländischen Finanzkraft von deutschem Kredit, die Anerkennung der
eingerissenen Schuldner-Gläubiger-Beziehungen ihren Dienst getan. Regierung und
Bundesbank tragen besagtem Risiko auf ganz andere Weise Rechnung. Sie betreiben eine
Standort-Politik, die den Anteil deutscher Geschäfte am Weltmarkt nach seiner Erholung
vergrößern soll.
· Diese Wirtschaftspolitik ist einerseits konsequent und normal in
einer »Weltwirtschaft«, in der Staaten das Kapital und sein Wachstum zu ihrem
Lebensmittel machen und ihre Konkurrenz untereinander in ihrer Eigenschaft als
»Kapitalstandort« abwickeln; andererseits kennzeichnet der Standpunkt der
ausschließenden Benutzung des Weltmarkts eine neue Etappe der Völkerfreundschaft, weil
sie sich von den Vorbehalten freimacht, die es in der Phase des Ost-West-Gegensatzes gegen
wirtschaftskriegerische Praktiken gegeben hat. Diese Wirtschaftspolitik geht auch davon
aus, daß andere Weltwirtschaftsmächte genauso verfahren - von den Gatt-Streitigkeiten
und den interessanten Demarchen zwischen Japan und USA, Japan und Europa etc. sind ja die
Zeitungen voll. Die Internationalisierung des Kapitals, die Durchrassung der
Nationalökonomie mit lauter »Multis« ist die Grundlage für einen Kampf um die
Nationalisierung der Erträge, der die Zurichtung des heimischen Ladens erforderlich
macht. Maßgebliche Demokraten und die Vertreter der »Wirtschaft« vollziehen daher einen
»Umbau« der Gesellschaft, der sich gewaschen hat. Im Namen der internationalen
Konkurrenzfähigkeit wird sowohl »plattgemacht« und gesundgeschrumpft als auch
subventioniert und aufgebaut. Es wird reichlich Kredit geschöpft, um ihn in international
überlegenes Kapital zuverwandeln.
· Gespart wird zum Ausgleich auch ein bißchen - am Volk. Der
Sozialstaat, jene famose Erfindung der Bismarckschen Arbeiterbewegung, eignet sich mit
seiner Verstaatlichung von Einkommen nicht nur zur Verwaltung der kapitalistischen Armut;
einmal eingerichtet, taugt er auch zur zielstrebigen Produktion einer soliden Verelendung.
Das macht ganz nebenbei die Löhne derer, die in stets abnehmender Zahl für
konkurrenzfähige Unternehmen gebraucht werden, erträglicher. Denn nicht nur den
Mißerfolg des nationalen Geschäfts, der in der Krise betränt wird, haben die
Lohnabhängigen auszubaden. Sie müssen auch und gerade für den Erfolg der deutschen
Sache mit ihrem Opfer geradestehen - schließlich sind sie ganz und gar abhängige
Variable.
Und das bleiben sie auch, solange sie und ihre politischen Freunde auf Prognosen,
Statistiken über Beschäftigung und Lebenshaltungskosten, über ihre
»Einkommensentwicklung« hören. Wenn sie gar noch das Recht auf deutsches Wachstum für
das halten, was sie brauchen und was »das Ausland« hintertreibt, bieten sie auch die
Gewähr für ihr Funktionieren in den programmierten Handels-, Geld- und anderen Krächen.
Karl Held ist verantwortlicher Redakteur der Zeitschrift »GegenStandpunkt«