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Peter Decker

Das "Ende der Arbeitsgesellschaft", "Bürgerarbeit" und andere Beiträge des wissenschaftlichen Geistes zum "Problem Nr. 1"

Endlich entdeckt - Arbeitslosigkeit ist ein Kopfproblem!

Die Arbeitslosigkeit ist "das gesellschaftliche Problem Nummer 1", ihre Bekämpfung genießt "höchste Priorität". Darüber sind alle maßgeblichen Standpunkte so sehr einig, dass sie ein "Bündnis für Arbeit" gegründet haben. Weniger klar ist schon, wer das Problem Arbeitslosigkeit eigentlich hat und worin es besteht.

Das banale Faktum

Da wären zunächst einmal die Arbeitslosen. Sie haben ein Problem. Das besteht aber nicht darin, daß sie nicht arbeiten - mit dem süßen Nichtstun kommen andere auch ganz gut zurecht. Die echten Arbeitslosen haben kein Geld und das braucht man nun einmal zum Leben in der Marktwirtschaft. Ihr Problem ist Armut - und das haben wirklich nur sie. Um ihr Leben und ihren Lebensunterhalt geht es in dieser Wirtschaft eben nicht. Weil die Arbeit, von der sie leben, auch dann, wenn sie "Arbeit haben", nicht für ihren Lebensunterhalt sondern für den Gewinn des Unternehmers veranstaltet wird, wird diese ihnen notwendige Arbeit unterbunden, sobald sie für den Gewinn nicht mehr gebraucht wird.

Da ist zweitens "die Wirtschaft". Ihr Bekenntnis zum "Problem Arbeitslosigkeit" ist eine offene Lüge, mit der sie ihren Diener vor der Ideologie der Gemeinnützigkeit ihrer Profitmacherei macht. Tatsächlich leidet die Wirtschaft nicht an der Arbeitslosigkeit, sondern schafft sie durch ihre Rationalisierungen. Die Massen, die sie auf die Straße wirft, stören die Wirtschaft nicht, sondern nützen ihr; denn die vielen Bewerber drücken auf den Lohn derer, die beschäftigt werden. Dennoch beteiligt sich auch die Unternehmerschaft am "Bündnis für Arbeit", weil ihr der politische Wunsch nach mehr Arbeitsplätzen Gelegenheit gibt, der Bedingung Anerkennung zu verschaffen, unter der sie allenfalls mehr Arbeitsplätze zur Verfügung stellen würde: Billiger müsste die Arbeit zu haben sein, dann wäre sie sicher rentabler und eventuell würde sie sogar vermehrt angewendet. Lohnhöhe, Lohnnebenkosten, Arbeitszeitregelungen, Tarifbindung und Kündigungsschutz – alles, was die Arbeitenden von ihrer Arbeit haben, und alle Regelungen, die einmal zu ihrem Schutz durchgesetzt wurden, werden als Beschäftigungshindernisse angeklagt, die beseitigt werden müssen, wenn es in Deutschland "mehr Arbeit" geben soll.

Das interessiert vor allem die dritte Partei im Spiel, den Staat. Denn erstens leiden seine Kassen, wenn wachsende Teile der Bevölkerung kein Geld verdienen, keine Steuern zahlen und, anstatt Beiträge in die Sozialversicherungen einzuzahlen, Anträge auf Unterstützung stellen. Zweitens wissen Politiker um die abstrakte Gefahr des "Sozialen Sprengstoffs"; ein Massenheer von Arbeitslosen hat schon einmal die ‘Stabilität der Demokratie’ und den ‘sozialen Frieden’ untergraben. Das "gesellschaftliche Problem Nr.1" – also das Problem, das die Armut der Arbeitslosen der Gesellschaft beschert - hat nur die Politik. Ihr Kampf gegen dieses "Krebsübel" gerät allerdings ebenso kompliziert wie erfolglos, denn die Idee, sie selbst könnte die Arbeit organisieren, die "der Gesellschaft fehlt", weist sie von sich. Zur Organisation der Arbeit hat der freiheitliche Staat die Eigentümer der Produktionsmittel ermächtigt. Er selbst ist da ohnmächtig und will es sein. Denn auch er steht auf dem Standpunkt, dass nur Arbeit, die mehr Geld abwirft als den Lohn, den sie kostet, wert ist, verrichtet zu werden. Schließlich lebt auch der Staat von dem Überschuss über den Lebensunterhalt, der aus rentabel eingesetzter Arbeit herausgeholt wird – gleichgültig, ob dieser Überschuss als Steuer vom Bruttolohn oder vom Gewinn abgezogen wird. Die Aufgabe, Arbeit rentabel zu machen und auch nur rentable Arbeit anzuwenden, ist den Unternehmern überlassen; sie aber machen die bezahlte Arbeit für ihren Gewinn dadurch effizient, dass sie die Arbeit für sich billig machen: Sie nutzen die Leute, die sie bezahlen, zweckmäßiger und intensiver aus, sparen dadurch andere Arbeitskräfte und deren Löhne ein und entlassen die überflüssigen. Regierungen anerkennen die Arbeitslosigkeit als unerwünschte, aber unvermeidliche Nebenwirkung des nationalökonomischen Erfolgs, auf den es ihnen ankommt. Ihr Kampf gegen das doppelte Problem, das ihr Erfolgsweg mit sich bringt, kennt daher immer ein und dasselbe Mittel der Abhilfe: Mehr von dem Wachstum, das die Arbeitslosen schafft! Dadurch bleibt das Problem, an dessen Lösung sich schon mancher Kanzler messen lassen wollte, nicht nur erhalten, sondern verschärft sich mit dem Wachstum des Kapitals: Je mehr Arbeitslose herumlaufen, desto lauter der Ruf nach Wachstum; je größer die Armut der Arbeitslosen, desto eindeutiger die wirtschaftspolitische Diagnose, dass es den Reichen wohl an Gewinn und Gewinnchancen fehlen müsse.

... und seine wissenschaftliche Deutung

Für ihre großen Fragen und Sorgen hält sich die moderne Welt Wissenschaftler. Sie beweisen die Diesseitigkeit ihrer Modelle und die Nützlichkeit ihrer Ideen - gesellschaftliche Relevanz nennt man das -, indem sie sich des aktuellen "Problems Arbeitslosigkeit" annehmen. Ihre gemeinsame Leistung besteht zunächst darin, dieses verlogene Gemeinschaftsanliegen, in dem total gegensätzliche Parteien mit entgegengesetzten Interessen aufeinander treffen, als ein echtes Leiden der Gesellschaft und eine Gefahr für sie zu deuten. Der Lösung des Problems helfen sie durch die interessante Entdeckung auf die Sprünge, dass es das ganze Problem nicht geben müßte, wenn nicht allerorten verknöchertes Denken vorherrschen würde, das es aufzubrechen gilt.

Die Nationalökonomen,

die sich der Modellbildung bezüglich rundum gelungenen "Wirtschaftens" verschrieben haben, erkennen in der puren Existenz eines solchen Problems einen Verstoß gegen die Gesetze der Wirtschaft. Wenn das Gesetz von Angebot und Nachfrage respektiert und am Arbeitsmarkt das freie Spiel der Marktkräfte zugelassen würde, könnte ein Auseinanderfallen eines Angebots an arbeitswilligen Leuten und der Nachfrage nach ihnen überhaupt nicht entstehen. Der "Angebotsüberhang" der vielen Arbeitslosen, deren Arbeitskraft niemand kaufen will, sind für Ökonomen der Beweis dafür, dass ihr Preis zu hoch ist! Und das Unrecht, das die Gesellschaft an ihnen begeht, besteht darin, dass sie ihnen ein Grundrecht vorenthält, auf dem die Marktwirtschaft beruht: das Recht, ihr Angebot über den Preis attraktiv zu machen. Nicht ausgegrenzte, freie Marktteilnehmer wären so frei, den Preis ihres Arbeitsangebots so lange zu senken, bis sich entweder ein Käufer findet, oder der Grenznutzen, den sie für ihre Arbeit erlösen könnten, ihnen die Mühe nicht mehr wert wäre. Dann hätten per definitionem alle, was sie wollen – und diejenigen, die dann immer noch keine Arbeit haben, wollen eben nicht. Dass Armut mit und ohne Arbeit ihre Lösung des Arbeitslosenproblems ist, bedrückt die Nationalökonomen gar nicht: Der Markt gibt jedem seine Chance und mißt seinem Angebot den gerechten – marktgerechten – Preis zu. Den Vorwurf, dass im Fall der Arbeitslosigkeit ihre feine Marktwirtschaft nicht wünschbare Resultate zeitigt, geben sie an den Kläger zurück: Das Unrecht des Ausschlusses, den die Arbeitslosen erleiden, haben sie selbst bzw. ihre gewerkschaftlichen Vertreter zu verantworten: Ihr Tarifkartell, ein unverständlicherweise nicht verbotenes Monopol, zerstört Beschäftigungschancen, weil es verhindert, dass der Preis der Arbeit auf "Markträumungsniveau" sinkt. Verkehrtes Anspruchsdenken bei den beschäftigten und unbeschäftigten Lohnabhängigen ist schuld am Ausschluss der Arbeitslosen. Ihnen raten Ökonomen zum Umdenken.

Die arbeitsmarktpolitischen Konzeptemacher

äußern sich ebenfalls kritisch, wenn auch nicht gleich gegen die Arbeitslosen; deshalb gelten sie als sozial. Sie wollen den lohnfeindlichen Idealismus des alles regelnden Marktes nicht mitmachen und glauben auch nicht daran, dass es beim richtigen Preis genug bezahlte Arbeit für alle geben würde.

"Vollbeschäftigung wird es nie mehr geben. 85 Prozent der Arbeitslosigkeit in Deutschland sind auf strukturelle Probleme zurückzuführen. Selbst wenn die Wirtschaft boomt, wären allenfalls 15% der Menschen, die heute ohne Job sind, in die konventionellen Produktionsstrukturen einzubeziehen. (SZ v. 12./13.12.98)

Als Wissenschaftler befassen sie sich mit den Gründen der Arbeitslosigkeit; enthalten dem Leser Gründe, die sie kennen wollen, durch deren Charakterisierung als "strukturell" jedoch gleich wieder vor. Der Leser soll sich mit der Auskunft, dass irgendwelche notwendigen Ursachen vorliegen, zufrieden geben; auf ihren Gehalt kommt es offenbar nicht an – etwa damit man sie ausräumen könnte -, sondern einzig darauf, dass sie eben unverrückbar sind und sich dagegen nichts machen läßt. Konstruktiv vorwärts denken!, heißt die Parole der praktisch orientierten Politikberater, die das Problem, dass Millionen von Erwerbsleben und Erwerb ausgeschlossen sind, nicht auf sich beruhen lassen wollen. Weil "Rückkehr zur Vollbeschäftigung" ohnehin nicht zu erwarten steht, können mehr Menschen Arbeit und Einkommen nur bekommen, wenn die zu knappe Arbeit und das für alle zu knappe Einkommen neu verteilt werden. Mehr "Erwerbsarbeit" soll dadurch ermöglicht werden, dass der Erwerb reduziert wird. Wir müssen uns an "flexible Arbeitsbiographien" mit teilweiser Selbständigkeit und teilweiser abhängiger Beschäftigung gewöhnen. Erwerbsfreie Bildungsphasen könnten sich mit einer Vielfalt gleichzeitiger Teilzeitjobs ablösen; Jobsharing und Sabbatjahr könnten Arbeitsplätze freimachen usw. Der Charme der Vorschläge, wie sie etwa aus der wissenschaftlichen Abteilung der Nürnberger Bundesanstalt für Arbeit kommen, besteht darin, den Unterschied von Beschäftigung und Arbeitslosigkeit ein Stück weit einzuebnen und mit der bisher gültigen Definition von Beschäftigung auch ihren Gegensatz zur Arbeitslosigkeit aufzulösen.

Heutige Arbeitsmarktplaner fragen sich, warum das, was längst stattfindet, nicht viel schneller geht, und entdecken als Hindernis für die überfällige Reform der Berufswelt das sozialstaatliche Denken der Politiker. Der "Bismarcksche" Sozialstaat, einst erfunden, um das Elend der Lohnarbeiter aushaltbar zu machen, macht Ansprüche auf Leistungen der Kassen, die für die absehbaren Notlagen im Lohnarbeiterdasein eingerichtet sind, von Beitragszahlungen aus Arbeitslohn abhängig. Ansprüche auf Rente, Arbeitslosengeld und medizinische Leistungen erwirbt nur, wer erstens überhaupt, zweitens ein Leben lang und drittens genug in die drei Kassen einzahlt. Die Kassen ihrerseits können ihre Leistungsversprechen nur einlösen, wenn insgesamt genug Leute in sie einzahlen und das Verhältnis von einzahlenden und zu versorgenden Versicherten nicht wegen der vielen Arbeitslosen kippt. Heute, wo immer weniger Leute ein voll beschäftigtes Arbeitsleben lang in sie einzahlen, versagen einerseits die sozialen Sicherungssysteme den erwünschten Dienst. Andererseits sind sie dennoch teuer, erhöhen die Kosten, die der Lohnarbeiter dem Unternehmer verursacht, verhindern also Beschäftigung. Drittens schließlich können sich Arbeitssuchende die wundervollen freien Formen der Beschäftigung nicht leisten, wenn mit ihnen gar keine soziale Sicherung mehr verbunden ist. Die Vordenker der Arbeitsmarktreform finden, dass Arbeit, die Armut bedeutet, nur von Leuten verlangt werden sollte, die am Ende eines solchen Arbeitslebens nicht vollends unversorgt dastehen. Sie suchen nach Wegen, den Verlust an Lebenslohn so zu organisieren, dass berechtigte Sicherungsansprüche dennoch gewährleitet werden können. Dafür wollen sie die sozialen Sicherungssysteme vom Lohneinkommen trennen. Nur dann können sich die Bürger auf einen Lohn einlassen, bei dem sie die Frage, ob er seinen Mann ernährt, gleich gar nicht mehr stellen brauchen. Die Entdeckung, dass das von der Gesamtheit der Lohnabhängigen verdiente Geld nicht mehr für den Lebensunterhalt der Klasse einschließlich der Alten, Kranken und Arbeitslosen reicht, lässt sich also auch konstruktiv wenden. Dann freilich heisst es auf die Suche nach Geldquellen zu gehen, aus denen - wenn schon nicht mehr aus dem Lohn - die Mittel der Fürsorge aufgebracht werden könnten. Und weil man den Unternehmen, die mehr Arbeitsplätze schaffen sollen, unmöglich die Unkosten des Lebensunterhalts der Arbeiterklasse aufbürden kann, bietet sich den Reformern am ehesten der Konsum der– lohnarbeitenden – Massen als verstärkt anzuzapfende Steuerquelle an.

Die Soziologen

lassen sich nicht auf vordergründige Ratschläge verpflichten. Sie blicken tiefer. Was die Arbeitsmarktexperten als Lösung vorschlagen, halten sie für einen Teil des Problems: Die Verteilung knapper Arbeit auf Kosten ihres Ertrags - gibt es längst! Die vielen ‘prekären’ Jobs sind nichts als "Umverteilung von Arbeitslosigkeit" und beweisen selbst, dass Vollbeschäftigung unwiederbringlich vorbei ist. Der Versuch, zur Vollbeschäftigung zurückzukehren, muß scheitern. So etwas geht heutzutage einfach nicht mehr:

"Zwei Prozent Arbeitslose, Normalarbeit als Regelfall, soziale Identität und Sicherheit qua Job: Das ist Geschichte. Doch die Politiker bringen nicht den Mut auf, die bittere Wahrheit über das Ende der Vollbeschäftigung auszusprechen. Auf der ganzen Welt wächst die Zahl der sogenannten ‘dauerhaft vorübergehend Beschäftigten’..." (Ulrich Beck, SZ-Interview, 20./21.März 99) "Wir können nicht davon ausgehen, dass wir die Arbeitsgesellschaft in alle Zukunft verlängern. Wir haben es in allen europäischen Staaten mit einer Umverteilung von Arbeitslosigkeit zu tun. In Deutschland ist es schon ein Drittel, in England die Hälfte, die nicht mehr in den normalen Arbeitsverhältnissen gesichert sind." (U. Beck, taz-Interview, 13.06.1997). "Wir werden uns auf den Zustand dauerhaft einrichten müssen, dass ein Großteil der Bürger beiderlei Geschlechts in "normalen" Arbeitsverhältnissen kein Unter- und Einkommen findet" (Claus Offe, taz. 6. 10.94).

Auch die Soziologen wissen erstens von einer Notwendigkeit, zweitens von einem Subjekt, das sie hervorbringt, und drittens von einem, das betroffen ist. Freilich sind es nicht die Arbeitslosen, die von Armut betroffen sind, und nicht die Unternehmer, die sie betroffen machen, vielmehr spielen "Wir alle!" beide Rollen. Das Kollektivsubjekt Mensch ist Täter und Opfer einer Entwicklung, der es hilflos ausgeliefert ist. "Es ist wichtig zu erkennen, dass die Entwicklung der Produktivkräfte so groß ist, dass wir mit sehr viel weniger Arbeitskräften mehr Güter und Dienstleistungen erzeugen können". "Der Mensch (!) ersetzt sich (!) durch intelligente Technologien" (Beck, SZ-Interview) Ganz schön blöd, "der Mensch.". Erst denkt er sich "Technologien" aus, die ihm die Arbeit abnehmen, und schwups findet er sich in "prekären Arbeitsverhältnissen" oder ganz ohne Einkommensquelle wieder. Seine schönen Produktivkräfte lassen den Reichtum anwachsen und den Arbeitsaufwand dafür schrumpfen, mit dem interessanten Resultat, dass "der Mensch" dadurch immer ärmer wird. Die Dialektik des furchtbaren zugleich aber unausweichlichen Fortschritts, den Soziologen beschwören, beweist nur, dass es das Kollektivsubjekt "Wir", in dessen Namen sie sprechen, nicht gibt: Da verteilt eben nicht "die Gesellschaft" die Arbeit unter ihren Mitgliedern, da treibt nicht "die Gesellschaft" die Produktivität ihrer Arbeit voran. Wäre es so, wäre "die Gesellschaft" also Subjekt dieses Fortschritts, dann könnte sie die Steigerung der Produktivität bei unerwünschten Folgen ohne weiteres stoppen. Derartige Folgen gäbe es in einem solchen Fall freilich nicht: Die Verringerung der notwendigen Arbeit würde allgemeinen Reichtum und wachsende Freizeit anstatt wachsender Armut zur Folge haben. Soziologen bestehen aber darauf, diese Gesellschaft feindlicher Interessen als Kollektiv zu deuten und den Gegensatz zwischen denen, die die Arbeit profitbringend anwenden, und denen, die vom Verkauf ihrer Arbeit leben müssen, in einen Selbstwiderspruch eines einheitlichen "Wir" zu verfabeln: Die "Arbeitsgesellschaft" zerstört ihre Grundlagen und gefährdet ihre Existenz.

Noch einmal anders: Soziologen bezeichnen die Wirtschaft, in der sich Kapital und Lohnarbeit gegenübertreten, als "Arbeitsgesellschaft", sehen also deren Eigenart durch die denkbar unspezifische Eigenschaft charakterisiert, dass in ihr gearbeitet wird. Als ob nicht auch jede andere - feudale, sozialistische oder sonst eine Gesellschaft binnen kürzester Zeit verhungern müßte, wenn sie das Arbeiten einstellte. Die Wortschöpfung, die eine ganze Theorie ist, behauptet die in jeder Gesellschaft nötige Arbeit als den speziellen Dreh- und Angelpunkt dieser Gesellschaft, der ihre Gliederung, die Stellung der Menschen in ihr, ihre Gesetze und Gebräuche bestimmt. Einmal wörtlich genommen stimmt an diesem Bild nichts: Nie hat die ganze Gesellschaft gearbeitet, nie wurden die Menschen – wie irrational das auch wäre – "mit Arbeit versorgt", nie war Arbeit Grund und Quelle der Teilhabe am gesellschaftlichen Reichtum. Noch immer gilt, dass die wirklich Reichen nicht arbeiten, aber darüber entscheiden, ob die Arbeit der anderen zustande kommt; und das tut sie nur dann und nur in dem Maß, in dem sie die Eigentümer der Produktionsmittel bereichert. Diesen gehört der ganze gesellschaftliche Reichtum und wenn sie Teile davon als Lohn ausbezahlen, dann gilt als gerechte Teilhabe der Arbeitsleute daran immer genau das, was sie sich von ihren Löhnen kaufen können. Aber wem sagt man das? Es hilft nichts, Soziologen über das Funktionieren der Wirtschaft unterrichten zu wollen, es interessiert sie nicht. Sie sind entschlossen, die wirkliche Funktionsweise der Ökonomie zu ignorieren, weil sie es auf ein anderes höheres Funktionieren abgesehen haben, das sie jetzt scheitern sehen. Nur weil sie ihr jetzt ihr Ende bescheinigen wollen, im Rückblick auf bessere Zeiten also, kommen sie auf die Idee, den Kapitalismus, für den sie früher andere Namen und andere Strukturprinzipien hatten, zur Arbeitsgesellschaft zu ernennen. Und nur wegen ihrer Idee eines höheren Funktionierens kommt ihnen der Anstieg der Arbeitslosigkeit von ca. 5% auf 10% derer, die auf Lohnarbeit angewiesen sind, – 90% werden dafür nach wie vor verwendet – als ein Ende der "Arbeitsgesellschaft" vor. Ob die wirkliche Funktion der Arbeit, den kapitalistischen Reichtum zu schaffen, durch die Rationalisierungserfolge mehr gewinnt oder durch die Nichtbeschäftigung vieler Millionen mehr verliert, ist ihnen egal – sie kennen nur ihre höhere Funktion der Arbeit und die halten sie für gefährdet.

"Arbeit war der große Integrator von Gesellschaft", (Heinz Bude, Gespräch über einige Perspektiven der Arbeitsgesellschaft, taz v. 8.7.97), "Arbeit hat 200 Jahre lang als Kitt der Gesellschaft gedient" (SZ-Artikel) Sie hat "den Zusammenhalt in der individualisierten Gesellschaft gesichert" (Beck) "Gesellschaft, Demokratie und Freiheit ermöglicht". (Beck).

Die höhere Funktion der Arbeit um derentwillen sie ihre wirkliche Funktion ignorieren, ist das immer gleiche Produkt soziologischer Abstraktionskunst: Arbeit wird zum gesellschaftsbildenden Prinzip ernannt: Sie schafft, dieser Sichtweise zufolge, nicht Produkte, nicht Lohn und Gewinn – jedenfalls nicht eigentlich – sondern nicht mehr und nicht weniger als die Existenz der durch sie strukturierten Gesellschaft, d.h. sie hält den Laden zusammen und seine Mitglieder bei der Stange. In ihrem Systemdenken wollen Soziologen gar nicht wissen, was für ein System jeweils vorliegt und worin sein Zweck besteht; als das geheime Prinzip jeder Gesellschaft entdecken sie immer dasselbe, nämlich dass sie ein System sei und immer ein und denselben Zweck hat: Selbsterhaltung. Da glaubt der Alltagsmensch, dass Unternehmer Arbeit für ihre Gewinnmaximierung verrichten lassen und dass Arbeiter um ihres Lohnes willen arbeiten, die unkritischen Schmarotzer des "stummen Zwangs der Verhältnisse" wissen, dass die Akteure dadurch unbewusst etwas ganz anderes tun, auf das es viel grundsätzlicher ankommt: Sie bewerkstelligen das Funktionieren der Gesellschaft und reproduzieren ihren Bestand.

Der "Bedeutungsverlust", den sie dem "Leitbild Erwerbsarbeit" attestieren, drückt die Sorge darum aus, dass die Lohnarbeit ihre gesellschaftsbildende Funktion einbüßen könnte. Insofern sind die wissenschaftlichen Frühwarner der Systemstabilität der staatlichen Furcht vor "sozialen Sprengstoff" verwandt, freilich nur verwandt. Wie der Staat anerkennen auch Soziologen die Beschädigung der Individuen, Armut und Verwahrlosung, als Problem nur in einer Hinsicht: Die Lumpen könnten der Gesellschaft Probleme machen und ihre Stabilität gefährden. Andererseits sind sie nur Analytiker und keine Propagandisten. Die Herstellung der Stabilität kennen sie per definitionem als Leistung ihres Gegenstands Gesellschaft. Sie ist die prozessierende Integration ihrer Mitglieder – und wenn diese Integration durch Erwerbsarbeit immer schlechter gewährleistet ist, dann wächst ein rettender neuer sozialer Kitt aus dem Leben der Gesellschaft von selbst heran: Neue Werte und Orientierung bilden sich automatisch, wenn der Mensch sich an Arbeit und Lohn schon nicht mehr orientieren kann.

Zu Kritikern der Politik werden die Wächter über ihren automatischen gesellschaftlichen Zusammenhalt, weil sie bei ihr die Bereitschaft zu Anpassung an die Erfordernisse eines neuen "Integrationsmodus" vermissen. U.Beck erklärt die Politiker mit ihrem "öffentlich zelebrierten Glauben an die Wiedergewinnung der Vollbeschäftigung" (Schöne neue Arbeitswelt, Frankfurt/New York 1999, S. 93) zur Gefahr für die Gesellschaft. Weil sie nicht den Mut haben, von diesem unerreichbaren Ziel abzurücken, schaffen sie die trostlosen "Billigjobs" a la "Jobwunder Amerika", die der "Kitt" gar nicht mehr sein können, der die gute alte Berufswelt war. Ohne Rücksicht auf Glaubwürdigkeit und auf gefährliche Wirkungen propagieren Politiker einen "Imperialismus der Arbeitswelt", der alle gesellschaftlichen Bereiche nach seinen Werten zu formen beansprucht, der Selbstachtung und Lebensperspektive der Menschen definieren will – und dem doch keine Realität mehr entspricht. Die obsolet gewordenen Werte und Orientierungen der Arbeitswelt bewirken Frustration, führen zu einer Abwendung der enttäuschten Bürger von der Gesellschaft – und das alles nur, weil die Politiker ihr altes Denken nicht ablegen mögen und sich weigern, das veraltete Leitbild von der zentralen Rolle der Erwerbsarbeit gegen den neu entstehenden sozialen Kitt auszutauschen.

Das wäre so leicht. Wenn bisher die "Erwerbsarbeit" Sicherheit, Lebenssinn, gesellschaftliche Teilhabe und dadurch Stabilität gestiftet hat, jetzt aber immer weniger zu haben ist, dann muß sich die Gesellschaft nur dazu bekennen, dass Arbeit, Teilhabe und Anerkennung auch ohne Erwerb gewährt werden können. "Die Antithese zur Arbeitsgesellschaft ist nicht die Freizeitgesellschaft, sondern die Tätigkeitsgesellschaft" (Beck), in der das "Tätigsein für selbstbestimmte und sinnvolle Ziele" jenseits des Erwerbs ein Zweck in sich wird. Anläßlich dessen, dass der Integrator "Erwerbsarbeit" nicht mehr zu haben ist - und nur deshalb -, lassen sich die Liebhaber echter Integration einfallen, wie wenig selbstbestimmt diese bisher doch gewesen ist. "Siebeneinhalb Stunden Werkeln am Tag und nach Tariflohn bezahlt" (SZ) das ist nicht die freie und eigene Einordnung in das große Ganze, die echte Stabilität schafft. Die massenhafte Arbeitslosigkeit entdecken Soziologen als etwas ganz Positives, als Chance für "die Rückgewinnung demokratischer Kompetenz", als "Zuwachs von Möglichkeiten, sozial zu handeln" (M.Miegel). In freier "Bürgerarbeit" kann der einzelne sich in die Gesellschaft einbringen. Dazu braucht "das Prekäre der neuen Arbeitsformen" nur in ein "Recht auf diskontinuierliche Erwerbstätigkeit, in ein Recht auf frei wählbare Zeit umgewandelt" (Beck) zu werden.

Ach richtig, da war ja noch etwas. Das liebe Geld. Als Randproblem bei der Realisierung ihrer soziologischen Phantasie fällt den gewissenhaften Theoretikern doch glatt noch das einzig echte Problem der Arbeitslosigkeit ein: Die Arbeitslosen haben kein Geld. Nur deswegen sind sie arbeiten gegangen, nur deshalb fehlt ihnen Arbeit. Dass sie Arbeit ohne Erwerb nicht suchen und nicht brauchen, hilft ihnen nichts. Allerdings anerkennen die Anbieter der neuen Integration per erwerbsfreier Bürgerarbeit, dass das Geldproblem gelöst werden muß. Zur Bürgerarbeit gibt’s dann eben ein "Bürgergeld", oder eine "Grundsicherung", die den Bürger frei macht für selbstbestimmtes Engagement zur Verschönerung der Gesellschaft. Kein Problem, so etwas muß die Politik nur beschließen. Wenn’s nur das ist, hätte die Politik ja auch gleich dafür sorgen können, dass Arbeitslose keine Geldprobleme bekommen, oder dass der Lebensunterhalt gar nicht erst an gewinnbringende Arbeit geknüpft wird, oder dass es bei der Wirtschaft um Versorgung geht und nicht um Profit. So maßlos wollen die Wissenschaftler beim Wünschen dann doch nicht sein: Den Unterpunkt ‚Finanzierung‘ seines neuen gesellschaftlichen Kitts löst der Modesoziologe Beck mit einer bunten Mischung aus Idealismus und Realismus:

"Wer das bezahlen soll? Eine Quelle des Bürgergelds sind beispielsweise die Unsummen, die in Europa in Form von Arbeitslosen- und Sozialhilfe dafür ausgegeben werden, dass jemand nichts tut. Der Empfänger von Bürgergeld leistet öffentlich wichtige und wirksame Bürgerarbeit, ist insofern nicht arbeitslos und bezieht für seine Leistung das Bürgergeld. Dieses setzt sich zusammen aus öffentlichen Transfergeldern, Drittmitteln des betrieblichen Sozialsponsorings, kommunalen Eigenfinanzierungen, sowie den Beträgen, die in der Bürgerarbeit selbst erwirtschaftet werden." (Beck, S. 128/129)

Wenn die Summen der Arbeitslosen- und Sozialhilfe, die die Elenden ohnehin schon kassieren, mit kleinen Spenden der Großbetriebe, die diese Leute gerade aus Kostengründen entlassen haben, und mit städtischen Zahlungen für öffentliche Arbeit, die eigentlich nicht gemeint war, addiert werden und wenn die Bürgerarbeit dann auch noch eine Ware hervorbringt, die ein Käufer privat bezahlt, dann ist doch ein prima Einkommen beieinander - oder? Kein Wunder, dass die Verfechter der Bürgerarbeit bei so viel Realismus einer Verwechslungsgefahr vorbeugen müssen.

"Bürgerarbeit darf auf keinen Fall mit dem Zwang verwechselt werden, dem Sozialhilfeempfänger bei der Übernahme kommunaler Arbeit jetzt überall ausgesetzt werden." (Beck, S. 129)

Das mußte gesagt werden. An der Höhe der feinen "Grundsicherung" entscheidet sich nämlich, ob soziale Idealisten sich zu Wort melden, die kapitalistisch spinnen, oder ob sich verantwortungsbewußte Gesellschaftswissenschaftler sich an die Neuinterpretation der existenten Armutsverwaltung machen, die diese unerwünscht wachsende Abteilung Staat vom Ruch des Asozialen und des Notbehelfs befreien soll. Die vielen sinnvollen Tätigkeiten, die den Verfechtern der Bürgerarbeit einfallen, wenn sie Vorschläge für freie und selbstbestimmte Betätigung machen, sind denn auch verräterisch: Gebrauchtwarenhäuser für den schmalen Geldbeutel, Beratung von Heimwerkern, die sich ihre Möbel selbst basteln müssen, usw. Die Konstrukteure des neuen sozialen Kitts wissen jede Menge unbefriedigter Bedürfnisse, die sich durch Nicht-Geld-Arbeit befriedigen ließen - alle nämlich, deren Befriedigung sich im Kapitalismus nicht zur Geldquelle machen läßt: Die sozialen Nöte halt. Ist das die Idee, dass auch Paupers sich als vollwertige Mitglieder der Gesellschaft erfahren dürfen, wenn sie sich für Sozialhilfe und ohne weiteres Einkommen um die Nöte der Leute kümmern, denen es so geht wie ihnen, und dadurch die Welt des kapitalistischen Reichtums vor Schaden bewahren?

Zum Glück für ihre Erfinder wird diese Frage niemals entschieden, weil aus der allgemeinen Einführung von Nicht-Erwerbsarbeit nichts wird. Mögen die soziologischen Phantasten ihr Projekt noch so brav und realistisch entwerfen, die verantwortlichen Politiker lehnen es ab und erhalten dieser schönen neuen Arbeitswelt dadurch das "Visionäre". Sie bestehen darauf, dass Erwerbsarbeit die gesellschaftliche Norm zu bleiben hat. Der These vom Ende der Arbeitsgesellschaft und den angepeilten Ersatzlösungen entnehmen sie nur, dass sich da mit dem Segen der Wissenschaft in der Arbeitslosigkeit eingerichtet und ein Überleben gesucht werden soll. Sie aber verwalten einen Kapitalismus. Sie wollen nicht, dass Arbeitslosigkeit aushaltbar ist oder aushaltbar gemacht wird – alle Schritte in diese Richtung schwächen nur den Zwang zur Arbeit ab, dem die Menschen ungeschmälert ausgesetzt gehören – gleichgültig, ob sie Käufer ihrer Dienste finden oder nicht.

"Erwerbsarbeit bedeutet nun mal existentielle Absicherung. Alternativen sind soziale Transfers - und die müssen irgendwo erwirtschaftet werden. Nein ,nein: Der normale Mensch ohne großes Erbe muß über die Erwerbsarbeit sein Einkommen erzielen".(Familienministerin Bergmann ZEIT-Interview vom 29.4.99)