"Die demokratische Wahl - Schule des Nationalismus"
von Peter Decker, der auf einer Veranstaltung der Roten Liste SoWi am 11.10.1994 in der Uni Göttingen gehalten wurde. Anlass war das "Superwahljahr 1994".
Ich gehe davon aus, daß hier sowieso die Meinung vorherrscht: "Na ja, wählen bewirkt wenig oder gar nichts" ... aber davor will ich eben warnen. Und ich möchte einen anderen Zugang zu dem Thema wählen, denn ich weiß ziemlich gut, daß das Argument "Wählen bewirkt wenig oder gar nichts" im Großen und Ganzen der Auftakt dazu ist, daß man dann eben doch auf die Suche geht, wem man denn unter all den schlechten Alternativen noch am ehesten sein Vertrauen schenken könnte; wen man dann doch irgendwie als das kleinere Übel ausmacht. Deswegen möchte ich den Spieß richtig umdrehen. Ich möchte nicht sagen: "Wählen bewirkt wenig oder gar nichts." Ich möchte erläutern, was das Wählen ist und was es bewirkt.
Wenn man sich das bis zum Ende durchdenkt und sich die Behauptung von mir einlösen läßt, dann kommt heraus: Das Wählen bewirkt eine ganze Menge. Es stellt die Nation auf die aktuellen Bedürfnisse der Regierung, auf die aktuellen Ambitionen des Staates ein und um. Meine Behauptung heißt: Durch die Wahl schließt sich der Staat mit dem Volk immer wieder neu zusammen, und das ist auch nötig, denn in den vier Jahren dazwischen produziert er jede Menge Unzufriedenheit bei den Leuten. Er schließt sich mit den Leuten zusammen dadurch, daß er ein Verfahren anzettelt, indem eine Zustimmung zum Regiertwerden organisiert wird, und zwar darüber, daß der Staat den Bürgern die Entscheidung, wer es machen soll, überläßt. Daß regiert wird, steht nicht zur Entscheidung. Daß die Nation und ihre Staatsraison verfolgt werden müssen, steht nicht zur Entscheidung. Zur Entscheidung steht: Kohl oder Scharping. Unter der Hand wählt jeder Bürger, der den einen oder den anderen wählt, daß er vier Jahre lang das Maul zu halten hat, wenn regiert wird, und zwar gleichgültig, ob der drankommt, den er gewählt hat, oder der drankommt, den die Mehrheit, aber er nicht gewählt hat. Der Gehorsam ist in jedem Fall verlangt, ob man nun dafür war, daß der regiert, der herausgesucht worden ist, oder nicht.Die Wahl ist ein Akt, in dem der Staat sich die Ermächtigung vom Volk zum Regieren immer wieder neu holt, die er in Wahrheit aber nie zur Disposition stellt. Denn so ist es auch nicht, daß, wenn tatsächlich 100 Prozent Wahlenthaltung wären, der Staat sagen würde: "Gut, dann treten wir eben ab", sondern dann würde eben ohne oder mit nur 20 Prozent oder, wie in Amerika, nur 40 Prozent Wahlbeteiligung der Präsident herausgefunden, und dann regiert der Präsident mit voller Macht. Die Macht wird nicht geschmälert, wenn die Wahlbeteiligung geschmälert wird.
Man merkt: Nicht, daß die Regierung, daß die Staatsmacht nicht zustandekäme, wenn die Leute daheim bleiben, aber der Zusammenschluß von Volk und Staat von unten fände nicht statt. Am Ende lassen es sich die Leute bloß noch gefallen und sind nicht mehr dafür, am Ende sind sie passive, nur noch regierte, und gar nicht gerne regierte Mitglieder des Gemeinwesens. Das ist die Stabilität der Demokratie, daß diejenigen, die regiert werden, diejenigen, die den Gesetzen unterworfen sind, diejenigen, die nichts mitzuentscheiden haben über die Gesetze, für den Zustand sind, in dem sie nichts mitzuentscheiden haben. Das ist der Kunstgriff einer Herrschaft, wo die Herrschaft über Leute von denen, die sie beherrscht, bejaht, akzeptiert, begrüßt wird.
Dieses Paradox der Demokratie wurde und wird von politischen Kritikern in zweierlei Richtung falsch aufgegriffen, falsch erklärt. Das eine ist die klassische Linke, heutzutage am ehesten vertreten durch die MLPD. Die sagen: Die Menschen sind Opfer der Manipulation, die werden mit falschen Versprechungen gelockt, mit unehrlichen Gesten beschissen, und nur so hinter's Licht geführt können sie bereit sein, einem Kohl noch einmal ein Mandat zu geben, der doch, das ist doch unübersehbar, heutzutage in Deutschland mehr Armut gebracht hat, als es in der ganzen Nachkriegszeit gab, der doch die Außenpolitik militarisiert, was doch kein wohlwollender Mensch wollen kann. Die glauben auch nicht, daß das wirklich stattfindet, daß Menschen für die Herrschaft und Ordnung sind, in der sie die Ansgeschmierten sind. Das glauben die nicht, deswegen sagen sie: "Das kann nicht sein, das kann nur durch Tricks und Schwindel zustandegekommen sein." Und schon sind sie dabei, selber ins Manipulieren einzusteigen, Gegenmanipulation zu machen und sich als den wahren Volksvertreter hinzustellen. Also nichts anderes als das, was im Grunde dann alle Politiker machen: Jeder Politiker erklärt sich doch, wenn's ans Wählen geht, zum Vertreter des ehrlichen Arbeiters. Wer ist denn schon gegen einen ehrlichen Arbeiter, noch dazu, wenn er nicht viel verlangt.
Der entgegengesetzte Standpunkt zu diesem Thema ("Wie kommt es, daß die Leute, die nichts davon haben, zu Parteigängern des Gemeinwesens werden, daß ihnen die Lebenslage, die oft gar nicht so erfreuliche Lebenslage, beschert?"), der wird im Augenblick am ehesten aus dem Umkreis der Konkret-Redaktion vorgetragen. Die sagen, sie haben in den Deutschen einfach unverbesserliche Nationalisten vor sich. Seit Bismarck, seit dem Kaiser, seit Adolf immer dasselbe, der Deutsche ist ein Nationalist und Rassist, letzten Endes ein unverbesserliches Menschenmaterial für den Linken mit seiner besseren Absicht. Diese Kritik wird schnell elitär und klagt darüber, was die anderen doch für Arschlöcher sind.
Das sind zwei Weisen, sich mit dem Paradox zu befassen, und das Paradox ist echt, und man muß sich mit ihm befassen, mit dem Paradox der Demokratie: Wir leben in einem Staat, in dem es unzweifelhaft Herrschaft gibt, in dem es unzweifelhaft eine Zuweisung von Lebenschancen gibt, die den einen Reichtum und den anderen Not und ein Leben voller Arbeit, bei dem nichts herauskommt, bescheren. Und da können sie noch von Glück reden, denn es gibt noch andere, die werden in einer Welt, wo man nur durch Lohnarbeit überhaupt leben kann, nicht gebraucht, und auch deren Teil wächst. In einem solchen Land sind die Unterworfenen fürs regiert werden - diejenigen, deren Interesse offenbar nicht die Leitlinie des Regierens ist.
"Warum machen das die Leute?" - Na ja, ist doch klar, die Antwort ist schnell gesagt: Das ist natürlich ein Fehler, was sie da machen. Sie tun ihren Interessen und sich nichts Gutes mit dem, wie sie da votieren, zu welchen šberlegungen bezüglich Deutschlands und des Regierens sie sich animieren lassen. Das ist aber nicht der Witz, warum sie's tun. Es ist klar, weil sie sich irren, weil sie einen Fehler machen. Die interessante Frage ist, wie sie dahin kommen.
Und wie sie dahin kommen, das will ich eben an dem Thema Arbeitslosigkeit und Aufschwung erläutern. Es wird eine Erläuterung, die dann auch deutlich machen wird, daß die Nationalisten keineswegs erst die Leute sind, die sich einen Baseballschläger holen und Ausländer totschlagen, sondern daß Nationalismus die allgemeinste theoretische Haltung zu Politik, Gesellschaft und Wirtschaft ist. Und deswegen ist sie auch geeignet, in jedem Moment, wo es eine Regierung brauchen kann, in die größte Mordlust zu eskalieren. Andersrum: Wie schaffen es Politiker, die Zustimmung zu sich und ihrem Regieren zu bekommen, ohne daß sie beim Volk Illusionen über das, was für die Leute herauskommt, hervorrufen. Schaut Euch den Wahlkampf an, der geht nämlich nicht nach dem Muster: "Ich bin der beliebteste Politiker, ich verspreche, daß das BAFöG steigt"; "Ich bin der beliebteste Politiker, ich verspreche, daß der Mutterschutz steigt"; "Ich verspreche, daß die Löhne steigen und daß die Arbeitsplätze mehr werden". Wenn man sich den Wahlkampf anschaut, der geht genau umgekehrt. Der geht zum Beispiel mit dem Argument: "Man muß doch ehrlich sein, die Belastungen werden nicht weniger, sondern mehr.
"Es ist nicht so, daß beim Wählen den Leuten so etwas wie ein Bild nationaler Wohlfahrt vorgegaukelt würde, das dann mit der Realität nicht übereinstimmt. Es ist ganz eigen: šber die Lasten und Opfer, die anstehen, werden die Menschen nicht im Unklaren gelassen. Und dann sind sie immer noch dafür.
An diesem Punkt wird dann der Vorwurf der sinnlosen Destruktivität an den Kritiker, in diesem Fall bin ich das, herangetragen. Das Einklagen der fehlenden konstruktiven Vorschläge, wie es in Zukunft besser zu machen sei, ist gewissermaßen selber noch der härteste Wahlkampfschlager.
Wenn im Wahlkampf sich wirklich mal jemand verirren würde zu sagen: "Wo kommt denn die Arbeitslosigkeit eigentlich her?", da kommt sofort die Gegenfrage: "Ja, wie wollen Sie das beseitigen, wie wollen Sie die Arbeitslosigkeit überwinden?"
Ja, irgendwann muß das Argument kommen: Ich will diesen Staat gar nicht verwalten, ich will diese Wirtschaft beseitigen, in der die Arbeit so verteilt wird, daß die einen mehr als genug zu tun haben und die anderen arbeitslos sind. Aber dann, wenn ich das mache, wenn ich die Veränderung einführe, dann muß ich schon auch ehrlich zugeben: Das verträgt sich mit der Rentabilität des Kapitals nicht, das verträgt sich nicht mit einem Aufschwung der deutschen Wirtschaft auf dem Weltmarkt, das verträgt sich nicht mit der Durchsetzung deutscher High-tech-Produkte sonstwo. Das heißt, dann muß ein ganz anderes Lohnen her, nämlich was die Leute von ihrer Arbeit haben. Warum soll denn das nicht möglich sein, daß man die notwendige Arbeit, die man braucht, um Unis und Kindergärten zu bauen und die Leute zu ernähren und Eisenbahnen fahren zu lassen zweckmäßig verteilt. Wenn natürlich das Prinzip herrscht: "So billig wie möglich einkaufen und so lange wie möglich benutzen", dann sind Arbeitslose die logische Konsequenz und in Wahrheit noch nicht einmal ein Problem. Es ist schon die erste Lüge unseres Gemeinwesens zu sagen: "Die Arbeitslosen sind ein Problem." Die sind keines, die sind ein Erfolg. Arbeitslose sind ein Erfolg der Rationalisierung, ein Erfolg des Wachstums des Kapitals in Deutschland. Wenn sie ein Problem werden, dann werden sie ein Problem, weil sie kriminell werden, oder dann sind sie dem Staat, bzw. der Gesellschaft nicht mehr recht, weil sie rechtsradikal werden. Aber sonst sind die doch kein Problem. Brutal gesprochen: Das einzige Problem, daß sie sind, ist, daß man sie nicht gleich in den Orkus schießen kann. Das würde der Nation gut tun. Nur die, die wirklich nützen, leben lassen. Aber dafür sind wir zu human, wir lassen sie halt rumkrebsen. Und dazwischen wird das Arbeitslosengeld gekürzt und die Arbeitslosenhilfe befristet, denn wer es in eineinhalb Jahren nicht schafft, wieder einen Arbeitsplatz zu finden, der ist ja offensichtlich für den Arbeitsmarkt ungeeignet.
Also, um es noch mal deutlich zu sagen: Zum Problem "Wie bekämpfen Sie die Arbeitslosigkeit?", zu diesem Thema hab' ich keinen Beitrag. Ich sage, es ist sowieso eine Drecksgesellschaft und ein Scheißsystem, wo Arbeit nicht als notwendiges šbel, sondern auf einmal Arbeit als ein Segen, als ein Privileg gehandelt wird, das bloß manche genießen. Arbeit ist ein notwendiges šbel, die verteilt man zweckmäßig und hält sie knapp. Bei uns ist das Gut Arbeit knapp. Das Verlangen, man solle konstruktiv sein, man solle Vorschläge machen, dieses Verlangen machen die demokratischen Parteien sich wechselseitig. Wenn irgendeiner mal abweichlerisch denkt, kriegt er sofort den Realismushammer: "Hast Du einen Beitrag dazu zu machen, wie's hier läuft, was hier die Prioritäten sind, was hier die Sachzwänge sind." Und wenn ich mich auf all das einlasse, brauche ich überhaupt keine Oppositionspartei mehr aufstellen. Die regieren nämlich todsicher genauso wie Kohl. Wenn alle Prioritäten gleich bleiben, alle Sachzwänge, die Eigentumsverteilung, das Rentabilitätsprinzip, das kann ich nicht besser machen als Kohl, der kann's doch ganz gut, das. Entweder ich will was anderes, dann darf ich aber auch nicht behaupten, ich könnte dazu Beiträge machen, das würde ich besser machen.
Aber zurück zum Thema "Wahlkampf". Ich wollte einmal darstellen, wie dieser idealtypisch funktioniert:
Im ersten Schritt erklären sich die Politiker zu den Vertretern und Auftragnehmern der Sorgen und Nöte, die die Bürger so haben. Im ersten Schritt gilt das Bedürfnis des Bürgers, seine materielle Knappheit, seine Not. Es gilt das Argument: "Die Steuern sind eigentlich sauhoch in unserem Land, ziemlich belastend", es gilt das Argument: "Wir haben furchtbar viele Arbeitslose, das ist nicht in Ordnung", es gilt das Argument: "Wir dürfen uns mit 3,5 Millionen Arbeitslosen auf Dauer nicht abfinden". Warum es die gibt, wird nicht diskutiert, weil Wahlkämpfer praktisch sind. Sie erklären sich zuständig für die Sorgen, und dann sind sie mit Abhilfe befaßt. Mit dem Warum sind sie nicht befaßt, und jeder kriegt in der demokratischen Konkurrenz eine absolute Zensur, wenn er mit dem Warum anfängt.
Was kommt dann? Dann kommt eine Diagnose, die selber schon keine Diagnose ist, sondern die immer die gewünschte Therapie in eine Erklärung übersetzt. Also: "Warum gibt's so viele Arbeitslose?" - Antwort: "Weil der Standort Deutschland weltweit in der Konkurrenzfähigkeit zurückgefallen ist." Da möchte man fragen: "Wenn's so ist, warum gibt's denn Arbeitslose in Japan?" Ist Japan auch zurückgefallen? Sind sie alle zurückgefallen? Wohin denn? Hinter wen denn? Es gibt doch überall Arbeitslose, das kann doch nicht die Wahrheit sein, oder? Dennoch: "Der Standort Deutschland ist zurückgefallen" - das ist die Diagnose. Aber die Diagnose hat es selber sofort drin: Der Standort Deutschland muß wieder aufgemöbelt werden. Was kann man für die Arbeitslosen tun, so wie sie dastehen mit ihrem Elend und ihrer Perspektivlosigkeit und ihrer Geldknappheit? - Den Standort Deutschland aufmöbeln! Was kann man dafür tun? - Den Kapitalisten Geld schenken! Die SPD sagt: "Wir brauchen eine Forschungsoffensive", die CDU sagt: "Wir brauchen neuartige High-tech- Produkte" (ist ein und dasselbe). Alle miteinander sagen sie: "Man muß die Steuerbelastung für die Unternehmen senken." Was kann man für die Armen im Land tun? - Den Reichen Geld geben! Wer sonst kann für die Armen was tun, wenn nicht die Reichen?! Die müssen genug haben, so daß sie investieren.
Was tun die Unternehmer mit dem geschenkten Geld? Die Vorstellung heißt: Arbeitsplätze bauen. Die Wahrheit ist: Das geschenkte Geld erhöht erst mal ihre Rendite, sie haben höhere Erträge. Ihnen werden Kosten erlassen, die es gestern gab und dann ist beim selben Verkaufspreis mehr Gewinn drin.
Und was machen sie damit? Je nach Geschäftslage. Und wenn sie tatsächlich glauben, sie sollten für ihre Konkurrenzfähigkeit was tun, was machen sie dann? Sie rationalisieren erst recht, kaufen neue Maschinerie und ersetzen wieder Arbeit durch Maschinen. Genau das Mittel, womit man die Arbeitslosigkeit bekämpfen will, ist das Mittel, mit dem sie geschaffen wird. Das Wachstum des Kapitals geht über den laufenden Ersatz von Arbeit, bezahlter Lohnarbeit, durch Maschinerie. Das ist das Grundmittel, die Produktivität und damit die Konkurrenzfähigkeit zu steigern. Den Effekt, den sieht man ja jetzt. Der Effekt ist, daß nicht das Wachstum des Kapitals die Arbeitslosigkeit beseitigt, sondern schafft.
Vor fünfzehn Jahren war das eine marxistische Behauptung, die auf Unglauben gestoßen ist, heute sagt dir jeder Norbert Blüm: "Ja, Aufschwung gibt es schon, aber der Abbau der Arbeitslosigkeit ist eine ganz andere Frage." Jetzt sagt dir jeder: "Ja, ja, Aufschwung muß sein, Wachstum muß sein, der Standort Deutschland muß vorankommen, aber die Sockelarbeitslosigkeit wird von Aufschwungszyklus zu Aufschwungszyklus größer." Ja, das ist eben das alte marxistische Grundgesetz, daß das Wachstum des Kapitals eine wachsende Armut schafft und nicht: Je mehr Kapital es gibt, desto reicher sind auch die Armen, desto nachgefragter und desto wohlhabender sind auch die Arbeitenden.
Jetzt haben wir den Punkt: Was früher die Vollbeschäftigung in Deutschland gewesen war, das war, daß sie einfach die Arbeitslosigkeit immerzu exportiert hatten. Immer mehr Teile der in der ganzen Welt bezahlten, also bezahlbaren Arbeit, immer mehr in Deutschland und noch einigen anderen Ländern konzentriert. Inzwischen sind sie soweit, dieses weiter zu konzentrieren. Den Standort Deutschland voranbringen, Konkurrenzfähigkeit steigern, neue Märkte erobern hat immer den Gehalt: andere Länder mit ihrer Produktion vertreiben, ihnen die Märkte wegnehmen. Also, das ist immer noch ganz offiziell, das Programm "Arbeitslosigkeit exportieren", aber das Wachstum des Kapitals ist inzwischen so weit, daß es nicht nur Arbeitslosigkeit exportiert, sondern inzwischen auch daheim sehr viele überflüssig macht, weil die Produktivität der Arbeit, also auch die Ausnutzung derer, die für Lohn arbeiten, so enorm gestiegen ist.
Was wir an der Stelle haben, ist ein wichtiger Punkt zum Nationalismus: Warum leuchtet das den Bürgern ein? Sie könnten doch sagen: "Wenn der Aufschwung so funktioniert, daß da wieder Leute entlassen werden, dann wollen wir lieber keinen. Laßt das mal lieber mit dem Aufschwung." Warum lassen die sich darauf ein?
Sie tun so, als wenn der Aufschwung auch ihr Mittel wäre. Dabei ist er's nicht. Warum lassen sie sich darauf ein? - Die Antwort: Weil sie abhängig sind davon. Der Kern des ganzen Gedanken vom Nationalismus ist, daß die Menschen von einer Wirtschaft abhängig sind. Die Nachfrage der Unternehmer nach Arbeit, deren Erfolge, also ihre Gelegenheiten, verkaufen zu können, sind wirklich Vorbedingung dafür, daß die Leute (unter diesen gesellschaftlichen Verhältnissen) ihre Lebensmittel finden. Aber der Erfolg der Unternehmer führt nicht dazu, daß die Leute ihre Lebensmittel finden.
Dies ist die schöne Dialektik von dem Satz: Es ist eine nur negative Abhängigkeit. Es ist nicht so, daß sich's verhält wie Mittel und Zweck. Das wäre noch einfach: "Ja, wenn ich einen Arbeitsplatz haben und verdienen will, dann muß erst der Unternehmer verdienen." Da könnte man sagen: "Gut, es ist zwar ein bißchen ungerecht, die sind immer eher dran als die anderen mit dem Erfolg, erst kommt der Erfolg von denen, dann kommt der Erfolg von den anderen". Aber so ist es ja gar nicht. Erst kommt der Erfolg der Unternehmer, der ist die Vorbedingung des Lebensunterhalts von allen im Land. Also, der kommt zuerst. Aber der Erfolg der Unternehmer zieht den Erfolg der anderen überhaupt nicht nach sich. Das Geschäft der Unternehmer muß zuerst gehen - und wenn es dann geht, haben dann alle Arbeit und Leben? Nein, auch nicht. Die Leute hängen davon ab, aber sie hängen von etwas ab, was gar nicht ihr Mittel ist. Nationalist ist jeder, der sich in diesem Verhältnis darauf einläßt, daß das eben nun mal sein Lebensmittel ist. Der muß sich nämlich, jetzt gegen sein Interesse an Lohn und Freizeit, dafür interessieren, daß der Erfolg der Unternehmer auch eintritt. Er macht wirklich den šbergang von: "Ich bin Arbeiter, und mir gehören die Gewinne der Unternehmer nicht, auch kein Teil davon" zu: "Aber wenn die mich gar nicht beschäftigen, stehe ich noch blöder da, also muß ich hoffen, daß die gute Geschäfte machen, damit ich vielleicht davon leben kann".
Nächster Schritt: Dann sind die Geschäfte der Unternehmer das öffentliche Anliegen der ganzen Nation - und mit der Frage, was die Arbeiter davon haben, darf man dieses Anliegen dann nicht mehr stören. Wir haben doch im Moment die Lage, daß es heißt: Wirtschaftskrise, oder jetzt Aufschwung, aber immer noch Standort Deutschland gefährdet. Muß sich durchsetzen! Wie kann er sich durchsetzen? Die erste Ecke war: Der Staat muß Geld bei den normalen Leuten einsammeln und gibt es den Unternehmern für Forschung usw. Aber nicht nur das, es gibt ja auch die ganz andere Ecke, die heißt Deregulierung. Den Unternehmern alle Pflichten erlassen, die sie gegenüber dem Staat sonst, seinen Prioritätslisten haben (da meine ich jetzt so etwas wie Raumordnungsverfahren, Genehmigungstechniken, Umweltschutz, Arbeitsschutz). Den Unternehmern möglichst viel Pflichten erlassen, die der Staat ihnen bisher im Interesse der Umwelt, also des langfristigen Funktionieren des Ladens, im Interesse seiner Stadtplanung usw., aber auch im Interesse der langfristigen Benutzbarkeit der Arbeiterschaft, auferlegt hat. Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz, Arbeitszeitregelungen ... und der Tarif überhaupt: Alles das müßte man am besten abschaffen. Was passiert ist: Das wird durchlöchert, das wird "liberalisiert". Der Tarif verliert seine Allgemeingültigkeit, es wird nicht mehr jeder nach Tarif bezahlt.
Jetzt sollen die Arbeiter also einsehen, daß sie billiger werden müssen, und länger oder, je nachdem, flexibel arbeiten müssen. Wozu? Damit die Wirtschaft floriert, denn das ist die Voraussetzung ihres Lebens, ohne daß ihnen das Versprechen: "... und wenn die Wirtschaft floriert, dann steigt auch dein Lohn wieder", noch gemacht wird. Daß der Lohn wieder steigt, zählt zu den Undenkbarkeiten im Augenblick. Keiner sagt: "Das war eine Durststrecke." Frühere Krisen sind anders besprochen worden in Deutschland. Da hieß es: "Das ist eine Durststrecke, jetzt müssen wir alle uns am Riemen reißen und mal Lohnverzicht hinnehmen, wenn die Krise dann wieder vorbei ist, dann holen wir uns alles doppelt zurück." Das ist erledigt. Der deutsche Lohn ist zu hoch, wenn man in die Welt schaut. Hilft alles nix, heute und morgen und überhaupt.
Inzwischen gibt es den šbergang zur Beschuldigung der Arbeitslosen, sie wären der Grund dafür, daß es keine Arbeit gibt für sie. Sie wären nämlich nicht bereit, so billig zu arbeiten, wie sie es müßten. Dann gäbe es die Arbeit. Stimmt überhaupt nicht. Was wirklich herauskommt, ist halt wieder eine Durchlöcherung des Tarifsystems, aber damit nicht die Herbeischaffung der behaupteten Arbeit, die nur nicht besetzt wird, weil die Leute nicht bereit sind, so billig zu arbeiten.
Erster Schritt, die Leute werden mit ihren Nöten angesprochen. "Ja, Arbeitslosigkeit ist ein schweres Schicksal, ja, das kann nicht akzeptiert werden, daß so viele Leute ohne Mittel des Erwerbs sind." Zweiter Schritt: Die Leute bekommen den Weg ihres Interesses gewiesen. Der heißt: "Leute, Arbeit gibt's nur, wenn Unternehmer euch einstellen! Wir können für euch nur dann was tun, wenn wir für die Unternehmer was tun. Das müßt ihr natürlich bezahlen, also Opfer müssen dafür sein." Jetzt sieht der Bürger ein: "Gut, Opfer müssen sein." Täuschen tut er sich immer noch bezüglich dessen, wofür. Der meint doch, damit Arbeit her kommt. Der größte Nationalist täuscht sich noch. Er betrachtet nämlich das Gemeinwesen als etwas, was doch für ihn da ist. Dafür bringt er Opfer, aber für das, was wirklich der Zweck der Nation ist, für das, wofür wirklich das Geld ausgegeben wird, das ihm abgenommen wird, für das würde er sich nicht hergeben, wenn er wüßte, was es ist. Niemand würde sehenden Auges sagen: "Ja, die Akkumulation des Kapitals wird befördert, die deutsche Akkumulation wird auf Kosten ausländischer befördert, und es ist völlig klar, daß der Erfolg Deutschlands mit immer mehr Arbeitslosen einhergeht." Den Standpunkt würde keiner positiv vertreten und dann sagen: "Na ja, und dafür bringe ich mein Opfer, für diese feine Sache." Die Härte ist: Dafür bringen sie ihr Opfer. Und was die Opfer betrifft, da stimmen sie zu, und da geben sie ihr "Ja" ab, und da täuschen sie sich noch nicht einmal groß. Nur was das Wofür betrifft, da täuschen sie sich.
Wenn erstmal der Standpunkt durchgesetzt ist: "Für euch können wir nur was tun, wenn wir für die Unternehmer was tun", dann wird verlangt und geboten, daß der Wahlbürger überhaupt vom Standpunkt des Erfolgs des Gemeinwesens (erst mal des Erfolgs der deutschen Wirtschaft, dann des Erfolgs Deutschlands überhaupt) auf sich blickt.
Der erste Schritt heißt: "Deine Probleme." Der nächste Schritt heißt: "Deine Probleme können wir nur über den Erfolg Deutschlands haben, über den Erfolg Deutschlands befördern." Der dritte Schritt heißt: "Dann stell' dich gefälligst auf den Standpunkt Deutschlands und schau mal, wie du dann dastehst." Auf einmal kriegen sie gesagt: "Ja, jetzt geht's um Deutschland!" Steht übrigens an allen Plakatwänden: "Es geht um Deutschland!", egal, wer's sagt. "Jetzt geht's um Deutschland, schau dich mal an als Arbeitsloser, du kostest ja bloß Geld!" Jetzt dreht sich alles um. Jetzt soll er als Anhänger des deutschen Erfolgs sich als Last des Gemeinwesens betrachten. Und was ist es anderes, wenn die SPD sagt: "Arbeitslosigkeit finanzieren ist teurer als Arbeit finanzieren." In jedem Fall sprechen sie die Arbeitslosen als Last der Nation an, als größere oder kleinere, aber jedenfalls als Last. Und das sollen die Leute auch noch einsehen: "Ja, stimmt, wir sind eine Last."
Und wenn sie's nicht bei sich einsehen, und das ist ja das Schöne an der Demokratie, dann sehen sie's immer bei ihrem Nachbarn ein. Ja, der Arbeitslose, der gerade mit einem Politiker redet, möchte schon mal sagen: "Ich bin ein Betroffener." Aber jeder kennt einen, der sich's in der Arbeitslosigkeit für seine Begriffe auch zu bequem macht, der in der Arbeitslosigkeit doch irgendwelche Geldquellen findet, der eine reiche Frau hat oder sonst irgendwas. Und dem gönnt man's aber, daß die Arbeitslosenhilfe gekürzt wird. An dem sieht man, was er für eine unnötige Last des Gemeinwesens ist, und so votieren die Opfer dieses Systems nie in bezug auf sich persönlich, aber immer in bezug auf die anderen, die sie als ungerechte Nutznießer, Sozialschmarotzer kennen. So votieren sie für die Maßnahmen, die gegen sie als Gesamtheit gerichtet sind.
Und wenn sie an dem Punkt angelangt sind, dann sind sie bereit, sich über einen Erfolg der deutschen Wirtschaft einfach so zu freuen und überhaupt nicht mehr zu fragen: "Und was hab' ich davon?"
Der Nationalismus wird durch diese Lektion erteilt: "Ja, du gehörst dazu, zu unserem Laden. Dein Interesse gilt, aber wenn dein Interesse gilt, mußt du dich an den Weg halten, wie's befriedigt werden kann. Dann mußt du dich auf den Standpunkt der deutschen Wirtschaft stellen. Wenn du auf dem stehst, mußt du dich vom Standpunkt der deutschen Wirtschaft betrachten, und dann mußt du die Erfolge der deutschen Wirtschaft für die Erfüllung deiner Wünsche halten und das, warum du überhaupt für die deutsche Wirtschaft bist, nicht mehr zum Einwand machen." Wer so denkt, ist Nationalist. Fertig. Und machen wir uns nichts vor, so denkt jeder. Das ist Nationalismus: Sich an den Erfolg des Gemeinwesens hängen, oder anders ausgedrückt: Sich in einem Staat, in dem man doch gar nicht Teilhaber des Erfolgs ist, wie ein Teilhaber des Erfolgs aufführen, also auch meinen: "Ja, wenn der Erfolg der Nation stimmt, dann paßt doch alles", ohne daß man dann noch zurückrechnet: "... und was habe ich dann davon", sondern einfach so, weil man ja davon abhängt.
Dabei müssen Nationalisten keine zufriedenen Menschen sein, im Unterschied zu Unzufriedenen, die kritisch wären. Der Nationalismus ist eine Weise, wie man mit seiner Unzufriedenheit umgeht, nicht wie man vor lauter Zufriedenheit platzt. Doch können sie in ihrer Zufriedenheit einfach dafür sein, daß alles so weiter läuft wie bisher. Aber Nationalisten sind vor allem Menschen, die sich ihre eigene schlechte Lage erklären, indem sie eine Differenz zwischen dem Gemeinwesen und sich nicht aufkommen lassen. Sie halten genau dann, wenn das Gemeinwesen sich als schlechte Grundlage für sie erweist, daran fest, daß sie es doch ist. Und das tun sie so sehr, daß sie glauben, wenn es ihnen schlecht geht, muß es ja wohl dem Land auch schlecht gehen.Jetzt ist gerade der unzufriedene Nationalist der gefährlichste. Weil der eben zwischen sich und der Nation keinen Unterschied aufkommen läßt, wo doch gerade einer vorliegt, wo er doch gerade Mitglied in einer Gesellschaft ist, in der er nicht Teilhaber des Erfolgs ist. Dann glaubt der unzufriedene Nationalist, wenn's ihm schlecht geht, geht's auch der Nation schlecht: "Meine schlechte Lage ist ein Zeichen, daß Deutschland sich nicht genug durchsetzt."
Diese Logik ist mörderisch. Die ist nämlich von einer Art, daß, je schlechter es den Leuten geht, sie desto deutscher werden. Wenn die Leute glauben: "Wenn es mir schlecht geht, geht es der Nation schlecht", setzen sie sich also gegen die Hindernisse des Erfolgs ein. Die Ausländer in der EU, da muß man immer in Töpfe reinzahlen; die Japaner, die nehmen uns die Märkte weg; die Ausländer im Inland, die nehmen uns die Wohnungen weg, die nehmen uns die Arbeitsplätze weg. Dieses "Wir" schafft sich dann seine Feinde, und jede Unzufriedenheit mit dem Gemeinwesen wird eine Unzufriedenheit darüber, daß das Gemeinwesen die Schranken, die in denen liegen, die nicht dazugehören, nicht genug wegräumt. Nur mit der Logik kommt am Ende ein ganzes Volk dazu zu glauben, die Juden wären ihr Unglück. Und bei uns halt: Nur mit der Logik kommt man dazu, daß man sagt: "Ja, ich bin Deutscher und arbeitslos, wie gibt's denn das, hier laufen Ausländer rum!" Nur mit der Logik, mit der aber schon.
Ich habe jetzt, weil ich das zur Logik des Nationalismus brauche, noch Argumente benutzt, die es jetzt auch in dem Wahlkampf schon irgendwie gibt, wenn man eine Sendung zur Arbeitslosigkeit einschaltet - bloß: Beherrschend sind die nicht.
Trotzdem habe ich's jetzt mal gebraucht, um deutlich zu machen, welche Umkehrung man da macht. Denn ansonsten wird alles absolut rätselhaft. Wenn du gleich einsteigst, wo die jetzt sind, kannst du dich entscheiden, du wirst auch Nationalist oder du hältst sie alle für irrenhausreif. Der Kanzler zum Beispiel als Person, er repräsentiert die grenzenlose Zufriedenheit, die Deutschland mit sich haben kann. So, wofür ist das jetzt ein Argument? Die Leute mit ihren Interessen und Sorgen, meinetwegen auch zufrieden, aber wieso ist das ein Argument? Man versteht's doch gar nicht.
Die Leute werden z.B. eingenommen für "die Kriminalität muß bekämpft werden, schon gleich die Großkriminalität". Ja, wessen Anliegen ist denn das? Der Staat belästigt das Volk damit, daß er mit denen, die seine Regeln verletzen, besser fertig werden will. Die Bürger könnten ohne weiteres sagen, das ginge sie sowieso gar nichts an. Ob die Russenmafia in dem einen oder anderen Bordell herummordet ... sie sind weder Kunde noch Bedienstete, also ihre Anliegen sind das nicht. Nein, daß die Kriminalität überhand nimmt, ist ein Argument, und daß man die abhören muß. Irgendwo gibt's auch da noch die Erinnerung: Die Oma in der U-Bahn muß sich manchmal fürchten, weil auch sie verprügelt werden kann. Bloß, dagegen ist ja der "große Lauschangriff" kein Hilfsmittel. Der Staat kommt mit der neuen Sozialleistung: "Wir unterdrücken alle die, die kriminell werden." Und das sollen sich die Bürger als "Ja, das ist schon längst mein Interesse" hinter die Ohren schreiben.
Gut, und dann gibt's noch die Abteilung Außenpolitik, und die ist endgültig so gelagert, daß es nicht mehr den Schein von einer Verknüpfung des Interesses des Bürgers und Staatsanliegen gibt. Die kriegen jetzt gesagt: Leute, es wäre doch eine Schande für Deutschland, wenn Franzosen und Briten und Belgier den Kopf hinhalten und wir nicht. Wofür der Kopf hingehalten wird, was da erreicht werden soll, kommt alles gar nicht mehr vor. Ja, wenn die UNO sagt: "Wir gehen dort und dort hin", Militärexpeditionen in die 3. Welt ... wenn welche gemacht werden, müssen wir dabei sein, denn es wäre ja eine Schande für Deutschland, sich immer von den anderen verteidigen zu lassen. Politisch gesehen eine Unwahrheit. Natürlich wissen die, was sie dabei wollen. Aber das sagen sie den Leuten nicht. Die sprechen sie gleich als nationalistische Ehrnickel an, und sagen: "Geht das nicht gegen deine deutsche Ehre, wenn der Deutsche immer nicht dabei ist, wenn der Franzose schießt?!" Es ist wirklich nur noch das Argument: "Wir können uns nicht aus der Verantwortung stehlen, wir können nicht beiseite stehen."
Mit solchen Argumenten wird der Wahlkampf bestritten. Und da merkt man schon, da wird nicht mehr der Nationalist gebildet, sondern abgerufen. Da wird nicht mehr gesagt: "Leute, stellt euch in eurem Interesse, ihr hängt ja schließlich davon ab, auf den Standpunkt des deutschen Erfolgs", sondern die werden gleich als welche angesprochen, die deutsch sind, die gar nicht mehr sich zum Standpunkt des deutschen Nationalisten über eine verfehlte, aber immerhin über eine Berechnung hinarbeiten, sondern die sollen vergessen haben, daß es da überhaupt je eine Berechnung gegeben hat, weil sie sich hingearbeitet haben. Also, jemand der sagt: "Ich bin stolz, Deutscher zu sein", oder der es höflich sagt wie der Ex-Bundespräsident: "Wir kommen ohne Deutschsein nicht aus, wir brauchen es gar nicht wünschen, wir können es auch ablehnen, aber kaum bist du im Ausland, bist du ein Deutscher". Er muß ja nicht gleich wie der Skinhead "Ich bin stolz, Deutscher zu sein" sagen, aber meinen tut der Weizsäcker genau dasselbe. Die sprechen die Leute als distanzlose Nationalisten an, als welche, die nicht über eine falsche Berechnung zum Nationalismus hin kommen, sondern die schon immer dort sind, und deswegen gar nicht mehr wissen, daß es da je eine Rechnung gegeben hat.
Um nun wieder zur Wahl zurück zu kommen: Man könnte sich ja dann weiter fragen, wenn der Nationalismus als Lebensform, oder Denkform, so weit schon verinnerlicht ist, daß die Leute sozusagen eine prinzipielle Zustimmung zu der Funktionsweise der Gesellschaft haben, einschließlich der Opfer, die diese Funktionsweise für sie bedeutet, warum es denn dann noch nötig ist, sich periodisch immer wieder dieser Zustimmung zu vergewissern. Man könnte doch nun sagen: Die wollen's doch eh? Da kann man sich doch diesen Hokuspokus alle vier Jahre abschminken, Wahl wäre in diesem Sinne dann eigentlich doch überflüssig. Aber ist sie ja offensichtlich nicht. Warum also immer wieder diese periodische Zustimmung, die eh permanent läuft?
Das hat zwei Gründe. Der eine ist ganz primitiv: Das steht im Grundgesetz. Ich glaub', wenn du die Politiker fragen würdest: "Warum wollt ihr denn jetzt grade eine Wahl?", dann wissen sie's nicht, die sagen: "Es ist halt Termin".
Zweitens, es gibt aber einen guten Grund. Und der gute Grund besteht darin, daß die Nation ihrerseits ja nicht immerzu dieselbe bleibt. Es ist doch nicht so, daß Deutschland auch immer dasselbe abstrakte grundsätzliche "Ja" seiner Bürger brauchen kann. Sondern die Wahlen thematisieren die Kategorien, wie der Staat verstanden werden will von den Bürgern. Und sie kritisieren die alten Kategorien, die nicht mehr passen. Und sie setzen glatt einen Schönheitswettbewerb aus über die Frage: Wer repräsentiert denn die Nation am besten mit seinen Ideen und seinen Interpretationsmustern und seinen Schlagworten? Und auf die Tour wird der Nationalismus aktualisiert.
Es gab in Deutschland einen Nationalismus des "relativ haben wir's gut getroffen, wir haben Vorteile" (der ganze Nationalismus des Systemvergleichs: "Schaut euch die lächerlichen Autos in der DDR an, bei uns gibt's größere"; der Systemvergleich hat dann sogar seine Seiten gehabt des "auch die drüben haben, relativ, irgendwas, Mutterschutz, Kinderkrippen, aber wir haben mehr") ... die Nation erlaubt dem Bürger, bietet ihm an, sein "Ja" zum Gemeinwesen über einen Materialismus abzuwickeln. Ob der gestimmt hat oder nicht, also ob die Rechnung eine gute Rechnung war, ist eine ganz andere Frage; die Form der Rechnung war's: "Ja, wir Deutschen haben's gut getroffen, wir kriegen was."
Dieser Nationalismus wird heutzutage als Anspruchsdenken gegeißelt, wird zurückgewiesen. Es wird gesagt: "Das ist populistisch, wer das tut!" Man kann direkt sagen, der jetzige Wahlkampf beseitigt das sozialdemokratische Argument. Der beseitigt's übrigens in einer Kooperation der Sozialdemokratie mit dem Kanzler und als beide miteinander gegen die PDS. Die PDS ist die Partei, das sagen ja jetzt inzwischen alle, das braucht man nicht mehr groß zu beweisen, die eminent sozialdemokratisch argumentiert. Das Besondere ist nur: Sie ist die einzige Partei, die in dem Land noch sozialdemokratisch argumentiert. Und genau dieser Standpunkt wird als "das kann Deutschland sich nicht bieten lassen" behandelt. Die PDS vertritt die sozialen Interessen der geknechteten Ossis, das ist der Kern von der Partei, das ist der Kern von ihrem Argumentieren, sie versucht im Westen Stimmen zu kriegen, aber im wesentlichen hat sie ihre Basis und ihre Attraktivität bei den Anschlußbürgern. Und die beklagen eh schon ganz was Heikles, weil das Sozialdemokratische sich mit einem Ostnationalismus paart. Umgekehrt gesagt: Das sozialdemokratische Anspruchsdenken traut sich auch bei denen nur mit dem Argument "wir Ostdeutsche sind doch auch Deutsche" frech zu werden. Nur über diesen nationalen Gedanken traut sich das soziale Beschädigtsein anspruchsvoll aufzutreten. Jetzt kommt die PDS und sagt (und das ist ja ungewöhnlich, denn sonst bestreitet das in Deutschland niemand): "So wie die Treuhand darf man den Osten nicht plattmachen." Nicht, daß sie direkt die Rentabilität angreifen und sagen würde: "Das geht nicht, wir wollen das Prinzip nicht", das lassen sie stehen. Aber so exekutiert wollen sie's nicht.
Und was machen die anderen? Die haben zwei Argumente gegen die PDS. Das eine Argument ist: "Das sind die Alten", also eine ganz grundsätzliche Ablehnung des Arguments mit der Ablehnung seines Trägers: "Das sind die alten SEDler." Beim Kanzler oder bei CDU-Stellungnahmen sogar manchmal richtig ausdrücklich: "Das sind diejenigen, denen es drüben in der DDR gut ging, weil sie zu der staatstragenden Bande gehört haben, und wenn jemand in unserem neuen Deutschland unzufrieden ist, der mit der DDR zufrieden war, dann ist das ganz recht. Der braucht sich hier nicht daheim fühlen. Der gehört eigentlich nicht dazu." Ein Argument, daß überhaupt nicht auf Auseinandersetzung geht, sondern auf Ausgrenzung. Und die SPD hat eine Methode, mit der PDS umzugehen, die ist ulkig. Die sagt nämlich: "Man muß denen den populistischen Mythos wegnehmen." Da gibt's Stellungnahmen, die sagen (in irgendeiner Oststadt ist ein PDSler zum Wohnungsbaustadtrat gemacht worden): "Da hat er ein Amt, da kann er zeigen, ob's was nützt, ob mehr Wohnungen herauskommen, wenn er regiert. Und was ist? - Es kommen doch auch gar nicht mehr Wohnungen heraus." Ein wunderbares Argument, daß man sowieso keinen wählen braucht. Ein Argument: Das nützt sowieso alles nichts. Man könnte doch auch sagen: Na, dann braucht doch auch ihr nicht in das Wohnungsamt. Wenn's sowieso egal ist.
Also, ganz lustig. Die alten, die ehemaligen sozialdemokratischen Ansprüche ("Wohnung ist doch ein Recht, und wenn's an Wohnungen knapp ist, ist es ein Staatsversäumnis"), diese alten Ansprüche werden als: "Die sind unerfüllbar, und wer sie verspricht, ist populistisch, ein Rattenfänger, Schaumschläger, halt kein seriöser Politiker, der wirklich dem Volk nur die Staatsnotwendigkeiten erläutert", zurückgewiesen. Ja, wenn man überhaupt das Wort "Populist" nimmt. Was ist eigentlich der Vorwurf "Populist"? Und es ist eindeutig ein Vorwurf. Damit traktieren sich die Parteien wechselseitig. Der Vorwurf heißt: Dieser Mensch stellt die Beliebtheit beim Wähler über die Staatsnotwendigkeiten. Anstatt, daß er dem Wähler den Staat erklärt, droht er, den Staat dem Wähler zu unterwerfen. In der Sozialkunde hat man immer gelernt, da dürfe der Bürger sein Interesse am Staat geltend machen. Und die Staatsmänner wechselseitig werben für sich mit dem Argument, sie sind keine Populisten. Sie ködern doch den Bürger nicht mit materiellen Interessen für seinen Gehorsam. Und wer das tut, untergräbt die Freiheit des Staates beim Regieren, also ist unseriös und darf nicht gewählt werden. Und es funktioniert übrigens, Populismus ist ein Vorwurf, und man verteidigt sich gegen ihn. Das ist die demokratische Wahl.
Also, die Frage, warum gibt's die immer wieder, die Wahlen. Ja, die braucht's zur Modernisierung des Nationalismus, zur Anpassung des Nationalismus an die aktuellen Bedürfnisse der Nation. Der jetzige Wahlkampf hat die alte deutsche Staatstreue beseitigt, und wenn es nicht der Wahlkampf gemacht hat, zieht der Wahlkampf den Schlußstrich unter diese Beseitigung. Den Systemvergleichsnationalismus gibt es nicht mehr. Und wer ihn trotzdem macht, wird ausgegrenzt.
Ein weiterer Punkt und inzwischen ein Element im Wahlkampf, der viel gewichtiger ist als dieses Realzeug um Arbeitslosigkeit und solche Fragen, ist der Personenkult.
Die SPD betreibt einen Wahlkampf, der ausdrücklich darauf ausgerichtet ist, keine Differenzen zur Kohl-Regierung aufkommen zu lassen. Jeden möglichen Streitpunkt haben sie frühzeitig aus dem Weg geräumt: Asylgesetz, Lauschangriff, Militärexpeditionen. Und immer, wenn die Rechten was neues aufziehen und sagen: "Das wird jetzt der neue Prüfstein", dann geht die SPD schreiend mit, damit es nicht gegen sie verwendet werden kann.
Dann bleibt als Unterschied natürlich (wenn man Wert darauf legt im Wahlkampf, daß man keinen Unterschied aufmacht) nur der Unterschied der Personen, und das ist in diesem Wahlkampf richtig ausdrücklich. Die ganze Scharping-Linie ist ausdrücklich darauf berechnet: "Keinen Unterschied in der Sache", bloß: "Ich bin jünger als der andere". Eine Parole des Kalibers: "Freu' dich auf den Wechsel, Deutschland!" Was versprechen die eigentlich? - Nur, daß es nicht mehr derselbe ist. Es ist wirklich wahr, weil sie sonst ja sagen müßten, was anders wird, was sie wechseln wollen. Ja, sie wollen halt den Kanzler auswechseln. Das ist das andere große Plakat der SPD: "Kanzlerwechsel". Auch nur die Personengeschichte. Gut, deswegen stehen die dann auch alle im Mittelpunkt, und die Plakatwände sind immer voll mit ihnen.
In der Hinsicht hat die Demokratie auch den Stalinismus überrundet. Der Personenkult der Demokratie ist ein ganzes Stück radikaler als der des Stalinismus, obwohl man dem doch immer vorhält, er wäre so personenkultmäßig. Die Russen haben damals den Stalin als großen Vater der Nation ausgewiesen und sein Bild in jede Amtsstube gehängt, und man mußte den immer wieder grüßen und loben und so weiter. Aber im wesentlichen haben sie ihn doch als Politiker, Ökonomen, Strategen hochleben lassen. In der Demokratie ist es so: Da machen die Parteien genau um die Frage "Wer ist der beste Führer?" einen Schönheitswettbewerb.
Und das ist ein Unterschied zum Stalinismus: Der Stalinismus hat den Leuten das glatt noch vorgegeben und mit den Leistungen von dem da irgendwas belobigt, aber in der Demokratie werden die Menschen mit der Frage befaßt: "Wen findest du als Führer am besten? Welcher Führer ist glaubwürdiger als Führer?", und dann wird das inszeniert.
Zum Beispiel wird inszeniert: "Scharping setzt sich rücksichtslos in seiner Partei durch, die Partei steht schwer hinter ihm." Das sind nur noch Führereigenschaften, mit denen die wechselseitig antreten. Diese ganzen Geschichten: Ein Wahlkämpfer muß von seiner Attraktivität überzeugt sein, damit er die Wähler überzeugt. Ein Wahlkämpfer muß der Verrückte sein, der am Anfang, in der Mitte und bis zum Wahltag sagt: "Ich bin sicher, daß ich gewinne". Wenn er das nämlich nicht sagt, dann gewinnt er sowieso nicht. Er muß einfach von seinem Wahlsieg überzeugt sein. Und das beste Argument für ihn? - Daß er eine Wahl vorher gewonnen hat! Deswegen haben ja die Sozialdemokraten die Geschichte, daß sie in Bayern einige Prozent aufgeholt haben (und immer noch absolute Mehrheit für die CSU), sie haben das hochgejubelt wie zu einem Sieg, damit jetzt der Eindruck entsteht, sie sind auf der Siegerstraße.
In dem Sinn und noch in einem zweiten ist der Personenkult radikaler. Die eine Seite war: Es ist gar nicht, daß die Obrigkeit einen Personkult vorgibt, und den kann dann der Mensch glauben oder das Maul halten. Sondern die Leute werden einbezogen in den Führerkult und müssen den schönsten Führer wählen. Und das Zweite: Es entfernt sich doch von der Frage: Was ist das für ein Politiker? In Bayern gab's: "Die Stoibers". Ja, dann ist auch dem seine Frau im Amt. Scharping als Familienvater, Kohl als Saumagenliebhaber. Da wird wirklich die Schlüssellochperspektive, die früher die Leute gehabt haben, wenn man gesagt hat: "Königs, was wird bei Königs gegessen", und man verehrt den König, weil er der König ist. Dieser Unsinn wird als Teilhabe am Privatleben der Großen jetzt wieder eingeführt in die politische Beurteilung. Weil's sowieso nicht mehr um politische Richtungen, politische Argumente, politische Alternativen geht, sondern weil's nur um persönliche Qualitäten, persönliche Glaubwürdigkeit, persönliche Durchsetzungsfähigkeit, persönliche Herzenswärme dieser Amtsträger geht. Ist auch lustig, wie man ein Volk für inkompetent erklären kann. Man kann sagen: "Von der Politik versteht ihr ja sowieso nichts, also, ob die Staatsverschuldung zu hoch, zu niedrig oder gerade recht ist, das könnt ihr ja sowieso nicht beurteilen; ob man die Bundeswehr nach Somalia schicken, in den Irak aber nicht schicken soll, wie sollt ihr das beurteilen! Aber ob Kohl ein Herzensmensch ist, da seid ihr kompetent."
Auch eine Weise, wie man ein Volk von der Politik ausschließt, in dem man ihm die Kompetenz über die Charaktereigenschaften von Charaktermasken zubilligt. Und die Charaktermasken werden ihrerseits dann wieder daraufhin geschnitzt, wie man sich einbildet, welches Führerbild zur jetzigen Republik paßt.