Ein Auszug aus - kassiber 34 - Februar 98
1. Der Studentenstreik: Eine falsche Bildungstheorie wird praktisch
Deutsche Studenten streiken - gegen die schlechte materielle Ausstattung der
Universitäten, gegen Bafög-Kürzungen, Studiengebühren und gegen staatliche Pläne zur
Neuorganisation von Studium und Hochschule. Die diversen Beschwerden, die sie vortragen,
fassen sich in einer zusammen: Die sozialen und materiellen Umstände, unter denen man
heutzutage an deutschen Universitäten studieren muß, erschweren bis verunmöglichen es,
sein Studium in den vorgeschriebenen Fristen und mit der Aussicht auf die Erreichung eines
Abschlusses abzuwickeln. Deshalb verlangen die Studenten von den Bildungspolitikern,
dafür zu sorgen, daß den Studenten an den Hochschulen ein materiell abgesichertes,
ordnungsgemäßes Studium auch möglich sei.
Auch mit diesem bescheidenen Anliegen haben die Studenten bei der herrschenden
Bildungspolitik nicht landen können. Zwar wurden ihr Streikaktionen von oben mit viel
Wohlwollen bedacht; irgendwelche materiellen Zusagen wurden aber nicht gemacht. Woraus man
eines immerhin lernen könnte: Von wessen Beschwerden Politiker sich beeindrucken lassen,
entscheiden sie nach ihren eigenen Prioritäten und nicht danach, wie energisch und
ernsthaft ein Stand - handele es sich nun um Studenten, Bauern oder Werftarbeiter - sein
spezielles Anliegen der Politik zur Kenntnis bringt. Es ist eben ein Fehler, sich die
eigene Angewiesenheit auf die Leistungen des Bildungssystems in ein Recht zu übersetzen,
das einem doch - irgendwie - auch nach dem Willen der Politik zusteht, und zu meinen, mit
Appellen an bessere Einsicht könnte man bei den Veranstaltern des Ladens namens
"Standort Deutschland" Eindruck machen.
Die wohlwollende Aufnahme, die der Studentenstreik von oben erfuhr, hat ihn in manchen
studentischen Kreisen suspekt gemacht. Vermißt wurden gesellschaftskritische Töne;
"unpolitisch", so hieß es, sei der Streik - ein Mangel, dem z.B. die
Vollversammlung der Bremer Uni-Studenten dadurch abhelfen wollte, daß sie die Streikziele
um eine bunte Palette von Forderungen bereicherte: Gegen Tierversuche, Sexismus,
Ausländerfeindlichkeit ... Als Einwand, als Kritik an den Parolen vom
"Bildungsklau" und von der "Bildung auf Tauchstation", mit denen sich
die Streikenden vor dem Bundestag aufbauten, waren diese phantasievollen Ergänzungen
nicht gemeint. Da waren sich alle Streikfraktionen nämlich wieder ziemlich einig: Daß es
sich bei der gegenwärtigen Bildungspolitik nicht um eine Re-, sondern um eine Deform und
bei der Sparpolitik im Bildungssektor um ein "Kaputtsparen" handele, gegen das
das eigene Recht auf Bildung verteidigt werden müsse.
"Unpolitisch" ist dieser Standpunkt nicht, im Gegenteil. Den Streikaktionen ist
vielmehr zu entnehmen, daß die Studenten auch ohne weitere Ursachenforschung ein fix und
fertiges politisches Urteil über die Gründe ihrer Misere in Kopf haben. Die beruht auf
einem einfachen Dreisatz: Erstens sind Universitäten nützlich, und zwar sowohl für den
Staat, der sie einrichtet, als auch für die Studenten, die in ihnen studieren. Zweitens
wird die Sicherstellung dieses Nutzens von den zuständigen Bildungspolitikern schlecht
bis gar nicht erledigt. Deshalb liegt hier drittens ein Fall von politischem Fehlverhalten
vor, der die Studenten zu Protest berechtigt und die Politiker verpflichtet, Einsicht zu
zeigen und ihren Kurs zu Ändern. Daran stimmt leider nichts.
Natürlich, soviel ist unbestreitbar: Der Staat richtet die Unis zur Erlangung
akademischer Berufsqualifikationen ein; Studenten sind ausweislich ihres Abiturs
berechtigt, solche Qualifikationen anzustreben, also zu studieren; Bildung wird also von
beiden Seiten gebraucht. Mit dieser schlichten Feststellung haben sich die Studenten glatt
die Frage erspart, worin der "Nutzen" der Universität für beide Seiten
besteht, ob und inwiefern sich die Interessen von Staat und Studenten an
"Bildung" überhaupt decken, und wie die Universitäten ihrem
allgemeinnützlichen Auftrag nachkommen. Das rächt sich: Zur vorurteilsfreien Klärung
der Frage, warum die staatlichen Stellen mit ihren Bildungseinrichtungen immer so schnöde
umgehen, kommt es deshalb gar nicht erst. Da wäre ja zu klären, ob die für mangelhaft
befundene Ausstattung der Universitäten - wie übrigens auch die der Schulen,
Berufsschulen etc. - sich nicht vielleicht gerade aus dem geltenden Auftrag der hiesigen
Bildungspolitik ergibt; ob es nicht vielleicht mit dem Ausbildungsziel der
Bildungsstätten zu tun hat, wenn ein beträchtlicher Teil der Lernenden ihres Aufenthalts
in ihnen nicht recht froh wird. Da wäre also die Überlegung fällig, ob der Nutzen, den
man sich selbst von der Uni verspricht, eventuell mit dem Zweck des Bildungsysstems gar
nicht übereingeht - so daß man mit den Erwartungen, die man als Student an die Stätte
"Bildung" knüpft, nicht bloß schlecht bedient wird, sondern ganz prinzipiell
schief liegt. Die streikenden Studenten sind mit der Feststellung einer Diskrepanz
zwischen der allgemein anerkannten Nützlichkeit von Bildung einerseits, der schlechten
staatlichen Erledigung des Bildungsauftrags andererseits aber schon am Ende der geistigen
Anstrengung, sich ihre Lage zu erklären.
Lieber lassen die Studenten an die Adresse der Politiker die Beschuldigung los, sie
würden ihre Bildungsstätten vernachlässigen. Die paart sich mit viel Bereitschaft zu
deren Entschuldigung; an Verständnis für die "Sparzwänge" und
"Haushaltsprobleme", mit denen die Politik angeblich auch im Bildungsbereich zu
kämpfen hat, haben sie es jedenfalls nicht fehlen lassen. Mit ihrer Beschwerde über
"Kaputtsparen" wollten sie keine Kritik an der offiziell verbreiteten Sichtweise
anmelden, daß es sich beim Sparen des Staates an seinen Bürgern um die Konsequenz von
"Sparzwängen" handelt, denen der Staat selbst unterliegt. "Sparen" -
aber immer! Aber bitte richtig und verantwortlich; also nicht an unseren
Studienbedingungen. (1) Wer so argumentiert, der hat
sich die von oben verbreitete Sichtweise einleuchten lassen, nach der alle Mißlichkeiten,
mit denen man selbst zu kämpfen hat - Bafögkürzungen, fehlende Bücher, volle Seminare
- in Wahrheit nur der Ausfluß der guten oder schlechten Bewältigung von Problemen sind,
die der Staat mit der Erfüllung seiner Aufgaben hat. So gesteht auch der
Akademikernachwuchs der Politik zu, daß sie es schwer hat, weil sie sich mit einer
schwierigen Lage herumzuschlagen habe; weshalb das höchste, das man fordern kann, ist,
daß sie diese Aufgabe verantwortlich erledigt. (2) Die
zu dieser verständnisvollen Anklage passenden Aktionen lassen nicht lange auf sich
warten. Gegen verantwortungslose Politik demonstriert man den eigenen Bildungswillen - mit
Vorlesungen am Brill, bitteren Pillen in der Sögestraße und einem kalten Bad am Unisee.
So macht man Politiker in aller Höflichkeit, aber auch Dringlichkeit darauf aufmerksam,
daß sie den Studenten, dem gesellschaftlichen Fortschritt und letztlich auch sich selbst
keinen Gefallen tun, wenn sie ohne Rücksicht auf soziale und bildungspolitische
Notwendigkeiten an den Unis herumreformieren.
So sicher sich die Studenten sind, daß die deutsche Bildungspolitik versagt, sowenig
wissen sie allerdings zu sagen, bei der Erfüllung welchen Bildungauftrags denn
eigentlich; und als Beleg für ihre Behauptung vom "Bildungsklau" haben sie
bloß ihre eigenen Schwierigkeiten beim Studieren vorzuweisen. Irgendeine genauere
Vorstellung davon, was das Bildungssystem anderes zu leisten habe, als es leistet, haben
sie gar nicht anzubieten; außer eben der, das das Lernen und Lehren
"effizienter" im Sinne ihres Ausbildungsziels zu erfolgen habe: Mehr Bücher,
Räume, Professoren ... Daß die Universität für genau die Aufgaben, Tätigkeiten,
"Funktionen" ausbildet, die diese Gesellschaft als höhere Berufschancen zu
vergeben hat, versteht sich für die streikenden Studenten einerseits so sehr von selbst,
daß sie weder einen kritischen Gedanken auf den Gehalt dieser Funktionen verwenden noch
sich gar die Frage stellen, welcher Art die "Kenntnisse und Orientierungen"
eigentlich sind, die dazu befähigen, in unserem Lande den Beruf des Lehrers,
Sozialarbeiters, Journalisten, Rechtsanwalts, Parteivorsitzenden oder
Bundesbankpräsidenten auszuüben. Andererseits scheuen sie sich nicht, Parolen wie
"Bildung für alle" und "Chancengleichheit" vor sich herzutragen -
obwohl ihnen schon im Zuge ihres 13jährigen Aufstiegs vom Erstklässler zum Abiturienten
durchaus einmal hätte auffallen können, daß in einem Bildungssystem, das
heranwachsenden Jugendlichen die für ihren jeweiligen "Platz" in dieser
Gesellschaft nötigen Kenntnisse und "Orientierungen" - also auch bloß die! -
verabreicht, solche menschenfreundlichen Ideale wohl kaum der Maßstab für die
Verabreichung der jeweiligen Wissenshäppchen sind. (3)
Es ist eben ein etwas widersprüchlicher Standpunkt, Leistungen des Staates in Sachen
akademischer Ausbildung einzuklagen und gleichzeitig zu behaupten, man wäre in Sachen
eines allgemeinen Menschheitsdienstes namens "Bildung" unterwegs - es sei denn,
man versteht unter diesem hohen Gut eben doch bloß das, was dieses schöne Gemeinwesen
seinen diversen Insassen jeweils an Kenntnissen und allgemeinen Sinnstiftungen, das
Zurechtkommen im demokratischen Kapitalismus betreffend, zukommen lassen will.
Das Bekenntnis der Streikenden, wirklich nicht mehr oder anderes fordern zu wollen als
das, wozu man ausweislich seines Status als Student doch berechtigt sei, beruht in all
seiner Bescheidenheit auf einer ziemlich verkehrten Sichtweise dessen, was der Staat mit
seinem Bildungswesen eigentlich bezweckt, wofür man selbst als Besucher dieser Anstalt
also "eingeplant" ist. Mit dieser verkehrten Sichtweise präsentierten die
streikenden Studenten sich als gut ausgebildete Produkte des deutschen Bildungswesens. Sie
selbst sind der beste Beweis dafür, daß dieses "System" keineswegs
"versagt" hat, sondern im Gegenteil recht gut funktioniert - nämlich im Sinne
seiner Auftraggeber. "Lernen", sich bilden, Geist und Verstand betätigen soll
die nachwachsende Generation nämlich schon - aber nur, um sich gegen jede schlechte
Erfahrung den Glauben an die guten Absichten der Politik und an das letztliche
Zusammenpassen der eigenen Anliegen mit diesen Absichten zu erhalten. Genauso haben sich
die Streikenden aufgeführt. Sie haben die Politik auf dem Felde von Bildung und
Ausbildung daran erinnert, was ihr eigentlicher Dienst und Auftrag zu sein hätte, und
ihre eigenen Beschwerden haben sie als bloßen Beleg dafür vorgeführt, was passieren
könnte, wenn die Politik ihren Auftrag verfehlt. So haben sich auch noch bewiesen, daß
sie die Lehre beherzigt haben, nach der Kritik in unserem Lande mit der Klärung der
Gründe für das organisierte Scheitern von jeder Menge hoffnungsfroher
"Lebensperspektiven" nicht verwechselt werden darf, sondern in der geistigen
Übung zu bestehen hat, die Politik am Maßstab ihrer eigenen Ideale zu blamieren. Und sie
haben sich als gelehrige Schüler des Wissenschaftsbetriebs benommen, dessen Auftrag in
der geistigen Verwaltung und der jeweils passenden aktuellen Ausgestaltung dieser Ideale
besteht. Wo man also einerseits genau solche Sinnsprüche lernt wie die, daß es bei der
Bildungspolitik um "Deutschlands Zukunft" geht, aber auch um so hehre Dinge wie
den "sozialen Zusammenhalt der Gesellschaft", der durch ein "Abgleiten von
immer mehr Jugendlichen in die Orientierungslosigkeit" nicht gefährdet werden darf.
Wo man sich andererseits aber auch den zu jedem Ideal dazugehörigen Realismus einleuchten
lassen kann, der da besagt, daß diejenigen, die "es" nicht schaffen, nach
bewährter begabungstheoretischer Logik auch nicht "geeignet" waren. Dann weiß
man zwar nicht, worum es bei Bildung und Bildungspolitik in unserem Gemeinwesen geht -
aber man kennt wenigsten ein paar Gesichtspunkte, unter denen man sich beides als mehr
oder weniger sinnreiche Veranstaltung einleuchten lassen kann.
2. Bildungspolitik und Bildungskritik - zwei Seiten der gleichen Medaille
Daß das politische, ökonomische, kulturelle Fortkommen der Nation - jedenfalls
irgendwie - von den Leistungen des Bildungssystems abhängig sei, sich an der
"richtigen" Organisation von Bildung also der nationale Erfolg auch - wenigstens
"mit-"entscheidet, gehört zur unverwüstlichen Einbildung derer, die das
Bildungswesen organisieren und in ihm tätig sind. Dabei stimmt das Argument von der
Bildung als "nationaler Ressource" nur in einem Sinn: Wissen, Fertigkeiten und
die rechte staatsbürgerliche Einstellung der Bürger werden als Voraussetzung dafür
gebraucht, daß der demokratische Kapitalismus seinen Gang gehen kann. Die Leistung des
Bildungswesens besteht darin, diese Voraussetzung für die Erledigung der politischen und
ökonomischen Vorhaben der Nation bereitzustellen; in Form von neuem Wissen einerseits, in
Gestalt des ordentlich für die Berufshierarchie vorsortierten, mehr oder minder
ausgebildeten Nachwuchses andererseits. Wissen und Fertigkeiten sind aber eben auch bloß
Voraussetzungen für das Gelingen ökonomischer und politischer Vorhaben; am Vorhandensein
von Wissen und von qualifiziertem Personal entscheidet sich der Erfolg der Nation nicht.
Erstens entscheidet das Bildungssystem nicht über die Verwendung seiner
"Produkte"; es ist Sache von Politik und Wirtschaft, was sie mit dem
produzierten Wissen und den Fertigkeiten des ausgebildeten Nachwuchses jeweils anfangen
wollen oder können. Zweitens hat das Bildungssystem aber deshalb auch keinerlei Einfluß
darauf, mit welchem Erfolg Unternehmen wie staatliche Instanzen die gesellschaftlich
verfügbaren Qualifikationen nutzen. Das ist einerseits Sache der verfügbaren
ökonomischen Mittel, also von Markt und Konkurrenz, und hängt andererseits ab vom
erfolgreichen Einsatz der politischen Macht, nach innen wie außen.
Das Verhältnis zwischen der Produktion von ausgebildeten Leuten, die für die Erledigung
der politischen und ökonomischen Vorhaben der Nation verwendbar sind, und deren
tatsächlicher Verwendung als Mittel von Staat und Kapital ist als Arbeitsmarkt
organisiert. Jahr für Jahr verlassen Haupt-, Real- und Handelsschulabsolventen,
Bankkaufleute, Abiturienten, diplomierte Soziologen, Lehrer etc. die Bildungsstätten:
Leute mit einer staatlich bescheinigten Qualifikation, die sich dann einen Job zu suchen
haben. Auch für sie erfüllt die erfolgreich absolvierte Bildung, d.h.: die amtliche
Bescheinigung einer bestimmten Abschlußstufe den Tatbestand der Voraussetzung. Haben muß
man den Schein, damit man überhaupt zur Bewerbung um bestimmte Posten antreten kann. Ob
er überhaupt und wenn, zu welchem Posten er dann im Ernstfall taugt, hängt einerseits ab
von der Nachfrage seitens derer, die die entsprechenden Berufspositionen einrichten,
andererseits von der Masse der Bewerber mit entsprechender Qualifikation.
"Nachfrager" sind der Staatsapparat mit seinen vielfältigen Funktionen,
Behörden und Diensten, sowie die privaten Unternehmen. Das ist der ganze
"Praxisbezug", den Bildung in der freien Marktwirtschaft hat: Das staatliche
Bildungswesen stellt das Material von Ausgebildeten bereit, aus dem sich diejenigen, die
diese "Produkte" benötigen, sich die für sie Geeigneten heraussuchen. (4)
Der Staat befriedigt mit seinem Bildungswesen zum einen seinen eigenen Bedarf an halbwegs
gut erzogenen Staatsbürgern, die über die nötigen Zivilisationstechniken verfügen
müssen, um sich überhaupt auf dem Arbeitsmarkt, in der Familie, auf der Sparkasse und in
der Wahlkabine korrekt aufzuführen. (5) Zum anderen
bedient er den Bedarf von Arbeitgebern aller Art so, daß er den je besonderen und mit der
Umwälzung der Produktionsweise wechselnden Bedarf von konkurrierenden Interessenten in
eine Art Durchschnittsangebot übersetzt, dem er mit einem Bildungswesen unter seiner
Regie, also getrennt von den Subjekten der Nachfrage, entspricht. Eben weil sein
Bildungssystem diesen wechselnden Anforderungen dient und dienen soll, macht es sich vom
jeweils aktuellen "Stand" der Nachfrage frei. Wie soll auch ein mehrjähriges
Studium für einen Beruf geplant werden, wenn die nachgefragte Qualifikation XY doch nur
ein Konkurrenzmittel ist, folglich andere Arbeitgeber, kaum ist sie auf dem Markt, schon
wieder daran arbeiten, sie durch eine rentablere zu ersetzen. So gibt es denn
Studiengänge, die sich allgemeineren Lehrinhalten verpflichten - die vielleicht für ein
ganzes Spektrum von nachgefragten Qualifikationen gebraucht werden - und sich dann mit
Notwendigkeit den Vorwurf der Praxisferne anhören müssen. Und da gibt es andere, die
gleich auf einen bestimmten Bedarf abzielen, denen dann vorgehalten wird, sie betreiben
Daimler-Benz-Wissenschaft (oder Conti-Wissenschaft).
Weil der Nutzen von Wissensproduktion und Ausbildung seinen Maßstab außerhalb, in der
Bedienung der wechselnden Erfordernisse des Marktes und der Politik hat, läßt sich der
"Erfolg" des Bildungswesens an ihm gar nicht feststellen. Das hat eine
quantitative Seite: Ob volle Hörsäle und steigende Studentenzahlen für Erfolg oder
Mißerfolg sprechen, kommt eben ganz darauf an. Werden mehr Studenten von Staat und
privater ...konomie nachgefragt, dann werden diese Daten als Erfolg verbucht; umgekehrt
umgekehrt. Das hat aber auch eine qualitative Seite. Die "Lerninhalte", die
vermittelt werden sollen oder müssen, sollen ja den Erfordernissen des
"Arbeitmarktes" entsprechen; dem ist aber gar nicht so ohne weiteres zu
entnehmen, ob das Bildungswesen seinen nationalen Aufgaben gerecht wird. Steht
betriebliche Schulung von Führungskräften nun für ein Versagen des Bildungswesens, wo
der Betrieb doch Versäumnisse der Hochschule nachbessern muß? Oder verweist dies auf
eine solide Grundausbildung, auf der der Betrieb aufbauen kann? Ist die Einrichtung neuer
Studiengänge - für Informatik etc. - ein Zeichen für die Anpassungsfähigkeit des
Bildungswesens oder ein Beweis dafür, daß die Unis immer erst reagieren, wenn es zu
spät ist; d.h. die Studenten, die sich auf diesen Zukunftsberuf stürzen, nach zehn
Semestern damit konfrontiert sind, daß ihre Qualifikation durch neue Rechner ersetzt
wird? Das ist eine Frage der Betrachtungsweise und sonst nichts: Vom Standpunkt eines
Betriebes ist jede DM, die er für die Ausbildung seiner Leute aufwenden muß, unrentabel
eingesetztes Geld und eine einzige Anklage an das staatliche Bildungswesen. Vom Standpunkt
staatlicher Bildungsverwaltung stellt sich dasselbe Faktum anders dar: Sie können nicht
und haben auch gar nicht vor, es jedem Betrieb recht zu machen. Sie können es deshalb als
Zeichen für das gute Funktionieren ihres Bildungssystems werten, wenn Schulabsolventen
eingestellt werden - auch wenn der Betrieb deren Ausbildung noch nicht für voll
betriebstauglich erachtet. Genauso gut aber können sie den Standpunkt der Nachfrager
teilen und sich um mehr "Praxisnähe" bemühen.
Die Bilanz der nationalen Bildungspolitik wird dennoch gezogen. Wenn zum einen der Nutzen
des Bildungswesens durch seine jeweilige Organisation gar nicht sichergestellt werden
kann, weil über seinen Erfolg erst außerhalb von ihm, nämlich auf den Arbeitsmärkten
von diversen Arbeitgebern aller Art befunden wird, wenn zum anderen an diesem Erfolg aber
überhaupt nur am Bildungswesen gearbeitet werden kann, dann bringt das Bildungspolitiker
nicht zur Verzweiflung. Dieser widersprüchliche Umstand nötigt ihnen vielmehr
Übersetzungsleistungen ab. So wird denn heute der nationale Standpunkt, daß der deutsche
Standort zu wünschen übrig läßt und auf Vordermann gebracht werden muß, in eine
Bildungsbilanz übersetzt, in der Haushalts- und damit Kostenfragen regieren und ihre
eigene Logik entfalten, und in der die Daten des Bildungswesens schlicht und einfach wie
Erfolgsindikatoren bewertet werden. Das eröffnet Raum für bildungspolitische
Spekulationen und interessierte Betrachtungen jeder Art. Ein objektiver Befund ist von der
Logik der Sache her nicht zu haben, wenngleich alle daraus folgenden politischen
Beschlüsse sofort die Qualität einer neuen Objektivität erhalten; d.h. für Studierende
gültig sind.
In ihrem Streik um bessere Studienbedingungen und gegen "Bildungsklau" haben die
Studenten das Entscheidende verpaßt. Die so eifrig geführte bildungspolitische Debatte
um eine Reform der Universitäten ist nur die ideologische Begleitmusik dazu, daß das
Ziel der gegenwärtigen Reform - Kosten zu sparen und die Studentenberge loszuwerden - in
weiten Teilen durch den Status Quo der Unis längst praktisch entschieden ist. Was an den
heutigen Unis in Sachen erschwerter Studienbedingungen läuft, ist nicht der Verzicht auf
Reform, sondern im Gegenteil eine Methode, mit der die Bildungspolitik ihren aktuellen,
selbsterteilten Auftrag erledigt. Wenn die Streikenden dagegen dies Reformprogramm als
Versagen der Bildungspolitik geißeln, dann lassen sie sich in ihrem Protest nur von dem
ziemlich unverwüstlichen guten Glauben leiten, daß "unser aller" politisches
Gemeinwesen einen so schnöden Umgang mit seinen akademischen Bildungsstätten und den in
ihnen Lehrenden und Lernenden nie und nimmer mit Willen und Bewußtsein im politischen
Programm haben kann. Da haben sie unrecht - und diese Täuschung kommt den Politikern
gerade recht.
Politiker aller Parteien haben für den studentischen Streik Verständnis gezeigt - was
nur die herablassende Form der Mitteilung ist, daß sich in der Sache natürlich nichts
schiebt. Am Streik haben sie genau diesen Geist des Vertrauens in die Politik entdeckt und
ihn herausgestrichen. Dem demonstrierten Interesse an besseren Studienbedingungen haben
Politiker einen generellen Reformwillen entnommen, und den loben sie. An dem finden sie
gut, daß Studenten sich nicht - wie andere, in der letzten Zeit in die Schlagzeilen
geratene Jugendliche - politikverdrossen dem "Hedonismus hingeben", ausflippen,
"null Bock" haben oder sich der Jugendgewalt-Szene zuordnen. Insofern ist das
politischen Wohlwollen, das den Demonstranten entgegengeschlagen ist, auch nicht einfach
eine Reaktion auf die Proteste; die sind nur Anlaß für eine, ganz der eigenen Berechnung
folgende politische Mitteilung an die Adresse der studierenden Jugend, die zukünftige
Elite. So und nicht anders ist sie gewünscht: Studierwillig und zugleich kritikfähig,
leistungsbereit und doch selbständig, aufmüpfig und doch der gewählten Politik
vertrauend. Ansonsten gilt: Die Zeit ist vorbei, in der den Studenten die Diplome auf dem
Silbertablett nachgereicht werden. Sie müssen selbst etwas für die Reform tun. Der
Eigeninitiative sind nur die Grenzen gesetzt, die die Politik vorgibt. Niemand hat etwas
dagegen, wenn Studierende für Bücher Blut spenden, Sponsoren in der Industrie suchen
oder in der Freizeit Bibliotheksdienst schieben.
Noch dem resignierenden Kommentar der letzten Streiktage, die Studenten hätten von den
Politikern nur "Lippenbekenntnisse" gehört, war zu entnehmen, daß Studenten
von den Politikern nur in ihrer Erwartung enttäuscht sind, nicht aber, daß sie ihre
Erwartung selbstkritisch reflektiert oder wenigstens die Klarstellungen begriffen hätten,
mit denen die Politik das Verhältnis zu ihnen zurechtrückt. Dabei ist ihnen nicht einmal
etwas versprochen worden: Die Politiker haben das Anliegen von Universitätsreform
überhaupt bekräftigt, aber den studentischen Anliegen eine Absage erteilt. Die
Bildungspolitiker - und zwar die aus allen Parteien - meinen ihre Reform und sonst nichts.
Sie sehen keinen Grund, die gültige bildungspolitische Linie in Frage zu stellen; Parolen
wie "Bildungsklau" beeindrucken sie nicht, weil sie sich an dem Maßstab
allgemeiner Volksbildung gar nicht messen lassen wollen. Ansonsten verlassen sich die
Inhaber der Staatsmacht in gewohnter Weise auf die gültigen gesellschaftlichen Zwänge,
die der Jugend gar nichts anderes übriglassen als genau die "Angebote" nach
Kräften wahrzunehmen, die ihnen die Politik gerade anbietet, d.h. aufdrückt. Als Student
muß man sich dann nur noch die Perspektiven, die einem als
"höherqualifizierte" Berufstätige oder als Teil des unbrauchbaren nationalen
Menschenmaterials geboten werden, in "persönliche Chancen" übersetzen - dann
kann man, bildungspolitisch gesehen, eigentlich gar nichts mehr verkehrt machen.
Margaret Wirth, Januar 1998
Margaret Wirth ist Hochschullehrerin an der Universität Bremen
Anmerkungen:
(1) Wer die durch nichts außer einem gutem moralischen
Klang untermauerte Behauptung aufstellt, daß ein Lehrstuhl für vergleichende
Kulturwissenschaft - um ein beliebig herausgegriffenes Beispiel zu nehmen - "unserer
Gesellschaft" doch um ein Vielfaches geldwerter zu sein hätte als ein Eurofighter,
muß sich nicht wundern, wenn ihm entgegengehalten wird, daß man Landesverteidigung und
gelehrtes Dichten nicht gegeneinander ausspielen darf. Mehr, als daß ihm das Ergebnis des
staatlichen Abwägens in diesem Falle nicht paßt, hat er ja mit seinem Einfall gar nicht
zu Protokoll geben wollen.
(2) Eine verbreitete Kritik an dieser
"Sachzwangideologie" heißt: Nicht Sachzwänge, sondern fremde, nämlich
"Kapitalinteressen" seien es, denen das hohe Gut "Bildung" geopfert
werde. Allerdings ist die Erklärung staatlicher Maßnahmen als Wirkung des Einflusses,
den eigennützige "Kräfte" auf die Politik ausüben, nur eine kritische Fassung
der Vorstellung, "eigentlich" habe sich die Politik um das Wohl von "uns
allen" zu kümmern, und werde nur durch mächtige Sonderinteressen vom guten Wege
abgebracht. Wobei einem immerhin einfallen könnte, daß es doch merkwürdig ist, daß
sich die Politik immerzu von denen beeinflussen läßt. Steckt da vielleicht
"System" dahinter? Oder hat es gar mit dem Inhalt des Staatsprogramms selbst zu
tun?
(3) Das häßliche Wort "Selektion", die in
unserem Bildungswesen bekanntlich als fortschreitender Ausschluß von der Teilnahme an
höheren Bildungsveranstaltungen erfolgt, soll ja auch schon in Pädagogikseminaren
vernommen worden sein - gepaart mit der kritischen Sorge, ob bei der stattfindenden
Auslese auch die unterschiedlichen Interessen, Neigungen und Begabungen der Kinder
hinreichend Berücksichtigung finden. "Elite" gilt unter Studenten deshalb als
Schimpfwort: Lieber stellt man sich seinen späteren Beruf als Ausübung einer Sachaufgabe
in einem sinnreich organisierten arbeitsteiligen Staatsverband vor, in der "nun
einmal" die einen zur Müllabfuhr, die anderen zur Genehmigung von
Müllverbrennungsanlagen berufen sind.
(4) Natürlich verlangt keiner von denen, die sich
über die mangelnde "Orientierung" des Bildungssystems an den
"gesellschaftlichen Anforderungen" beschweren, im Ernst, daß vorher festgelegt
werden soll, wieviel Stahlarbeiter und Bundespräsidenten gebraucht werden und was diese
lernen sollen. Das wäre ja glatt Zwang; während Freiheit ist, daß sich jeder selbst
für einen Ausbildungsgang entscheiden und in ihm versagen oder bei der Berufswahl auf die
Nase fallen darf.
(5) Wie wenig man dafür wissen muß, bezeugt die
Tatsache, daß das Musterland des sozialen Friedens und des Wirtschaftswunders mit
diversen Graden von Analphabetentum in seiner Bevölkerung offenbar gut leben kann.
(6) "Arbeitsbeschaffung" geht inzwischen
über den Weg der Umverteilung vorhandener Arbeit auf mehr Arbeitsuchende (610/520-DM,
Altersteilzeit usw.). Wer sich theoretisch kundig machen will über diese kapitalistische
"Gesetzmäßigkeit", über den Zusammenhang von Kapitalakkumulation und
Arbeitslosigkeit, dem sei die Lektüre von K. Marx, Das Kapital, Bd. 1, Kap. 23,
empfohlen.
(7) Bildungswissenschaftler, die behaupten "wir
brauchen noch mehr Studenten", machen mit dieser absurden Rechnung sich und denen
etwas vor. Sie gehen von einem "wir" aus, dem jede materielle Basis abgeht. In
Wahrheit sagen sie: "Ich kann mir gesellschaftliche Verhältnisse vorstellen, unter
denen es gar nicht genug Studierende geben kann!" So kann man sich auch über die
Erklärung der Realität hinwegtrösten.
(8) Es belegt den Idealismus von Studenten, die sich
munter an der Debatte über Gebührenmodelle beteiligen, die allen das Studieren
ermöglichen sollen (vgl. Australien und Großbritannien), wo es der hiesigen
Bildungspolitik - im Unterschied zu der in Australien und Großbitannien - gerade darauf
ankommt, den "Studentenberg" abzubauen.
(9) Das galt einmal als der Skandal der
"verdeckten Arbeitslosigkeit" und wurde vor allem in der ehemaligen DDR
entdeckt.
(10) Dasselbe bei der Einwerbung von Drittmitteln
für Forschungsaufträge aus der Industrie. Dabei kommt dann sicher die
Grundlagenforschung zu kurz.