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Ausgabe 02/01


Peter Decker


Seattle, Melbourne, Prag: 

Zur Kritik der Global action gegen das  Phantom "Globalisierung" 

Zuverlässig und regelmäßig wie die offiziellen Delegierten aus aller Welt reisen zu den Tagungen von WTO, IWF und Weltbank inzwischen Tausende ungebetener Gäste an. Sie nehmen sich vor, die Treffen der internationalen Agenturen des Weltmarkts zu stören, ja möglichst zu verhindern. Denn diese Institutionen machen sie verantwortlich für das millionenfache Elend auf der, nach dem Ende des Sozialismus, wahrhaft "einen Welt". Im Namen des Elends und der davon Betroffenen erhebt die Bewegung Protest ? und ist dabei stolz darauf, "keine Ideologie" zu haben und keine Klärung der Auffassungen in den eigenen Reihen anzustreben. Theoretische Streits um die richtige Erklärung der angeprangerten Zustände würden die Breite der Bewegung nur schwächen, meinen ihre Protagonisten: 

Die Betroffenen wüßten selbst am besten, woran sie leiden und was ihre Bedürfnisse sind. Wer keine "Ideologie" hat, sondern sich vom Elend ganz unmittelbar herausfordern und vom Rechtsbewußtsein der Betroffenen leiten läßt, folgt allerdings schon einer Logik, nur eben einer verkehrten, einer echten Ideologie sozusagen. 

Die Skandalisierung des Elends 

Das Hauptargument der Demo-Aufrufe ist das anklagende Deuten aufs Elend in der Dritten Welt und nicht nur dort. Es bekannt zu machen halten ihre Verfasser offensichtlich für genug Kritik: "Mehr als 4 Milliarden Menschen leben von einem täglichen Einkommen von weniger als 2 US-Dollar. Circa 17 Millionen Kinder sterben jedes Jahr an leicht heilbaren Krankheiten. Ein Drittel der EinwohnerInnen der südlichen Hemisphäre wird das vierzigste Lebensjahr nicht erreichen. Und 250 Millionen Kinder in den sogenannten Entwicklungsländern sind gezwungen, als Sklavenarbeiter für transnationale Konzerne zu arbeiten, um ihre Familien zu unterstützen. Gleichzeitig gibt es in der Europäischen Union 50 Millionen Menschen, die in Armut leben, und 5 Millionen Obdachlose. 30 Millionen Menschen in den USA leiden unter Unterernährung." (Europäischer Aufruf zu den globalen Aktionstagen gegen IWF und Weltbank im September in Prag; INPEG Initiative of People against Economic Globalization; siehe: www.inpeg.org und http://go.to/prag-2000). 

Nun sind diese elenden Zustände nicht gerade unbekannt. Wenn das Nötige, um sie abzustellen, nicht geschieht, dann jedenfalls nicht deshalb, weil sie Völkern und Regierungen erst noch zur Kenntnis gebracht werden müßten. Andererseits, wenn es um die Mißbilligung dieser Fakten geht, so ist sie leicht zu haben und zwar von seiten aller anständigen Menschen. Auch wenn mitfühlende Bürger einen Unterschied machen zwischen dem, was Indern und Afrikanern zusteht, und dem, worauf Europäer oder Amerikaner. Anspruch erheben können, so wünschen sie doch niemandem den nackten Hunger, das Sterben an leicht heilbaren Krankheiten, Sklavenarbeit etc. So etwas gehört sich einfach nicht und zwar nach den Maßstäben der Humanität, genau der Gesellschaft, die diese Zustände mit unschöner Regelmäßigkeit hervorbringt. 

Die Menschen lassen sich angesichts solcher Elendsbilder zu Mitgefühl und gar zu Kritik rühren, und das wegen ihres sehr affirmativen Glaubens an die edlen Grundsätze dieser Gesellschaft und durchaus nicht aus Zweifeln an ihr. Was sonst soll auch herauskommen, wenn pure Fakten wie Argumente verwendet werden? Dann ist ein Maßstab ihrer Beurteilung unterstellt und zwar ein allgemein geteilter. Mit der Darstellung der Not als Skandal rennen die Demonstranten bei Kirchengemeinden, Politikern und anderen Menschen guten Willens offene Türen ein. 

Allerdings rufen sie damit auch das dazu passende Urteil der guten Menschen ab: Wenn das Elend, gemessen am Maßstab der Humanität kapitalistischer Staaten, außergewöhnlich und übermäßig erscheint, dann ist es eben als Ausnahme von dem charakterisiert, was üblich, recht und billig ist. Dann gilt es als Betriebsunfall des Systems, als Produkt schlechter Regierungen und korrupter Eliten, womöglich als Folge noch nicht genügender Einbindung der Dritten Welt in den Weltmarkt oder fehlender Verankerung und Reife der Marktwirtschaft. 

Die Protestbewegung will diese kreuzbrave Dummheit gar nicht kritisch korrigieren, sie setzt vielmehr auf sie, um ihre "Ursachenforschung" anzuhängen: Wenn das Elend der Dritten Welt ein Mißstand, eine Fehlfunktion und ein Verstoß gegen alles ist, was sich in unserer humanen Welt eigentlich gehört, dann ist klar, was ansteht: 

Eine Suche nach Schuldigen 

Diese ist sehr verschieden von einer Suche nach Ursachen. Wer den Schuldigen herausfinden will, hat die Frage nach Ursachen nämlich schon beantwortet: Irgendein Versager oder Verbrecher hat das korrekte Funktionieren von Wirtschaft, Gesellschaft oder sonst etwas vergeigt oder mutwillig verletzt. Ihn gilt es dingfest zu machen und auszuschalten, um die gestörte Ordnung, die also eigentlich schon besteht, wiederherzustellen. Die IWF-Kritiker geben sich alle Mühe, eine bösartige Verletzung bestehender besserer Aufträge darzulegen. Dafür konfrontieren sie die Elendszustände mit sozialkundlichen Idealen, die sie in den Präambeln von WTO, IWF und Weltbank finden: "Förderungen von Wachstum, Wohlstand und Entwicklung aller Mitgliedsländer", um aus der Diskrepanz zwischen beiden zu schließen, daß die tatsächlich verfolgten Ziele dieser Agenturen wohl das Gegenteil der genannten Ideale sein müssen: die Verhinderung von allgemeinem Wohlstand. "Der Einfluß von IWF und Weltbank hat seit über fünfzig Jahren die Leben von Menschen zerstört. ... Im Rahmen der Strukturanpassungsprogramme bestimmen IWF und Weltbank strenge Bedingungen zur Kreditvergabe an die Entwicklungsländer. Diese Maßnahmen stärken die Position des Kapitals, aber sie verschlechtern auch die Situation der Mehrheit der Weltbevölkerung. Wir werden zu Zeugen eines täglichen Massenmordes an Zehntausenden von Menschen und eines täglichen Verbrechens gegen die Menschenrechte, in Würde und Freude zu leben" (ebd.). 

Dem Straßen-Tribunal, das unverkennbar juristisch-moralische Vorwürfe erhebt, tun die angeklagten Chefs der Weltmarkt-Agenturen die Ehre an, sich zu rechtfertigen. Auch sie sind von besten Absichten getrieben. Ein besonderes Objekt des Zorns der Globlisierungsgegner, Weltbank-Präsident Wolfensohn, übermittelt der Bewegung seine volle Sympathie für ihre "Leidenschaft im Kampf gegen die Armut", daran arbeitet auch seine Bank mit großem Einsatz. Ausgerechnet darüber hat sich die Bewegung in September 2000 ein wenig gespalten. Sie weiß offenbar nicht, daß es in dieser Gesellschaft überhaupt keine Position gibt, die Menschenfeindlichkeit als Berufsbild kennt und daß gute Absichten ebenso billig wie verbreitet sind. Ein Teil der NGOs (Non-Government-Organizations) akzeptiert die Einladung und tritt mit Wolfensohn und Köhler (Chef des IWF) in einen Dialog um die besten Ideen zur Armutsbekämpfung. Am runden Tisch finden sie sich mit ihren Forderungen nach Schuldenerlaß für arme Länder und nach weicheren Konditionen bei der Kreditvergabe mittendrin in den Fragen, die die Staatschefs der G7 auf ihren periodischen Treffen wälzen.  

Die Radikalen bleiben auf den Straßen, halten an ihrem Vorwurf und damit am Unterschied zwischen einem Verbesserungsvorschlag und einer Anklage fest: Aber auch sie gehen nicht hinaus über die Ebene der Gewissenserforschung; sie glauben den Verwaltern des Weltmarkts die guten Absichten nur eben nicht und lassen sich auf das verfängliche Gespräch übers Gut- und Bessermachen der internationalen Kredit- und der Handelsdiplomatie nicht ein. Sie wollen sich ihre Empörung über die zynische Gesinnung der Amtsträger nicht verwässern lassen. Gesinnungsethiker, die sie sind, halten sie eine kritische Befassung mit den wirklichen Funktionen dieser Ämter ohnehin für überflüssig. 

Sie stellen sich blind gegen die Themenverfehlung ihrer Anklage. Ihre Parteinahme für die Armen dieser Welt will nichts davon wissen, daß eine Agentur wie der IWF, die der Stabilität des internationalen Währungs- und Finanzsystems gewidmet ist und über die sich Staaten bei Zahlungsbilanz-Problemen Kredit einräumen, einfach eine andere Zielsetzung hat als die Beförderung oder Verhinderung des sozialen Fortschritts. Ebenso forsch legen sie ihre humane Meßlatte an das Streitforum des Welthandels (WTO) an, das Konkurrenznationen sich geschaffen haben, um über Handelserlaubnisse und Handelsschranken, die sie sich gewähren bzw. gegeneinander errichten, zu verhandeln und die Einhaltung des Vereinbarten zu überwachen. Die Frage, ob solche Einrichtungen zugunsten oder zum Schaden von Arbeitssuchenden in der Ersten und von Reisbauern in der Dritten Welt erfunden worden sind, geht schlicht an der Sache vorbei. Und auf die Idee, daß das Elend seine Ursachen in grundlegenderen Prinzipien dieser Weltordnung haben könnte als in verkehrter Kreditgewährung und unfairen Handelsregelungen nämlich im Kredit, im Handel und im Zweck von Produktion und (internationalem) Austausch selbst kommen die Leute erst gar nicht, die fest entschlossen sind, WTO und IWF anzuklagen. Sie müßten glatt feststellen, daß sie da an der falschen Adresse sind. Die Gleichgültigkeit gegen die wirklichen Funktionen der internationalen Kreditagenturen gibt einem bunten Durcheinander - von Vorwürfen Raum, die den scharfen Ton gegen "das teuflische Gehirn des Weltkapitalismus" richtiggehend Lügen strafen. Die Kritiker werfen den Institutionen eine falsche Kreditpolitik gegenüber den Entwicklungsländern vor und geben damit zu erkennen, daß sie sich einen besseren IWF und eine ihres Namens würdigere Weltbank durchaus vorstellen können. Einmal ist deren Kreditvergabe zu großzügig früher meistens und heute noch bei der Finanzierung von Staudämmen und ähnlichen "gigantomanischen Projekten, die lokale Ökosysteme zerstören und zur Vertreibung von Millionen von Menschen führen" (ebd.). In diesen Fällen drängt die Weltbank den Dritte-Welt-Staaten mehr Finanzierung auf, als bei ihnen rentabel angelegt, also verzinst und getilgt werden kann. Damit lockt man sie in eine Schuldenfalle: Für Kredite, die sie nicht bedienen können, müssen sie um Umschuldung nachsuchen und geraten unter das Regime der berüchtigten Stabilisierungsprogramme des IWF Diese wieder gewähren Kredit unter allzu restriktiven Bedingungen, d.h. erstens zuwenig davon und zweitens mit Forderungen nach Rückzug des Staates aus nationalen Industrien, nach Privatisierung, Kürzung staatlicher Ausgaben für Soziales, Austerity-Politik und verstärkter Exportorientierung. Dies, da kennen sich die alternativen Sachverständigen für zwischenstaatlichen Kredit aus, behindert das Wachstum in diesen Ländern und untergräbt in letzter Instanz sogar die Fähigkeit der verschuldeten Staaten, ihre immerzu wachsenden Schulden zu bedienen. Der an sich wünschenswerte Schuldenerlaß, den die großen Finanzausstatter der internationalen Kreditagenturen beschlossen haben, gefällt den IWF-Gegnern, kommt aber zu langsam voran. Sie haben noch nichts davon gehört, daß es sich dabei um einen weltöffentlich vollzogenen Staatsbankrott von fast einem Viertel der Staatenwelt handelt und daß der nicht etwa einen hoffnungsvollen Neuanfang der entschuldeten Länder markiert so daß genau die Sorte Beteiligung am Weltmarkt wieder von vorne beginnen kann, die zu den Bankrotten führte, sondern daß diese Länder von ihren Gläubigern abgeschrieben werden, weil sie die Schulden nicht rechtfertigen, die man ihnen genehmigt hatte. Die IWF-Kritiker wissen offenbar auch nicht, daß in dieser Welt des Kapitals, in der die kreditgesicherte Teilnahme am Weltmarkt weniger kapitalstarke Länder ruiniert, das Ausgeschlossen-Sein vom Weltmarkt auch kein Segen ist. In den Vorwürfen von wegen zuviel und zuwenig Kredit für die Dritte Welt, zu lockeren und zu harten Bedingungen der Kreditgewährung, der Förderung falscher Projekte etc. äußert sich der ziemlich unkritische Glaube daran, daß Kredit, im rechten Maß gewährt und für die richtigen Projekte eingesetzt, ein echtes Lebensmittel für die Armen dieser Welt sein könnte und eigentlich ist ? und nicht etwa Geldkapital, vorgestreckt, um mit einem Plus an den Geldgeber zurückzufließen. Das rechte Maß, das den Fluch der Verschuldung in den Segen der Vorfinanzierung verwandeln würde, wissen sie natürlich selbst nicht. Dennoch halten sie unverdrossen an ihrer Anklage fest, daß IWF und Weltbank wissentlich eine falsche Politik gegenüber den Entwicklungsländern betreiben - andernfalls müßten Finanzkapital und Weltmarkt doch wohl zum Nutzen aller Länder und Menschen ausschlagen oder? 

Das wahre Opfer der Globalisierung: der gute, soziale, ökologische Staat! 

Wenn man so eisern an seinem Glauben an die besseren Möglichkeiten der weltweiten Marktwirtschaft festhält, stellt sich natürlich die leicht paranoide Frage, warum denn beharrlich das Falsche geschieht, obwohl sogar Finanzexperten von Harvard es längst besser wissen: Warum läßt man eine "ungezügelte Liberalisierung" des Weltmarkts zu, die nicht nur die Staaten der Dritten Welt in den Ruin treibt, sondern insgesamt "der Mehrheit der Menschen schadet, auch in den Industrieländern"? (ebd.).Um eine Antwort ist die Bewegung nicht verlegen: Eine solche Verantwortungslosigkeit reißt ein, weil die eigentlich zuständigen Nationalstaaten gar nicht mehr die Herren der Lage sind, sondern selbst Opfer der Globalisierung, . die internationale Agenturen gegen sie vorantreiben. Durch immer niedrigere Zollschranken verlieren die nationalen Grenzen ihre "Schutzwirkung" und Regierungen ihre Fähigkeit, für ihr kapitalistisches Gemeinwohl zu sorgen, das in den Augen der Weltmarktkritiker offenbar eine prima Sache ist bzw. war: "Der IWF behauptet, daß eine weitere Liberalisierung der Weltwirtschaft die einzige Lösung für die Probleme der Welt ist. Aber diese werden ganz im Gegenteil dadurch nur vertieft" (ebd.)."Die beiden Institutionen spielen eine entscheidende Rolle bei der Beschneidung des staatlichen Einflusses auf die Zirkulation des transnationalen Kapitals. Die Aufgabe von Weltbank und IWF ist es, durch ihre Politik die Entwicklungsländer für ausländische Investoren und ihre spekulativen Interessen zu öffnen. D.h. z.B. alle Auflagen zu beseitigen, mit denen die armen Länder ihre Umwelt und ihre weniger konkurrenzfähige Wirtschaft gegen das Kapital der reichen Länder zu schützen suchen" (Karawane nach Prag, siehe obige Website). Glauben die Autoren des Aufrufs wirklich, Entwicklungsländer, die händeringend um internationale Kapitalanlage werben, würden Hindernisse für Investoren zum Schutz von Wäldern und Grundwasser errichten? Es kommt wahrscheinlich nicht so genau darauf an: Das wäre halt etwas Gutes, das durch die Globalisierung unmöglich geworden ist. Es dürfte die Verfasser auch wenig kümmern, daß handelspolitische Erpressungen nur kapitalistisch kalkulierende Staaten zugänglich sind, die mit nationalen Exportprodukten die Märkte anderer Staaten erobern wollen. Den "armen Ländern", weil sie die Verlierer der Weltmarktkonkurrenz sind, ersparen die Kritiker solche Vorwürfe. Als Verlierer geben sie moralisch einwandfreie und überzeugende Vorzeige-Opfer einer Entwicklung ab, von der die Kritiker alle Staaten betroffen sehen. Und allen sagen sie unheimliche Wohltaten gegenüber ihren Bürgern nach bloß weil die wegen der Globalisierung angeblich nicht mehr möglich sind. "Die WTO, die Nachfolgeorganisation des Gatt, fungiert faktisch wie eine Schattenregierung, oder besser gesagt, wie eine Super-Regierung, die sich rücksichtslos über alle nationalen Besorgnisse bezüglich der Löhne der ArbeiterInnen, der Umweltschutzstandards und des Schutzes kollektiver Handelszuwächse hinwegsetzt. Das geht so weit, daß die WTO eigentlich ein Zusammenschluß von Regierungen ist, daß sie aber in Wahrheit die Interessen der Konzerne vertritt: Das vorrangige Interesse des Kapitals geht ihr über alle anderen Interessen" (Mumia Abu Jamal in eiüem Interview). 

Die Anti-Globalisierungs-Bewegung ist so überzeugt davon, daß die politische Macht über Menschen nur auf der Welt ist, um ihnen Gutes zu tun, daß sie sich die Kürzung von Sozialausgaben sowie die Lockerung von Arbeits- und Umweltschutzbestimmungen nur durch die Machenschaften internationaler Agenturen erklären mag, die den "Nationalparlamenten die Macht entrissen" haben. Der härteste Vorwurf gegen die WTO und ihre Schwesterorganisationen und der letzte Beweis ihrer Menschenfeindlichkeit heißt denn auch: "undemokratisch"! Statt von echten Landesvätern werden sie von "gesichtslosen Bürokraten" geleitet, die keinen Wählern rechenschaftspflichtig sind. Gewählte Träger der Staatsgewalt können offenbar gar nicht anders, als dem Volke dienen. 

Mit ihrer Chimäre von der Entmachtung des Nationalstaats fällt die Protestbewegung voll auf die Legende vom "Sachzwang Globalisierung" rein, auf den. sich Regierungen gerne berufen, wenn sie ihren Bürgern Härten verordnen. Dann reden sie davon, daß das Land sich der Globalisierung stellen, den Standort verteidigen und um das scheue Reh Kapital werben müsse. Dann heißt es, Sozial-, Wirtschafts- und Steuerpolitik stünden im internationalen Wettbewerb und könnten nicht mehr nach nationalen Wertvorstellungen geregelt werden. All diesen Sprüchen entnimmt die Bewegung nicht den Willen der Regierungen, den Weltmarkt für das nationale Wachstum zu nutzen und die internationale Konkurrenz zu gewinnen, sondern deren Ohnmacht gegenüber den Mächten des globalen Kapitals. 

Der Glaube an diese Ohnmacht leidet nur wenig unter dem Wissen, daß es genau die nationalen Regierungen sind, die sich IWF, WTO usf. selbst geschaffen haben, die ihre nationalen Emissäre in diese Gremien schicken und dort mit anderen Welthandelsnationen um ihren Vorteil streiten. Das alles kann die Gegner der Globalisierung nicht von der Auffassung abbringen, daß die Botschafter in den zwischenstaatlichen Weltmarkt-Agenturen nicht die Interessen ihrer Nationen vertreten, sondern deren Entmachtung betreiben. Der ungeheuerliche Fall von Verrat erklärt sich ihnen so, daß die nationalen Repräsentanten den Standpunkt ihres heimatlichen Gemeinwohls verlassen und sich einem höchst partikularen Interesse prostituieren: dem Profit der transnationalen Konzerne. 

Die Internationale des Protests beschimpft die nationalen Regierungen als Marionetten des Kapitals, die so regieren, wie die Konzerne es wünschen. Aber an eine tatsächliche Interessenidentität von Politik und Kapital glaubt sie gerade nicht, wenn sie die politische Förderung außenwirtschaftlicher Kapitalerfolge als nationale Pflichtverletzung anprangert. Sie will nicht wahrhaben, daß die marktwirtschaftlichen Gemeinwesen wirklich das Kapital zu ihrem Lebensmittel erkoren haben, daß in ihnen nichts läuft, was nicht nützlich fürs nationale Kapital oder Ergebnis seines Erfolgs in der internationalen Konkurrenz ist. Der Protest, der die "ungebremste" Herrschaft des transnationalen Kapitals auf die Entmachtung der Staaten durch die "Liberalisierung der Märkte" zurückführt, bestreitet geradewegs, daß der Erfolg des Kapitals das erste Ziel und die Hauptaufgabe kapitalistischer Staaten ist, ein Ziel, das der Staat nach innen mit allen Methoden der Klassenherrschaft und nach außen mit ökonomischer und militärischer Machtentfaltung zur Erschließung und Sicherung fremder Märkte verfolgt. 

Die Kritiker halten den Nationalstaat für nichts weniger als eine Erfindung zur Beschränkung und Behinderung der "Logik des Kapitals", als ob es nicht die politische Macht des Staates bräuchte, um den Kapitalisten das Eigentum an Produktionsmitteln zu sichern und die Gesellschaft deren Herrschaft zu unterwerfen. Unbeeindruckt davon stellt man sich das Kapital als eine staatsferne Macht vor und den Staat als so etwas wie ein heilsames Gegengewicht dazu. Die Charakterisierung des Übels als "reiner Shareholder-Kapitalismus" und "absolute Marktwirtschaft", in der es "bloß um Profit" geht, macht deutlich, daß die Globalisierungskritiker beim "kapitalistischen System" an nichts anderes denken als an eine Übertreibung. Nicht das Kapital, seine Rechnungsweise und seine Gesetze begründen seinen Systemcharakter und seine schlechte Verträglichkeit mit den Ansprüchen von Normalbürgern, sondern eine Schwäche des Staates, der es nicht mehr vermag, den übertriebenen Egoismus der kapitalbesitzenden Bürger aufs rechte Maß zu beschränken. Das "Profitprinzip", das die Bewegung "für die heutigen sozialen und ökologischen Desaster verantwortlich" macht, ist bei ihr nur ein Wort für den unausrottbaren menschlichen Egoismus, der gezähmt gehört. 


Eine Bewegung, die den Verlust der sozial- und wirtschaftspolitischen Souveränität des Staates beklagt, weil sie die für etwas Gutes hält, und eine vermeintliche Herrschaft des transnationalen Kapitals über die nationalen Gemeinschaften bekämpfen will, stellt fest, daß sie mit diesem Anliegen nicht ganz alleine ist. Nicht nur nationalsozialistische Aktivisten können einer solchen Kritik des "vaterlandslosen Kapitals" einiges abgewinnen; auch bürgerliche Politiker und Parteien verstehen da manches, nicht zuletzt dieses Einverständnis war verantwortlich für die Breite des Protests in Seattle und für die öffentliche Resonanz, auf die er stieß. Die politische Elite fürchtet freilich nicht gleich ihre Entmachtung zugunsten internationaler Gremien, auch wenn sie manchmal so tönt. Ihre Zweifel beziehen sich mehr auf die Nützlichkeit von IWF, Weltbank und WTO für die Interessen ihrer kapitalistischen Nation, und da sind viele Republikaner im US-Kongreß eben der Meinung, ihr Land brauche keine Kredite vom IWF, Länder aber, die sie brauchen, seien nicht wert, daß Amerika ihnen welche gibt. Sie sind ferner der Auffassung, die USA könnten sich in Handelsstreitigkeiten ohne WTO leichter durchsetzen usw. 


Die linke Bewegung, die die "WTO stoppen" und so lange demonstrieren will, bis sich IWF und Weltbank "auflösen", hat also manche falsche Nähe abzuwehren. So wie die Rechten meint sie ihre Kritik der supranationalen Institutionen nicht! Also verleugnet sie die einzige Konsequenz, die schlüssig aus einer Kritik der Liberalisierung folgt: "Wir glauben nicht, daß die Globalisierung durch Protektionismus der Nationalstaaten gestoppt werden kann." Man will dann doch nicht dafür eintreten, daß die Nationen ihre Konkurrenz um Nationaleinkommen und Währungen einfach ohne internationale Streitforen und Kreditagenturen austragen. Schön, aber wofür dann? 

Für eine Globalisierung von unten! 

Den bösen, national verantwortungslosen Mächtigen in den internationalen Gremien, die Not und Elend auf dem Globus zu verantworten haben, stehen die Opfer als die Guten gegenüber. Sie haben alles höhere Recht zur Gegenwehr und verfügen in ihren scheiternden Interessen auch schon über die richtigen, zukunftweisenden Ziele. Daß diese dazu die Charakterisierung des Übels als "reiner Shareholder-Kapitalismus"  und "absolute Marktwirtschaft", in der es "bloß um 
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Interessen unter die Räder kommen, adelt sie nämlich und prädestiniert ihre Träger zu globaler Solidarität und Freundschaft untereinander. Alle, die ihre Anliegen irgendwie durch die grenzüberschreitende Gewinnnmaximierung beschädigt sehen, müssen sic nur noch zu einer Internationale der Gutwilligen zusammenschließen: "Wie bei frühere Anlässen werden Menschen aus verschiedenen Bewegungen und Ländern ihre Kräfte an diesem Tag gegen die sozialen, politische und ökonomischen Institutionen des kapitalistischen Systems, die Weltbank und den IWF bündeln. ArbeiterInnen, Arbeitslose, StudentInnen, Gewerkschafterlnnen, Bäuerinnen und Bauern, die Landlosen, FischerInnen, Frauengruppen, ethnische Minderheiten, indigene Volksgruppen, Friedensaktivistlnnen, Umweltaktivistlnnen, Okologlnnen und so weiter werden in Solidarität miteinander arbeiten, in dem Verständnis, daß ihre verschiedenen Kämpfe nicht voneinander isoliert sind" (S26, Globaler Aktionstag gegen den Kapitalismus, siehe http://go.to/prag-2000). Daß dieses schöne Bild nicht stimmt, ist den Organisatoren des Protestes egal, und das verrät, wie wenig praktisch sie den globalen Zusammenschluß der Guten meinen. Wie sonst könnten sie übersehen. daß die Opfer der internationalen Konkurrenz, so wie sie gehen und stehen, zwar arm dran sind, aber eben als unterliegende Konkurrenten oder nicht benutzte Lohnarbeiter arm dran sind, deren ach so respektable Interessen auf nichts anderes zielen als darauf, die Konkurrenz nächstens besser zu bestehen. Wunderbare Koalitionen bringt der Aufruf zur Solidarität unter den internationalen "Globalisierungsopfern" zustande. Seite an Seite stehen da die armen Völker der Dritten Welt und ihre "armen Staaten", die diese Völker für ihr Bestehen in der Weltwirtschaft ruinieren; dazu gesellen sich dann noch kleine nationale Kapitalisten, die ihre "lokalen Märkte" an Global Player verlieren. 


In Seattle z.B. haben Dritte-Welt-Aktivisten Hungerlöhne, fehlenden Arbeits- und Gesundheitsschutz in den "Sweatshops" der Südhalbkugel angeprangert und die amerikanischen Konzerne, die diese Sweatshops betreiben. Mitdemonstrierende US-Gewerkschafter unterstützten sie: Solche unfairen Konkurrenzvorteile asiatischer Standorte kosten US-Jobs! Auch sie fordern höhere Löhne und "labor-standards" für Asien, weil diese wie Zölle wirken und asiatische Exportprodukte auf dem amerikanischen Markt verteuern. So bliebe dem amerikanischen Standort Konkurrenz aus Billiglohnländern erspart, und amerikanische worker könnten an job security dadurch gewinnen, daß Asiaten die Chance zum Geldverdienen erst gar nicht eröffnet wird. Wie wäre es mit asiatischem Mitleid für die US-Arbeiterklasse und einer schönen Demo in Thailand für Urlaub und Kündigungsschutz in den USA? Ökologische Gruppen wünschten der Dritten Welt Umweltschutz und gesunde Lebensbedingungen, wieder unter dem Beifall von Gewerkschaftern und US-Farmern, die daran die Verteuerung der Produktionskosten in den konkurrierenden Standorten schätzten. Solidarisch forderten Delegationen der mexikanischen Zapatistas und anderer lateinamerikanischer Bauerninitiativen das glatte Gegenteil: zinsgünstige Kredite für ihre landwirtschaftliche Entwicklung und bessere Zugangsbedingungen für ihre Produkte zum nordamerikanischen Markt. Wieder anderen galt das solidarische Mitleid der Bewegung dafür, daß  IWF und Agrobusiness ihnen landwirtschaftliche Exportproduktion aufzwingen und damit ihre armselige "Subsistenzwirtschaft" zerstören. 

Würde die Einheit der Globalisierungsopfer einmal nicht als konsequenzenlose Selbstgerechtigkeit, sondern als tatsächliche politische Front in Betracht gezogen, dann müßten die Aktivisten merken, daß sie sich über die Ländergrenzen hinweg in einer höchst paradoxen Sache einig sind: Gemeinsam malen sie das Unrecht, das die Globalisierung ihnen antut, als einen Verlust an Schutz der Wirtschaft, der Arbeitsplätze, der sozialen Sicherheit und der Umwelt aus  ein Schutz, für den der nationale Staat zuständig ist und auch sorgen würde, wäre er nicht längst durch die Liberalisierung entmachtet. 

Der Schutz aber, den ein Staat mit intakten Grenzen ihnen stiften könnte, ist nichts anderes als ein Schutz voreinander. Was sonst können Grenzen, Zölle, Kapitalverkehrskontrollen und ähnliches leisten, als den grenzüberschreitenden Geschäftsverkehr von einem Land zu einem anderen dem Gesichtspunkt des nationalen Vorteils zu unterwerfen? Wozu sonst könnten sie nützlich sein, wenn nicht dazu, auswärtige Ware, ausländisches Kapital und fremde Arbeitskräfte fernzuhalten, sobald diese mehr als schädliche Konkurrenz denn als erwünschter Beitrag zum nationalen Kapitalwachstum betrachtet werden? 

Schön international demonstrieren die Globalisierungsgegner dafür, daß alle Staaten sich von neuem auf das Wohl ihres jeweiligen Volkes verpflichten, sich auf diese, ihre eigentliche Aufgabe besinnen und sich aus internationalen Verstrickungen lösen. Der Idealismus, mit dem die Bewegung sich soziale und ökologische Ziele für einen besseren Staat ausdenkt, läßt sie auch dann nicht zum Feind der wirklichen politischen Macht werden, wenn diese die höheren Aufgaben immerzu vernachlässigt. Wer gute Aufgaben für die Macht im Kopf hat, hält sie bei aller Kritik für seinen eigentlichen Ansprechpartner. Die Praxis der Bewegung ist danach. 

Die Kultur zum Protest 

Die Aktivisten sind zufrieden, die Guten (= die Opfer) zu sammeln, oder richtiger:
dieses gar nicht existente Kollektivsubjekt in ihren Aktivitäten zu repräsentieren, und den Bösen (= den verantwortungslosen Mächtigen) ihre Verantwortungslosigkeit vorzuhalten. Deren Pflichtvergessenheit rücken sie in ein grelles Licht, indem sie lauter Dokumente des Gutseins der Guten abliefern. Auf keinen Fall wollen sie als entschlossene, in ihren Augen offenbar: verbiesterte Systemgegner erscheinen. Warum sonst muß ein Kampf gegen die staatliche und wirtschaftliche Macht "so global wie das Kapital sein und sehr viel kreativer". 

Sehr kreativ inszenieren sie ein Erscheinungsbild, das nicht Gegnerschaft gegen die Weltwirtschaftsordnung, sondern die eigene Verantwortlichkeit zum Ausdruck bringt. Entgegen der martialischen Ausdrucksweise zielt der Protest nicht darauf, Genossen für einen erst noch nötigen Kampf zu sammeln, sondern darauf, die "vierte Gewalt der Demokratie" zu betören. Von PR-Profis lernen die Organisatoren, "Bilder zu produzieren, die die Presse mag", und veranstalten mit Gags und Gigs einen Demonstrationskindergarten, der vor allem eines rüberbringt: Diese Menschen können nichts Arges im Schilde führen. "Beispiele für mögliche Aktionen sind: Streiks, Demonstrationen, Critical Mass Radfahrten, Karnevals, Straßenparties, Rückeroberung von Straßen, regierungseigenem Land oder Bürogebäuden für nicht-kommerzielle und gute Aktivitäten, Märsche, Musik, Tanz, Reden, Flugis verteilen, aufhängen von Bannern, verteilen von gemeinschaftlich kontrollierten Zeitungen, Straßentheater, anlegen von Gärten, verteilen von kostenlosen Lebensmitteln, simulierte Handelsmärkte, anbieten von zinsfreien Krediten vor den Gebäuden großer Banken, Solidaritätsaktionen, Streikposten, Besetzungen von Büros, Blockaden und spontane Schließungen, Aneignung und verteilen von Luxuskonsumgütern, Sabotage, Beschädigung oder Störung kapitalistischer Infrastruktur, Aneignung kapitalistischen Reichtums und Umverteilung an die arbeitende Bevölkerung, sich selbst unabhängig von kapitalistischen oder autoritären Regimes erklären .."
(Karawane nach Prag). 

Ja, es ist möglich, global solidarisch zu fühlen, wenn man von den Gegensätzen abstrahiert, in die diese Wirtschaftsweise die Menschen und Nationalitäten manövriert. Ja, manche Wohltat kann symbolisch verwirklicht werden. Und über sich selbst kann man ohne weiteres öffentlich erklären, daß man mit Kapitalismus und Faschismus nichts zu tun haben will. Im Pulverdampf ihrer Revolutionsszenen schleudern die Kämpfer gegen die Armut dann die äußerste Drohung gegen die Mächtigen, die ihnen einfällt: Wenn sich das "System" nicht schleunigst bessert, könnten sie glatt den Glauben verlieren, daß es das beste mögliche ist. "Wir werden dieses System nicht länger als Weg für den Fortschritt der Gesellschaft akzeptieren!" 

Peter Decker ist Mitarbeiter der Zeitschrift "GegenStandpunkt".


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