Freerk Huisken, Uni Bremen 9/99
Die Freiheit der Wissenschaft - eine Herrschaftstechnik,
oder: Wie die Funktionalisierung der Wissenschaft für Staats- und Geldmacht verläuft.
Freiheiten, handele es sich um die Meinungsfreiheit, die Glaubensfreiheit oder auch die Freiheit von Forschung und Lehre, sind - so haben wir gelernt - hohe Güter und Schmuckstücke der Demokratie. Wem angesichts von Arbeitslosigkeit, Sparpolitik, AKWs oder Kriegsbeteiligung partout kein Grund zur Verteidigung der Demokratie entfällt, greift zurück auf diese Freiheiten. Die hat es nämlich im Faschismus nicht gegeben, heißt dann der letzte Rettungsanker. Dabei zeigt schon dieser angestrengte Vergleich, daß das uneingeschränkte Lob der Freiheiten ziemlich verfehlt ist. Nicht nur, weil es ohnehin nur als relatives Lob daherkommt - es soll für die Demokratie sprechen, daß sie sich vom Faschismus unterscheidet! -, sondern vor allem, weil es Maß nimmt an staatlichen Erlaubnissen. Daß der demokratische Staat seinen Bürgern etwas gewährt, was sein Vorgänger nicht oder nur begrenzt zugelassen hat, dafür wird er Gründe haben, die es vor dem Halleluja allerdings erst einmal zu prüfen gilt. Welche das sind, läßt sich am besten ermitteln, wenn man die Kehrseite der dem privaten Handeln eingeräumten Freiheiten betrachtet. Wer sagt: "Ihr dürft dies und das!", sagt zugleich immer: "Aber jenes und solches dürft ihr nicht!" Mit der staatlichen Definition von Freiheiten und Bürgerrechten steht zugleich fest, was als Mißbrauch gilt und verboten ist. Die staatliche Erlaubnis ist also die Festlegung der Bürger auf einen Spielraum funktionellen Handelns. So erklärt der Hüter der Meinungsfreiheit etwa: Ihr dürft Eure Meinung frei sagen! Aber ich erlaube Euch nicht so ohne weiteres, dafür zu sorgen, daß Eure Meinung eine praktische Anerkennung erfährt. Was von Euren Meinungen dann berücksichtigt wird und was nicht, entscheide ich! Wer nicht berücksichtigt wird, soll sich nicht grämen, sondern froh sein, daß er überhaupt .... So ist der Bürger als kritischer Demokrat gefragt, darf sich in die Politik einmischen und wird zugleich auf konstruktive, also staatskonforme Kritik festgelegt - auf die er sich dann auch noch ganz viel einbilden darf.
Bei der Freiheit von Forschung und Lehre ist es nicht anders. Auch hier ist das Funktionelle an der staatlichen Gewährung von Freiheiten zu untersuchen.
1. Das Prinzip der Wissenschaftsfreiheit
1.1. Die Hochschulen sind Einrichtungen des Staates. Er steht für sie ein, bezahlt die anfallenden Sach- und Personalkosten. Den Hochschullehrern garantiert er einen sorgenfreien Lebensunterhalt. So können sie - und das sollen sie gerade - Wissen produzieren und vermitteln, ohne sich ständig jene Geldsorgen machen zu müssen, mit denen sich die Mehrheit der Bevölkerung herumschlägt. Das ist ihr Privileg. D.h. sie müssen sich deswegen auch mit dem Inhalt ihrer (Kopf-)Arbeit nicht dem Geldgeber andienern. Der erpreßt sie nicht mit Geldnot, damit sie ihm wohlgefällig denken und forschen, wie das unter feudaler Herrschaft der Fall war. Die Wissenschaftler setzt der Staat nicht nur von den Nöten der Erwerbsarbeit frei, sondern auch von staatlichen Weisungen beim Nachdenken. Er schreibt nicht den Inhalt oder gar das Ergebnis der Forschung vor, sondern überläßt beides den Professoralhirnen, erklärt allein sie dafür zuständig. Wissenschaftler sollen ganz ihrem Forschungsinteresse und der Logik des Denkens folgen., ihre Forschung voran bringen und so das Wissen ganz allgemein und - zunächst einmal - ganz ohne jeden bestimmten staatlich erwünschten Anwendungszusammenhang entwickeln. Wissen mehren, lautet dieser erste, sehr abstrakte Staatsauftrag, der in der Freiheit der Forschung eingeschlossen ist. Er verweist darauf, daß der "moderne Staat" Wissen als Mittel seiner Macht gebraucht. Nur weil es ihm auf wirkliches Wissen ankommt, setzt er den Wissenschaftsprozeß von all den zeitlichen, materiellen und sonstigen Zwängen frei, die das Erwerbsleben auszeichnen. Nach Vorschrift, unter Zeitdiktat oder Finanzdruck lassen sich im übrigen - das liegt in der Natur dieser Sache - neue wissenschaftliche Erkenntnisse auch gar nicht produzieren.
1.2. Wenn um die Wissenschaft eine Art Zaun mit staatlicher Freiheitsgarantie errichtet wird, dann bedeutet dies umgekehrt, daß außerhalb dieser Sphäre des Geistes, also in Politik und Ökonomie nicht das systematisch produzierte Wissen die Zwecke der Menschen bestimmt. Der staatlich fürs systematische Nachdenken über Natur und Gesellschaft freigesetzte Stand kommt bei ihrer Gestaltung nicht zum Zug, d.h. den Wissenschaften wird mit der theoretischen Reflexion nicht zugleich die praktische Bestimmung gesellschaftlicher Anliegen überantwortet. Ökonomie und Familie, Justiz und Kultur, Schule und Fernsehen werden nicht nach Einsicht, d.h. nach Abklärung aller Argumente, sondern getrennt von der Wissenschaft nach Interessen regiert, die sich keiner wissenschaftlichen Prüfung unterwerfen müssen, denn sie sind bekanntlich mit Macht ausgestattet. So melden denn beide gesellschaftlichen Bereiche, Staats- und Geldmacht, steigenden Bedarf an wissenschaftlicher Erkenntnis an, aber eben nur als Mittel für ihre feststehenden Ziele. Es läßt sich bekanntlich keine Partei von ihren politischen Anliegen durch die Erwähnung neuster Erkenntnisse oder einiger guter Argumente abbringen. Wissenschaft darf und soll zwar Staatsorgane beraten, d.h. ihrem politisch beschlossenen Interesse passende Argumente liefern; weswegen sich bekanntlich jede Partei ihre Wissenschaftler sucht und sie auch findet, die dann ihre politischen Anliegen - nicht etwa objektiv prüfen, sondern - stützen. Aber von der Einmischung in die politischen Zwecksetzungen, von einer auf praktische Änderung dringenden Kritik sind die Produzenten der Erkenntnis ausgeschlossen.
Gerade dadurch, daß die Wissenschaft von jeder besonderen, staatlich bestimmten Zwecksetzung frei ist, erfüllt sie ihre Aufgabe, als allgemeines geistiges Dienstleistungsunternehmen Erkenntnisse zur produzieren, die dann für Zwecke und Anliegen zur Verfügung stehen, die selbst der wissenschaftlichen Reflexion entzogen sind. So schafft sie einen Fundus an Wissen, aus dem sich Staat und kapitalistische Ökonomie nach ihren Interessen bedienen. Die sichten in ihren eigenen Etablissements die Resultate und wenden an, was ihnen nützt, lassen sich aber von der Wissenschaft nicht ihre Zwecke vorschreiben. So ist denn mit der staatlichen Einrichtung der Freiheit der Wissenschaft ihre - notwendig - affirmative Funktion institutionalisiert.
Innerhalb der Wissenschaft(sethik) gilt diese Enthaltsamkeit in Sachen Einmischung geradezu als Tugendbeweis und besitzt den Charakter einer Vorschrift: Wertfrei müsse Wissenschaft sein, wenn sie anerkannt sein will, lautet sie. Und gemeint ist mit diesem Wertfreiheitspostulat nichts anderes als das Verbot, aus der Funktionalisierung im staatlichen Geistesghetto auszubrechen und aus wissenschaftlicher Erkenntnis heraus gesellschaftliche Zusammenhänge bestimmen zu wollen. Die gehen den Wissenschaftler nichts an; und folglich gilt es als Mißbrauch der Freiheit der Forschung, wenn Forscher zur Einmischung aufrufen - besonders natürlich, wenn sie auf unerwünschten Ratschlägen auch noch insistieren. Frei von jeder Einmischung ins pralle gesellschaftliche Leben hat die Forschung zu sein, eben wertfrei, lautet die Dienstanweisung, die mit der staatlichen gewährten Forschungsfreiheit formuliert ist.
1.3. Wissenschaft, die für jedes staatlich anerkannte Interesse dienstbar sein soll, muß deshalb - gerade im Bereich der Geisteswissenschaften - pluralistisch verfaßt sein. Denn jedes Gedankengebäude bezieht seine Geltung nicht aus seiner Stimmigkeit, sondern aus seiner potentiellen Brauchbarkeit für praktische oder ideologische Zwecke. Pluralismus ist folglich kein Wert im Geistesleben, sondern ein funktionelles Erfordernis seiner Knechtsstellung - mit der die Grenzen des Pluralismus im übrigen klar markiert sind. Die Freiheit der Forschung schließt damit in den Geisteswissenschaften die Gleichgültigkeit gegenüber dem Wahrheitsgehalt des Gedachten mit Notwendigkeit ein. Anders gesagt: Wo der staatliche Auftrag an die Forschung gänzlich abstrakt und ohne inhaltliche Vorgaben allein der Entwicklung von Wissen gilt, da kann folglich alles Gedachte die gleiche Geltung beanspruchen. Wo jeder Wissenschaftler nur seinem subjektiven Gedanken folgen soll, da gilt sein Resultat etwas und zwar völlig unabhängig von seinem Wahrheitsgehalt gleich dem Gedanken des Kollegen, der sich demselben Gegenstand wissenschaftlich zugewandt hat und dabei zu völlig anderen oder sogar zu entgegengesetzten Resultaten gelangt ist. Und so etwas gilt als Gütezeichen der Wissenschaft!
2. Die Grenzen der Wissenschaftsfreiheit ...
2.1. ... , die in der staatlich gewährten und eingerichteten Freiheit eingeschlossen sind, liegen damit auf der Hand. Es sind zwei Abteilungen des Mißbrauchs der Freiheit, die den staatlichen Verwalter der Wissenschaftsproduktion stören. Wer als Wissenschaftler Front macht gegen den Pluralismus, wer auf der Wahrheit seiner Erkenntnisse beharrt - und zwar solange wie sie nicht widerlegt sind -, wer sich also dem Prinzip der Gleichgültigkeit gegenüber dem Gehalt des selbst und von anderen Gedachten nicht anschließt, der ist in den Geisteswissenschaften des Dogmatismus überführt und muß - im harmlosesten Fall - nicht ernst genommen werden. Und wenn ein Wissenschaftler dies gar mit dem Anspruch verbindet, aus seinen Erkenntnissen würden ganz bestimmte praktische Konsequenzen folgen, die es gegen die herrschende Realität durchzusetzen gelte, zumal die nur das "schlechte Argument" des mit Macht ausgestatteten und rücksichtslosen Interesses auf ihrer Seite hätte, wer also als Wissenschaftler gültige gesellschaftliche Zwecke in Frage stellt, der hat gegen das Postulat der Wertfreiheit oder gar gegen den neuerdings mit Disziplinarmitteln ausgestatteten Ethik-Kanon des bürgerlichen Geisteslebens verstoßen. Der Spielraum dessen, was zum erlaubten Pluralismus gehört oder in ihm noch geduldet wird, fällt je nach politischer Konjunktur enger oder weiter aus. Und ob gegen "Radikale im Staatsdienst" Berufsverbote verhängt, Abmahnungen ausgesprochen oder sie anderweitig um jede Wirkung gebracht werden, hängt gleichfalls davon ab, für wie ärgerlich die unerlaubte Einmischung des Wissenschaftlers in Zwecke gilt, die ihn praktisch nichts angehen dürfen, obwohl er sich ständig theoretisch mit ihnen zu befassen hat.
2.2. Wer dagegen umgekehrt die Disziplinierung von Wissenschaftlern für den Mißbrauch der Freiheit hält und in der heute üblichen Auftragsforschung, dem Drittmitteldiktat oder in den von Großkonzernen gesponserten Lehrstühlen das Ende der Forschungsfreiheit erblickt, liegt gänzlich falsch. Der stellt das Dienstverhältnis auf den Kopf und hält die im Universitätsbetrieb gewährte Freiheit glatt für einen Dienst des Staates an der Wissenschaft und ihren Repräsentanten. Wer anprangert, daß sich der Wissenschaft zunehmend ein außerwissenschaftliches Interesse bemächtigt, liegt zwar richtig in der Feststellung der Instrumentalisierung des Geisteslebens. Falsch liegt er jedoch darin, daß er dies für einen neuen Trend hält, ihn am heutigen Stand von Auftragsforschung festmacht und gegen alte Gepflogenheiten hält. Gerade um eine Instrumentalisierung der Resultate der Wissenschaft für Geld- und Staatsmacht geht es bei der staatlichen Einrichtung dieser gesonderten Sphäre Universität. An eine Verhinderung des Zugriffs von Nutznießern auf die Wissensproduktion ist überhaupt nicht gedacht. Vielmehr ist auf diese Weise umgekehrt die Wissenschaft vom Eingriff in gesellschaftliche Zwecke ausgeschlossen. Wen also allein dieser unmittelbare Zugriff etwa in Gestalt der Auftragsforschung stört, der hat den Witz an Form und Zweck kapitalistischer Wissensproduktion verpaßt. Für ihn wäre das Verhältnis von Wissenschaft und kapitalistischer Gesellschaft schon ziemlich in Ordnung, wenn sich die Auftraggeber aus der Alma mater zurückziehen, folglich erst nach Abschluß der Forschung in eigenen Einrichtungen mit der Brauchbarkeitsprüfung beginnen würden. Wenn doch bloß in der Universität die Zwecke, denen Erkenntnisse so oder so dienstbar gemacht werden, nicht so aufdringlich präsent wären, könnte er glatt am schönen Schein eines freien, ganz eigenen und ziemlich wohltätigen Zwecken verpflichteten Geisteslebens festhalten!
Daß die potentiellen Anwender - Firmen, Branchen, staatliche Einrichtungen - in zunehmendem Maße ihr Interesse an verwertbarem Wissen dort sehr konkret und finanzkräftig geltend machen, wo es produziert wird, kommt der Sparpolitik von Kultusbehörden zwar entgegen und stellt einen Anreiz für kostspielige Forschung dar, begründet sich aber nicht aus ihr. Diese Übung, die Wissenschaft gleich über den unmittelbaren Zugriff auf ihre Quellen in den Dienst konkreter politischer und ökonomischer Zwecke zu stellen, erklärt sich zum einen daraus, daß vermehrt technologisches Wissen zu einem entscheidenden Mittel der Konkurrenz von kapitalistischen Konzernen um Weltmarktanteile und von Nationalstaaten um bessere Ausstattung mit Souveränitätsmitteln, wie man sie jetzt im Kosovo-Krieg besichtigen konnte, avanciert. Zum anderen bekommt die Funktionalisierung der staatlichen Forschungseinrichtungen per Auftragsforschung diese neue Dimension überhaupt nur deswegen, weil sich generell das Verhältnis von Grundlagenforschung zu unmittelbar verwendbarer, technologischer Forschung zu Gunsten letzterer verschoben hat. Es gibt im Bereich der Naturwissenschaften immer mehr gesichertes Wissen und folglich konzentriert sich Forschung von sich aus weniger auf "weiße Flecken" als vielmehr auf Anwendungsfragen.
Fazit: Die Freiheit der Wissenschaft zu verteidigen, ist Sache des Staates. Es gibt keinen guten Grund, sich dieser Angelegenheit anzunehmen. Denn das Bemühen um richtige Erkenntnis von Gesellschaft, ihrer praktischen Umsetzung und um vernünftige Anwendung von Naturwissenschaft hat darin keinen Platz. Wer sich an den Ideologien der Gesellschaftswissenschaft stört, wer ihren Pluralismus für eine geistige Zumutung hält und etwas dagegen hat, daß mittels richtiger Naturerkenntnis heute Zerstörungswerke aller Art voran gebracht werden, kommt vielmehr um die Kritik der staatlich eingerichteten Freiheit der Wissenschaft nicht herum.