Kommentar "Der bürgerliche Staat" (1) § 1
Folgende
Kommentarreihe beschäftigt sich mit dem Buch "Der bürgerliche Staat"
(GegenStandpunkt-Verlag, München 1979) und soll zum einen die Ergebnisse eines
entsprechenden Arbeitskreises, der im 1. Halbjahr 1999
lief, reflektieren, zum anderen eine Arbeitshilfe für jene sein, die
sich den Stoff auch ohne Arbeitskreis aneignen wollen. Wer das Büchlein lesen
will aber nicht hat, wende sich an die Redaktion [1].
Einleitung
Das
zu besprechende Buch leistet die Erklärung dessen, was ein bürgerlicher Staat ist.
Es erklärt Grund, Zweck und Verlaufsform
der politischen Herrschaft im Kapitalismus, beschäftigt sich also mit den
gemeinsamen Prinzipien aller bürgerlichen Staaten. Als näher ausgeführte
Verlaufsform des Allgemeinen im Besonderen werden die Praktiken des hiesigen
Staates, der BR Deutschland, erläutert. Das Buch leistet eine wissenschaftliche
Analyse des bürgerlichen Staates, was eine vorauseilende Parteilichkeit für
den Gegenstand der Untersuchung verbietet. Die Autoren machen folglich auch
keine praktischen Vorschläge zur Verbesserung
staatlichen Wirkens, sondern benennen rücksichtslos Taten wie Opfer der
Demokratie, wobei sowohl die historische Durchsetzung demokratischer Herrschaft
wie auch ihre faschistischen wie revisionistischen Kritiken ihren Platz finden.
Der
Aufbau der Staatsableitung vollzieht sich dabei streng systematisch, die
einzelnen Bestandteile werden also nach ihrem logischen Zusammenhang behandelt.
§ 1 - Freiheit & Gleichheit -
Privateigentum - abstrakt freier
Wille
"Der
bürgerliche Staat ist die politische Gewalt der kapitalistischen
Gesellschaft." (S.8). Dies ist der abstrakte Begriff des bürgerlichen
Staates.
Als
politische Gewalt unterwirft er alle Bürger
ausnahmslos seinem Willen. Als bürgerlicher
Staat unterwirft er die Mitglieder seiner Gesellschaft unterschiedslos
[2]
seiner Gewalt und gewährt ihnen in dieser Form die Verfolgung ihrer ökonomischen
Interessen in der freien Konkurrenz, schafft also bei den Privatleuten Gleichheit
und Freiheit zu seinen Bedingungen.
Als
politische Gewalt der kapitalistischen
Gesellschaft verpflichtet der bürgerliche Staat seine Bürger darauf, ihre ökonomische
Konkurrenz unter der Respektierung des Privateigentums ablaufen zu lassen, d.h.
er sorgt dafür, dass jeder seiner Bürger als ausschließend verfügungsberechtigter
Eigentümer herumläuft
Der
Zwang zur Konkurrenz macht die Bürger
darauf angewiesen, das eine Macht getrennt
vom ökonomischen Leben ihnen die Mittel ihrer Konkurrenz: Person und Eigentum,
garantiert. Die Bürger ergänzen also ihren negativen Bezug aufeinander durch
die Unterwerfung unter die Staatsgewalt, die ihre Sonderinteressen [3]
beschränkt. Als politische Bürger
nehmen sie diese Beschränkung in Kauf, da sie ihren Sonderinteressen nur
nachgehen können indem sie zugleich auch von ihnen abstrahieren. "Der bürgerliche
Staat ist also die Verselbständigung ihres abstrakt freien Willens." (S.8)
a)
Schon im abstrakten Begriff des bürgerlichen Staates, also noch getrennt von
den konkreten Bezugsformen auf die Bürger, zeigt sich der ungemütliche Gehalt
der Realisierung von Freiheit und Gleichheit. Sie ist zum einen das Resultat
ökonomischer Gegensätze, deren Aufrechterhaltung zugleich ihr Zweck
ist. Die Durchsetzung von Freiheit und Gleichheit machen den bürgerlichen Staat
- schon vor jeder ökonomischen Betrachtung - zum Klassenstaat. Die Gleichbehandlung
aller, bei allerdings völlig unterschiedlichen Konkurrenzmitteln, erhält alle
vorgefundenen Unterschiede. Das Recht (dessen Kehrseite die Pflicht
ist), sich gemäß ihren Mitteln (Person/Eigentum) in der Konkurrenz zu
behaupten, sortiert die Bürger nach diesem Kriterium der vorhandenen Mittel in
die jeweilige Klasse. Einen Vorteil bringen Freiheit und Gleichheit denen etwas,
die über entsprechende Mittel (Kapital!) verfügen, die also ökonomisch im
Vorteil sind. Den Schaden haben jene,
deren kümmerliches Mittel die eigene Person ist, sich also auf das Feilbieten
der eigenen Arbeitskraft beschränkt [4].
Daß
die Mehrzahl der Bürger ihren Willen positiv auf den Staat bezieht, der sie und
ihren Materialismus beschränkt, ist zwar schon ziemlich verrückt, aber
durchaus zu erklären: Die Bürger wollen den Staat, da sie sich ohne ihn ihrer
Mittel gar nicht bedienen könnten: "vom praktischen Standpunkt erscheint
ihnen die Staatsgewalt als Bedingung der Konkurrenz, also wollen sie anerkannte
Staatsbürger sein, weil sie es wegen ihrer ökonomischer Interessen sein müssen."
(S.9) [5]
Der
Wille des Staatsbürgers hat also einen doppelten, durchaus gegensätzlichen,
Inhalt: "Die Gemeinschaftlichkeit, der politische Wille aller im Staat
beruht auf der erzwungenen Leistung des einzelnen Willens, der wegen des
privaten Nutzens, auf den es ihm ankommt, auch noch als abstrakt-allgemeiner
Wille auftritt." (S.9) Die Trennung der bürgerlicher Gesellschaft von
ihrem Staat findet ihre Analogie im Bürger selbst: Bourgeois / Citoyen.
b.)
Der bürgerliche Staat regelt gewaltsam die Konkurrenz, um sie stattfinden zu
lassen. Er erhält damit den Kapitalismus, eine Ökonomie, "in welcher die
Abhängigkeit der Individuen in der Produktion des gesellschaftlichen Reichtums
so organisiert ist, daß sie sich in der Verfolgung ihrer Interessen
wechselseitig die Teilnahme am Reichtum bestreiten."
(S.9) Die hier stattfindende wechselseitige Negation der jeweiligen
Sonderinteressen ist der Grund der Unterwerfung unter die Staatsgewalt, die dem
Bürger die Mittel des anderen als Schranke der Verfügungsmacht setzt. Die
Staat gebietet zugleich den Ausschluß von fremden Mitteln, wie er den Angriff
auf jene verbietet. "Das Privateigentum, die ausschließende Verfügung über
den Reichtum der Gesellschaft, von dem andere in ihrer Existenz abhängig sind,
also Gebrauch machen müssen, ist die Grundlage des individuellen Nutzens und
damit auch Schadens. Ihm verdankt sich die moderne Form der Armut, die sich
selbst als Mittel fremden Eigentums erhalten muß, dessen Wachstum selbstverständlich
dem Staat am Herzen liegt." (S. 10).
Durch
das Privateigentum an den Produktionsmitteln
(und damit den Produkten) der Gesellschaft erhält der Reichtum die Gewalt,
anderen die Existenz zu bestreiten. [6]
c.)
"So wenig der von gegensätzlichen Klassen praktizierte Staatsidealismus
eine Idylle darstellt, so wenig harmonisch verlief der freiwillige Zusammenschluß
zum Staat die "Staatsgründung, (...)" (S.10). Bürgerliche Staaten
sind das Produkt blutigster (Bürger-)Kriege und erlesenen Terrors. An ihrer
gewaltsamen Schaffung waren sowohl Bürger wie Proleten beteiligt und zwar
aufgrund ihrer gemeinsamen Gegnerschaft zum feudalen Staat. Für die einen war
der Feudalstaat ein Hindernis ihrer Geschäfte, die andern kämpften um ihre
Existenz. Die Notwendigkeit des Kampfes gegen den Feudalstaat schuf den Proleten
allerdings alles andere als einen Staat, der sich als ihr Mittel darstellte. Die
erkämpfte Form des Privateigentums wurde für sie zur bitteren Notwendigkeit,
sich im Dienste fremden Eigentums zu erhalten.
d.)
„Freiheit & Gleichheit“ ist ein Springquell der beständigsten
Ideologien, welche die Zunft der Geistes- und Gesellschaftswissenschaftler
hervorbringt. Während Linke auf die „mangelhafte Realisierung“ beider Ziele
der frz. Revolution aufmerksam machen – hier Ausgangspunkt sind die ja doch
sehr merklichen Unterschiede in der Gesellschaft, die sie leider mit einer Ungleichheit
vor der Staatsgewalt verwechseln – , bringen Bürgerliche den dämlichen Widerspruch zwischen Freiheit und Gleichheit zur Sprache: ein bißchen
mehr von dem einen führt natürlich zu ein bißchen weniger von dem anderen, so
dass man alles sowieso nicht haben kann und sich deshalb am Besten demütigst um
die Realisierung der mehr altruistischeren Ideale kümmert: Brüderlichkeit,
oder modern: Solidarität.
„Das
Interesse am Staat, die positive Stellung zu ihm beschwört das gemeinsame
Anliege und versucht, die offenkundigen Nachteile seines Wirkens mit einer
Staatsableitung eigener Prägung als notwendiges
Übel akzeptabel zu machen. Die Deduktion
des Staates aus der Menschennatur gehört zum Standardrepertoire jedes aufgeklärten
Studienrates und Professors ...“ (S. 11). Dieses Vorhaben ist nicht nur saublöd
und zirkulär, sondern auch astrein apologetisch: Der staatlich gesetzte Zwang
zu Konkurrenz mit seinen ökonomischen Eigentümlichkeiten wird absichtlich übersehen,
um dann das schiere Gegeneinander als Ausfluss der Menschennatur zu erklären,
die den Staat notwendig machen soll: homo homini lupus est
(Thomas Hobbes). Der Zirkel dieses Gedanken besteht darin, daß der
Mensch einerseits als Wesen, das jenseits des bürgerlichen Staates
existiert, vorausgesetzt wird, also der Grund ist, der den Staat notwendig
machen, andererseits soll ihm besagte Institution seine Existenz erst ermöglichen.
Die
Ehre, alles in der bürgerlichen Gesellschaft als glatte Wesenserfüllung des
Menschen zu (v)erklären, kommt den Politologen nicht alleine zu: Noch keine bürgerliche
Geistes- und Gesellschaftswissenschaft lässt es sich nehmen eine Definition des
Menschen abzugeben: „Den Staatsbürger mit seinen beiden Seiten, dem Materialismus der
Konkurrenz und dem in Abhängigkeit diktierten Staatsidealismus machen sich allesamt zum Anliegen, verfabeln ihn zur
anthropologischen Konstante, so dass die Zurichtung des Willens als eine einzige
Bestätigung der Menschlichkeit
erscheint: psychologisch, pädagogisch, politologisch, betriebswirtschaftlich
und literaturtheoretisch-linguistisch. “ (S. 12).
Bürgerliche Wissenschaft zeichnet sich eben dadurch aus, dass sie ihre Gegenstände nicht erklären, sondern rechtfertigen will (hierzu wird es in den nächsten Ausgaben noch reichlich Materialien geben, in denen wir einige ihrer Fehler aufdecken).
[1] Bei
entsprechendem Interesse wären wir durchaus bereit, trotz
notorischer Terminnot und trotz des wöchentlichen
"Kapital"-Seminars einen neuen Arbeitskreis zum bürgerlichen
Staat zu organisieren. Irgendwie finden sich immer ein paar Termine. Meldet
euch einfach bei uns.
[2] Der bürgerliche Staat kennt damit im Gegensatz zu seinem feudalen Vorgänger keine Standesprivilegien mehr. Vor seinem Gesetz sind alle Staatsbürger gleich.
[3]
Wer also das
exklusive Haben quasi als naturwüchsige Voraussetzung für seine Interessen
in Anspruch nimmt, kann auf jener festen und soliden Grundlage eigene
Nutzenabwägungen vornehmen und in aller Freiheit danach handeln. Diese
freien materialistischen Berechnungen haben „nur“ folgerichtig den
Haken, dass sie gegen die gleichartigen, eben auch auf ein ausschließendes Verfügungsrecht
über möglichst viele Dinge gehenden Kalkulationen und Anstrengungen all
der anderen stehen. Die Folgen sind entsprechende Interessenkonflikte,
Gewalt und eine staatlich inszenierte Absurdität: der Konkurrenzkampf ums
Geld. Die Gewalt, die diesem Konkurrenzverhältnis immanent ist,
monopolisiert der Staats bei sich und etabliert sie damit: Er verbietet die
private Gewaltanwendung und ersetzt sie, indem sie die hoheitliche Gewalt
hinter die nach ihren Regeln ins Recht gesetzten Interessen stellt und dabei
folgerichtig den Schutz des Eigentums durch den schäbigen Schutz der Person
ergänzt (Eigentümer sind zu mancher Schädigung der Lebensbedürfnisse und
Interessen anderer bereit).
Ohne Staatsgewalt wären die Mittel der kapitalistischen Konkurrenz (wer an Waren heran kommen will muß ihren Preis zahlen, um sie zu bekommen, braucht also eine entsprechende Menge Geld als Mittel des Kaufes) also keine Beschränkung des Interesses mehr, das ökonomische Gegeneinander würde dann ziemlich handfest ausgetragen werden. Kapitalismus erzeugt Gewalt und braucht die Staatsgewalt zu ihrer zweckmäßigen Benutzung.
[4]
Das ist im
wesentlichen das ganze Geheimnis jener allseits bestaunten wie
unausrottbaren "Phänomene" bürgerlicher Gesellschaften, wie der
Existenz von krassester Armut und größtem Reichtum direkt nebeneinander.
Wer ökonomisch im Vorteil ist, also nicht gezwungen ist, seine Arbeitskraft zu verkaufen,
sondern die Mittel besitzt, fremde Arbeitskraft für seine Zwecke produktiv
anzuwenden und daraus einen Profit
zu erheischen, der macht auch seinen Schnitt im bürgerlichen Staat. Wer
hingegen auf Lohnarbeit angewiesen ist, seine Arbeitskraft also in den
produktiven Dienst eines andern stellen muß, um dessen
Reichtum zu vermehren, für den reicht es bestenfalls zur armutsbedingten Notwendigkeit jeden Tag wieder aufs neue zur Arbeit zu dackeln und
ständig darauf angewiesen zu sein, seine Arbeitskraft zu erhalten: das lebenslange
Wechselspiel von Verausgabung und Reproduktion der eigenen Lebenskraft, bis
der Verschleiß nicht mehr zu kompensieren ist. Daß die Angewiesenheit auf
Lohnarbeit keineswegs die Garantie jenes kümmerlichen Überlebensmittels
bedeutet hat dabei einen einfachen Grund: Lohnarbeit
finde überhaupt nur dort statt, wo sich ihre Anwendung auch lohnt,
ansonsten unterbleibt sie und produziert ein stetiges Heer von Arbeitslosen.
Privateigentum
und Armut sind Voraussetzungen zur Erpressung von Lohnarbeit. Die Armut
einer ganzen Klasse ist so keine Abweichung vom Ideal einer optimalen
Reichtumsverteilung sondern kapitalistische Notwendigkeit, wie auch
Konsequenz. Das Kapital braucht zu seiner Vermehrung die Lohnarbeit, also
die Armut und das staatlich durchgesetzte Privateigentum garantiert dieses
Mittel ziemlich umfangreich.
[5] Die
Bürger sind dazu gezwungen, ihre Stellung in der Konkurrenz als
Ausgangspunkt jeglichen Treibens anzunehmen. Jede gewaltsame Mißachtung der
Beschränkung auf die eigenen Mittel, jedes praktische Ausscheren aus den
vorgeschriebenen Bahnen der Konkurrenz (wie Gelddrucken, Klauen oder
Kommunismus) wird so ein Fall für den Staatsanwalt. Die Zwänge des
Gesetzes sind den Bürgern eine Selbstverständlichkeit, sie beziehen ihren
Willen positiv auf die Verhältnisse die sie schädigen, nehmen sie als
Rahmen an, innerhalb dessen sie zurechtkommen wollen.
Die
theoretische Befassung mit der bürgerlichen Gesellschaft, also die Frage,
ob die Mittel als solche überhaupt
tauglich sind für ein anständiges Leben, ist total unüblich. Als
praktische Kritik, wie gesagt, schon gar nicht, immerhin müssen sogar
Kommunisten im bürgerlichen Staat Geld hergeben für ihr Butterbrot, sonst
kriegen sie es mit der Staatsgewalt zu tun, egal wie gut ihre Argumente
gegen das Geld sind. Ihnen zugute zuhalten ist jedoch, daß sie die
theoretische Kritik üben, anstatt sich wie Otto Normalverbraucher
den Zwang als Mittel zu denken und die Verhältnisse trotz seiner
permanenten Schädigung für das Vernünftigste von der Welt zu halten. Und:
- das als Bemerkung an alle, die sich die Kritik an Staat und Kapital noch
nicht haben nehmen lassen - die
theoretische Kritik ist immer Voraussetzung
ihres praktischen Vollzugs und steht daher zeitlich vor ihm an, ist deshalb
aber weder Selbstzweck noch ein Gegensatz zur Praxis. Darum machen wir
Theoriearbeit.
[6] Seine ausschließende Gewalt erhält das Privateigentum also nicht dadurch, daß Peter eine andere Zahnbürste als Klaus benutzt (was Kommunisten so gerne unterstellt wird, wenn sie gegen das Privateigentum agitieren) sondern durch die Verfügungsgewalt über die Mittel der gesellschaftlichen Produktion und Reproduktion.