Thesen zum Rechtsstaat 



These 1
Das Lob des Staates: „Gott sei Dank leben wir in einem Rechtsstaat, denn da kann der Staat nicht alles mit einem machen“, verklärt den Umstand, dass hierzulande der Staat selbst Recht und Gesetz unterliegt, zu einem Schutz der Bürger vor dem Zugriff der Herrschaft.
a) Dass der Staat Rechtsstaat, also selbst dem Recht verpflichtet ist, wird allgemein als Selbstbeschränkung des Staates angesehen, weil das Staatshandeln selbst einem höheren Recht unterstellt sei, an dem jenes gemessen werde. 
Nun ist es aber der Staat selbst, der mit seiner Gewalt die Autorität des Rechts garantiert. Wenn es aber der Staat und nur der Staat ist, der dem Recht Geltung verschafft, dann ist das Recht und damit dessen Inhalt auch sein Werk. Die angebliche Beschränkung des Staats durch das Recht ist also gar keine, weil das Recht weder über dem Staat steht, noch von ihm unabhängig ist, sondern Resultat seines Wirkens. Dann ist es aber auch kein Hindernis für ihn, sondern die Art und Weise, wie der Staat seine Herrschaft über Land und Leute ausübt.
b) Gelobt wird der Staat dafür, dass er nicht alles - was man ihm zutrauen würde - mit einem machen kann. Irgendwelche Wohltaten sind es also nicht, die man an ihm positiv hervorhebt, sondern das Gute am Staat soll die Beschränkung einer Fähigkeit sein, von der noch nicht einmal der Lobredner erbaut ist: der Fähigkeit nämlich, dass der Staat die Herrschaft ist, die mit ihren Untertanen nach Belieben umspringen, eben „alles machen“ kann. Das Lob des Rechtsstaats kürzt sich also darauf zusammen, dass der, obwohl er einen nach Lust und Laune traktieren könnte, beim Traktieren nach gewissen - selbsterlassenen! - Regeln verfährt. Ein etwas bescheidenes Lob!
c) Verdächtig ist auch der Umstand, dass dieses Lob der Demokratie nur über den Vergleich mit etwas „viel Schlimmeren“ zustandekommt, gemessen an dem sich der Rechtsstaat als zivilisatorische Leistung ausnimmt: Der Rechtsstaat wird mit „Willkürherrschaft“ verglichen. Wenn - so die Behauptung - nicht wie im Rechtsstaat alles Staatshandeln am Recht gemessen wird, werden die Untertanen nach Lust und Laune von hab- und machtgierigen Despoten maltraitiert. Dieser Vergleich ist ein großer Unsinn. Jede Herrschaft - von den finstersten Barabarenstämmen über das Ancien Régime bis zur Demokratie - hat ihre Vorhaben und Ansprüche, die sie den Beherrschten aufzwingt; diese Herrschaftszwecke sind daher weder beliebig, noch ändern sie sich dauernd, noch handelt es sich um grundlosen, aber abgrundtief bösen Despotismus. Womit der Rechtsstaat also verglichen wird und welche Art der Herrschaftsausübung er sich selber verbieten soll, ist ein bloßer Pappkamerad, den es gar nicht gibt. 
Die andere Seite, die Rechtsstaatlichkeit, erhält durch den Vergleich die absurde Bestimmung, das schiere Gegenteil, nämlich ausgerechnet Selbstbeschränkung des Staats und sonst nichts zu sein - als gäbe es in der modernen Demokratie keine bestimmte Staatsräson, aus der sich auch die Gründe für das rechtsstaatliche Procedere ergeben.
In Hinsicht auf die gelobte Rechtsstaatlichkeit unterscheidet sich die Demokratie übrigens weder von faschistischen noch von realsozialistischen Staaten. Die sollte das Lob des Rechtsstaats aber sicher nicht miteinschließen. An diesem Punkt merkt man, dass die gute Meinung über den Staat vor der Befassung mit ihm feststand und dass sich das Lob diesem vorgefassten Standpunkt verdankt. 
d) Wer den Staat dafür lobt, dass er „nicht alles“ mit seinen Bürgern macht, nimmt nicht nur zur Kenntnis, dass er Untertan einer Herrschaft ist. Er führt sich selbstbewusst als der Knecht auf, zu dem ihn die Herrschaft macht: Der Umstand der Herrschaft, dass man unterworfen ist, gilt weder als ärgerlich noch als kritikabel, sondern ist abgehakt, wenn die einzige Frage ist, unter welche Art von Obrigkeit es einen verschlagen hat; und die Antwort lautet entsprechend: Gut hat man`s mit seiner Herrschaft getroffen; der Bürger hat nämlich auch Rechte!
e) Das Recht ist kein Schutz des Bürgers vor dem Zugriff des Staates, sondern die Art und Weise, wie er seine Herrschaft ausübt. Indem der Staat Land und Leute auf sein Recht verpflichtet und kundtut, dass er sie bloß im Verhältnis dazu beurteilen will, sich selbst also auf sein Recht verpflichtet, dokumentiert er, dass er bei der Ausübung seiner Herrschaft keinem Partikularinteresse in der Gesellschaft dienen will, sondern über allen Interessen, die sich an sein Recht zu halten haben, steht. Dem Recht und der damit eingerichteten Ordnung will er dienen.

These 2
Das Lob des Staates: „Regeln braucht es doch fürs Zusammenleben“, verklärt den Umstand, dass der Staat durch das Recht sich die Leute unterwirft, zu einem Dienst am Zusammenleben.
a) Wenn es Regeln im Zusammenleben der Leute braucht, dann sind die Regeln auch im Interesse der Leute: Gehören sie doch zum Benutzen oder Verfolgen einer gemeinsamen Sache dazu. Solche Regeln sind dann aber auch das Mittel der Leute und müssen nicht gewaltsam gegen sie durchgesetzt werden. Einen Staat, eine oberste Gewalt braucht man für solche Regeln nicht.
b) Wenn der Staat es ist, der mit seinem Recht das Zusammenleben der Leute reguliert, dann setzt er mit seinem Gewaltapparat (Polizei, Justiz) seine Regeln gegen die Leute durch. Die Regeln entspringen dann nicht den Interessen der Leute, sondern beschränken diese. Bei solchen Regeln handelt es sich dann nicht um das schlichte „Wie soll etwas organisiert werden“, sondern um ein Gewaltverhältnis, in dem der Staat sich die Interessen der Leute unterordnet und seinen herrschaftlichen Zweck an ihnen exekutiert. 
c) Wenn es für das Zusammenleben der Leute die Unterordnung unter die staatlichen Regulierungen, also die Beschränkung der Leute durch den Staat braucht, dann ist die regulierte Sache, das Zusammenleben der Leute, nicht ihr Projekt, sondern das des Staates. Dann herrscht aber auch der Staat mit den sogenannten Spielregeln der Gesellschaft seinen Zweck auf, dem die Leute zu dienen haben.

These 3
Das Lob des Staates: “Der Mensch braucht den Staat, weil ohne die Verpflichtung aufs Recht würden die Menschen sich zerfleischen”, verklärt den Umstand, dass der Staat die Leute mit der Unterwerfung unter das Recht auf lauter Gegensätze verpflichtet, zu einer Zivilisierung des Menschen. 
a) In diesem Lob des Staates werden dem Menschen zwei sich widersprechende Eigenschaften zugelegt: Einerseits soll er einer sein, der in seinem Tun und Treiben immer auf Mord und Totschlag sinnt. Andererseits wird der Mensch als einer vorgestellt, der den Staat braucht. Der Staat soll ihm dadurch dienen, dass er ihn am Hauen und Stechen hindert. Wenn das der Dienst ist, den der Staat dem Menschen leistet, dann ist aber auch das Zerfleischen nicht im Interesse des Menschen. Also muss wohl der Mensch andererseits einer sein, der das Morden und Totschlagen nicht will, sondern nach Zähmung schreit. So ist die eine im Lob behauptete Seite des Menschen das bloß negative Abziehbild der anderen. Der Lobredner muss sich deshalb schon die Rückfrage gefallen lassen: “Ist jetzt der Mensch eine Sau oder ist er eine Anti-Sau?”
b) Im Lob des Staates soll die Notwendigkeit des Staates durch die Menschennatur begründet werden, die nach Unterwerfung unters Recht schreit. Wenn der Mensch aber nun einer ist, der die Notwendigkeit, seinen inneren Wolf zu unterdrücken, einsieht, dann braucht er keine Gewalt über sich, die ihn zähmt. Ist er einer, der bloß auf andere losgehen will, dann will und braucht er keine Gewalt, die ihn bremst, - ganz abgesehen davon, dass das Recht keine einzige Gewalttat verhindert. Weder im einen noch im andern Fall ist der Staat durch die angebliche Natur des Menschen begründet.
c) Im Lob des Staates wird das “sich gegenseitig zerfleischen wollen” als sich von selbst verstehende Charaktereigenschaft der Menschen gehandelt. Im Gegensatz zu dieser Tautologie, die als Grund für das bestimmte Tun und Treiben der Leute immer bloß angibt, dass die Leute halt so sind, weiß doch jeder, dass wenn einer auf den anderen losgeht, der schon seine Gründe hat. Der eine sieht sich nämlich durch den anderen in bezug auf Sachen bestritten, die er als wesentlich erachtet.
Im Lob des Staates ist dieses Aufeinanderlosgehenwollen als ganz normale Umgangsform unterstellt. Es verweist darin auf ein ‘lustiges’ Miteinander der Leute: Die sind offensichtlich damit beschäftigt, sich wechselseitig ihre Interessen zu bestreiten. Dass der Nutzen des einen der Schaden des anderen ist, kann aber weder aus einem grundlos bösen Charakter, noch aus der Unterschiedlichkeit von Interessen folgen. Vielmehr müssen die Leute schon in Verhältnisse gestellt sein, in denen sie über ihre Mittel in Gegensatz zueinander geraten. Diesen Interessensgegensatz der Leute halten die Apologeten aber für so natürlich, dass sie im Staat nur noch eine Art Besserungsanstalt sehen. 
d) Der Staat bezieht sich mit dem Recht auf die Interessensgegensätze der Leute. Er legt damit fest, wieweit sie einander die Mittel bestreiten dürfen. Dabei ist die Beschränkung der gegensätzlichen Interessen (nur so weit und nicht weiter darfst du dem anderen die Mittel bestreiten) immer zugleich deren Zulassung (aber so weit darfst du). Beides, sowohl das Insrechtsetzen der gegensätzlichen Interessen als auch deren Beschränkung ist das Werk des Staates. 
Dann beschränkt er aber auch den Gegensatz der Interessen, um ihn stattfinden zu lassen.

These 4
Der Grund der flächendeckenden Verrechtung des gesellschaftlichen Zusammenlebens ist das Prinzip Eigentum, auf das der Staat seine Leute verpflichtet.
Mit dem Recht verordnet der Staat seiner Gesellschaft nicht irgendein Prinzip des gesellschaftlichen Zusammenhangs, wie es in obigen Ideologien behauptet wird, sondern er ordnet ihr Miteinander dem Privateigentum unter. 
a) Die staatliche Garantie des Eigentums genießt den Ruf, eine Einrichtung im Interesse der Benutzung nützlicher Sachen (z.B. Fahrrad, Computer) zu sein. 
Dass es bei der Eigentumsgarantie nicht um den Schutz oder die Ermöglichung des Gebrauchs von schönen Dingen geht, könnte einem spätestens dann auffallen, wenn man zur Polizei geht, und den Diebstahl z.B. eines Fahrrads meldet. Ein neues Fahrrad zum weiteren Gebrauch bekommt man auf keiner Polizeiwache der Welt. Aber noch nicht einmal große Hoffnung auf die Wiederbeschaffung gestohlener Gebrauchsartikel darf man sich als Anzeigeerstatter machen, - wie einem die Beamten vor Ort glaubhaft versichern.
Umgekehrt ist für den Gebrauch einer Sache keinerlei Eigentumsgarantie erforderlich. Das kann einem jeder Dieb vor Augen führen, wenn er wie wild in die Pedale tritt und sich davon macht. Der Gebrauch ist bloß ein Verhältnis des Gebrauchenden zu einer Sache, deren Eigenschaften er sich nutzbar macht. 
b) Aber das Lob des Eigentums meint ja auch nicht einfach Gebrauch, sondern lebt von der Idee, dass es nicht ausreiche, über den entsprechenden nützlichen Gegenstand zu verfügen und ihn zu benutzen. Vielmehr müsse das - bloß faktische - Verfügen durch das ausdrückliche Verfügungsrecht über die nützlichen Sachen überhaupt erst abgesichert werden. Und das ist komisch, weil die Unterstellung davon ist, dass man über irgendwelche Gebrauchsgegenstände nur dann verfügen kann, wenn man auch über sie verfügen darf.
Dann ist aber Eigentum nicht die Ermöglichung des Gebrauchs, sondern das Gegegenteil: Das vom Nutzungsverhältnis unabhängige Recht, über Sachen zu verfügen und damit gerade diejenigen, die sie brauchen, davon auszuschließen. Nur dann, dann aber auch immer, muss man sich das Recht auf eine Sache erst erwerben, damit man sie benutzen kann.  
Eigentum, das ausschließende Verfügungsrecht anderer über die Gegenstände des eigenen Bedarfs, ist also unterstellt, wenn man dies ausschließende Verfügungsrecht - ausgerechnet! - zur Art und Weise des Zugangs zu Gebrauchsgegenständen umdefiniert.
c) Das Privateigentum, die ausschließende Verfügung von Privatpersonen über den Reichtum der Gesellschaft, von dem andere in ihrer Existenz abhängig sind, also Gebrauch machen müssen, ist keine Frage von Zahnbürstchen oder Fahrrädern, obwohl es im Bereich des individuellen Konsums seine Wirkung zeitigt. Die Abhängigkeit von dem, was anderen gehört, spielt sich auf dem Felde der Produktion und Reproduktion des gesellschaftlichen Reichtums ab. Mit der ausschließlichen Verfügung über die Produktionsmittel und damit über die Produkte erhält der Reichtum die Gewalt, anderen ihre Existenz zu bestreiten.
d) In einer Gesellschaft,  in der keiner ohne den anderen über die Runden kommt, verordnet der Staat, dass alles der ausschließenden Verfügungsmacht von Privatpersonen untersteht. Die Leute sind also so voneinander abhängig, dass jeder über die Mittel des anderen ausschließend gegen ihn verfügt. Es gilt, den anderen mit seiner Abhängigkeit zu erpressen und sich darüber zu bereichern. Dann ist der Nutzen des einen der Schaden des anderen. Und weil dieser Konkurrenzkampf im gegenseitigen Ausschluss und in der wechselseitigen Schädigung besteht, setzt er nicht nur eine Gewalt voraus, die ihn initiiert, sondern die tagtäglich mit ihren gesetzlichen Regelungen und ihrer Jurisdiktion den Ausschluß aufrechterhält und den Gegensätzen eine Verlaufsform gibt.