17.10.1999
1.
Die theoretische Befassung mit Staat und Gesellschaft, Kunst und Kultur, Denken und Seele steht unter demselben Auftrag wie die naturwissenschaftlichen und technischen Fakultäten: Auch sie soll ihrem Auftraggeber nützliches Wissen über ihren Bereich beschaffen. Der Staat will eben nicht nur wissen, wie das Atom funktioniert, um die Bombe und Kraftwerke zu bauen, er will auch wissen auch wie der Mensch, das Oben und Unten, Produktion und Konsumtion, Erziehung und Erbauung funktionieren - damit er und seine zuständigen Abteilungen „gesellschaftlich wünschenswerte“ Ergebnisse erfolgreicher herbeiführen können. Der demokratische Staat, der sich neben dem naturwissenschaftlichen auch hier einen riesigen Apparat leistet, geht davon aus, dass es sich bei der Gesellschaft um etwas ähnliches wie Natur handeln muß: Auch in ihr herrschen Gesetzmäßigkeiten, die kennen und respektieren muß, wer sie praktisch beherrschen und durch Ausnutzung ihrer Wirkungsweisen seine Zwecke zur Geltung bringen will. „Praxisrelevantes Wissen“, das von den philosophischen Fächern erwartet - heute lautstark gefordert - wird, ist von dem Ideal getragen, Mensch und Gesellschaft „in den Griff zu kriegen“. Dem Ideal und Auftrag nach ist die geforderte Sozialtechnologie nützlich erstens für die Verantwortungsträger in Staat und Wirtschaft. Auskünfte darüber, wie man den Menschen am geschicktesten formen und bilden, lenken, motivieren, stimulieren, einspannen kann, wie Konflikte in der Gesellschaft zu beherrschen und unter Kontrolle zu halten sind, sind der Absicht nach Herrschaftswissen. Zweitens werden die Ergebnisse der Sozial- und Kulturwissenschaften aber auch den Beherrschten angeboten sowohl als Techniken, wie diese sich und ihre Lebensumstände „in den Griff kriegen“, die Probleme mit den Kindern, der Karriere und dem Partner bewältigen könnten, andererseits ausdrücklich als „Orientierungswissen“, das es erlaubt, den eigenen Platz in einer „komplexen Welt“ zu bestimmen und Sinn in ihr zu finden.
Der Auftrag und der zweifellos vorhandene Wille der Wissenschaftler zur Sozialtechnologie für oben und unten führt zu einer eigenartigen Sorte Wissenschaft, von der jedenfalls eines feststeht: Zu einem Satz von Techniken zur Lenkung der Menschen und Nationen, zur Vermeidung von Krisen und Unglück und zur Beseitigung der berühmten Lebensprobleme bringt sie es nicht. Die kleinen und großen Probleme, deren Bewältigung sich die Wissenschaft verschreibt, bleiben der modernen Welt und ihren Insassen erhalten.
2.
Das ist kein Wunder, denn der staatliche Auftrag ist wissenschaftlich gar nicht zu erfüllen. Immerhin ist verlangt, Gesetzmäßigkeiten des Menschen - seines Willens und Verstandes, seiner gesellschaftlichen und ökonomischen Betätigungen etc. - ausfindig zu machen, so als ob es sich um ursprünglich vorgegebene Mechanismen handelte, wie eben die Launen der Natur, denen die anderen Fächer auf der Spur sind. Notwendigkeiten und Gesetze, die im gesellschaftlichen Leben herrschen, sind aber nicht einfach da wie die Gravitation, sie sind aufgeherrscht - und worin sie bestehen, ist eigentlich kein Geheimnis. Es gibt sogar ein universitäres Fach, das sich mit den Gesetzen befaßt, denen die Gesellschaft wirklich gehorcht. Dieses Fach aber hat nichts zu tun mit der Entdeckung irgendwelcher unerforschter Gesetzmäßigkeiten. Eben dieses Fach - die Rechtswissenschaft - verspürt aber auch keinerlei Bedarf nach Erklärung der Zwänge, mit denen sie umgeht. Sie ist sich vollkommen im Klaren darüber, dass die Gesetze, die die Gesellschaft beherrschen, Resultat von Beschlüssen - des Gesetzgebers -, also eine Frage der Macht sind, sie zu erlassen und ihnen Respekt zu verschaffen. Die einzige offene Frage, deren Behandlung der Juristerei den Namen einer Wissenschaft eingetragen hat, ist die Frage danach, was das durch Staatsmacht gültige Gesetz im Einzelfall verlangt oder verbietet. Die Anwendung des Gesetztes auf den Fall, die Subsumtion der Tat unter den „Tatbestand“ ist die theoretische Vorwegnahme der Hoheitsfunktion, die Richter, Staats- und Rechtsanwälte ausüben. Ihre Kunst, die Menschheit und ihr Treiben nach feststehenden Regeln unters Gesetz zu bringen, ist „nützlich“, wenn auch keine Erkenntnis über die Welt. Sie ist die Praxis der Herrschaft und beugt die dem Recht Unterworfenen unter die Ziele der politischen Macht. Polizei und Strafanstalten vollenden das Werk der Rechtsgelehrten.
3.
Um sich die Gesetze bekannt zu machen, denen die Gesellschaft offensichtlich unterworfen ist, müssen sich die Staatsorgane nur an ihre eigenen Beschlüsse erinnern; Bürger brauchen dafür vielleicht einen Rechtsbeistand, jedenfalls aber keine Sozialwissenschaftler. Die sozialen Gesetzmäßigkeiten, die von ihnen erwartet und geboten werden, werden nicht auf der Ebene der wirklichen Macht und ihrer Verordnungen gefunden, sondern dadurch, dass sich die Forscher darum entschieden nicht kümmern. Ihre Gesetzmäßigkeiten liegen dahinter, wirken ohne Subjekt und absolut. Sie lassen niemandem die Freiheit, ihnen etwa die Anerkennung zu versagen und sie zu bekämpfen; eine Freiheit, die gegenüber der bloß wirklichen, politischen Macht und ihren Erlassen immerhin offensteht. Denn die Gesetzmäßigkeiten, die hinter der offensichtlichen Macht und dem offensichtlichen Gehorsam wirken, werden verstanden als so etwas wie Naturgesetze des Wirtschaftens, des Regierens und Gehorchens, der Seele, des Lernens usw. Freilich ist nicht von Natur die Rede, sondern von bewußt handelnden Menschen, die ihre Zwecke haben und die auch wissen. Ihnen eröffnet die Wissenschaft, dass sie dabei und dadurch Gesetzmäßigkeiten folgen, von denen sie keine Ahnung haben. Sie setzt die Menschen davon in Kenntnis, wovon sie sich in ihrem Handeln schon immer haben leiten lassen, ohne es zu wissen.
Wenn etwas dran ist an Gesetzmäßigkeiten, die über die Rechtsvorschriften der politischen Macht hinaus das soziale Leben „hinter dem Rücken“ der Akteure bestimmen, dann beruhen die Gesellschaftswissenschaften auf einem Skandal von Entfremdung und Bewußtlosigkeit: Die Mitglieder der Gesellschaft lassen ihr Handeln von quasi natürlichen, ihrem Willen und ihrer Kontrolle entzogenen Gesetzen bestimmen, die sie dennoch nur durch den gesellschaftlichen Verkehr in Kraft setzen, den sie betätigen. Wenn sie unbewußt Gesetzmäßigkeiten exekutieren, dann stimmen die individuellen Absichten, die sie ja kennen, nicht überein mit den gesellschaftlich gültigen, herrschenden Zwecken, die sie damit zugleich betätigen. Die Menschen geben sich für ihnen fremde und unbekannte Zwecke her, die bewirken, dass ihre eigenen Absichten oft genug scheitern. Ohne Trennung und Entgegensetzung von individuellen und gesellschaftlichen gültigen Zwecken, wäre den Beteiligten ihre gesellschaftliche Welt durchsichtig. Niemand könnte sich interessant machen mit dem Angebot, Geheimnisse des sozialen Zusammenlebens zu lüften, Rätsel des Marktes oder der Seele zu lösen und unbewußte Gesetze des menschlichen Handelns „bewußt zu machen“.
Wenn die Wissenschaft auf solche Gesetze stößt, die „auf der Bewußtlosigkeit der Beteiligten beruhen“ (Friedrich Engels), dann hat sie eine Merkwürdigkeit der modernen Gesellschaft entdeckt, die sie nicht mit Einverständnis quittieren kann. Die Entfremdung der Menschen gegenüber den von ihnen selbst geschaffenen Verhältnissen und die Erklärung der Gesetze und Mächte, von denen sie sich statt bewußter Organisation bestimmen lassen, verlangt deren Kritik. Einsicht in sie begnügt sich nicht damit, etwas „bewußt zu machen“, sondern mündet in die Forderung, Schluß zu machen mit der Unterordnung unter selbstgeschaffene Sachzwänge, damit die Menschen wieder die Herren ihrer Umstände werden.[1]
4.
Diesen Schluß zieht die vom Staat bezahlte Wissenschaft nicht. Sie beschränkt sich in gewollter Analogie zur Naturwissenschaft darauf, verborgene und nur ihr zugängliche Gesetzmäßigkeiten von Mensch und Gesellschaft zu enthüllen, damit sich die davon Unterrichteten vorausschauend und schlau auf deren Eigengesetzlichkeit einstellen können - wie beim Wetterbericht. „Savoir pour prévoir“ - Wissen, um vorherzusehen, heißt August Comtes klassische Formulierung des Ideals dieser Wissenschaft. Dabei vergessen die Gesellschaftswissenschaftler, dass sie es eben nicht mit feststehenden, vom Menschen unabhängigen Naturgesetzen zu tun haben, sondern doch nur mit Zwecken, herrschenden und das Handeln beherrschenden Zwecken freilich. Sie führen die Notwendigkeiten und Sachzwänge, die sie feststellen, nicht zurück auf die Zwecke, denen sie entspringen, ja deren systematischen Vorrang von andren Zwecken sie nur ausdrücken; sie erklären umgekehrt die gesellschaftlichen Institutionen und Zwecke, die sie ermitteln, zu Notwendigkeiten: Notwendig, durch den Nutzen, den sie stiften. Dem Staatsauftrag, nützliches Wissen zu liefern, kommen die Wissenschaftler nicht dadurch nach, dass sie unvoreingenommen Wissen erarbeiten und sich darauf verlassen, dass, zu wissen, womit man es zu tun hat, sich noch allemal als nützlich erweist. Eine objektive Betrachtung würde schon herausfinden, wofür der freie Markt, die Schulnoten und das Inzestverbot gut sind - vielleicht auch für gar nichts oder für nicht vertretbare Anliegen! Auch das zu wissen, wäre nützlich - nicht freilich für diese Gesellschaft. Ihr schafft die universitäre Wissenschaft nützliches Wissen dadurch, dass sie die Objekte ihrer Forschung nützlich findet und in dieser Nützlichkeit deren guten Sinn und Existenzgrund ausmacht. Sie läßt als Erklärung nur gelten, was den Nutzen ihrer Gegenstände darlegt - verpflichtet sich also auf das Dogma der Nützlichkeit. Der praktische Standpunkt des Nutzens wird im Denken eingenommen und zu einer verkehrten theoretischen Kategorie gemacht: Nützlich ist eine Sache in Bezug auf anderes; statt die eigenen Bestimmungen des Erkenntnisobjekts und deren wesentlichen Zusammenhang zu suchen, rückt die Gesellschaftswissenschaft ihr Objekt in Relation zu anderem, für das es Wirkungen hat, Bedingung oder Hindernis ist. Im Lichte des äußerlichen Bezugspunkts, d.h. für ihn, erscheint das betrachtete Objekt dann als nützlich, ja unverzichtbar. So erkennt diese Wissenschaft die Gegenstände, die sie untersucht, als ebensoviele Instrumente für gute Dienste.
Auch ihre Vertreter bemerken, dass sich die Gesetze, die sie „entdecken“, vom naturwissenschaftlichen Vorbild unterscheiden. Was sie „Gesetz“ nennen, sind lauter Zwecke, denen sie Nützlichkeit bescheinigen. Ihr „Gesetz“ hat daher einen verräterischen Doppelcharakter: Einerseits soll es so etwas sein wie ein Naturgesetz des sozialen Bereichs, dem man gar nicht zuwiderhandeln kann; andererseits ruft die Wissenschaft dazu auf, es zu respektieren, damit es auch funktionieren und seine nützlichen Wirkungen zeitigen kann. Wäre die Rede von Gesetzen, wie sie in der Natur gelten, wäre der Aufruf, sie zu respektieren, abseitig: Der Nutzen der Naturwissenschaft besteht ja auch nicht in Ermahnungen, man solle die Schwerkraft nicht mißachten. Gesellschaftswissenschaftler aber erzählen den Menschen von Gesetzen, die sie im sozialen Leben immer schon unbewußt befolgen, damit sie es auch wirklich tun. Die Nützlichkeit ihres Wissens für die Gesellschaft besteht in Ermahnungen des Publikums der Art, dass es den Nutzen, den es will, nur haben kann, wenn es sich den Gegenständen und ihrer Eigengesetzlichkeit unterordnet. Die Wissenschaft ist nicht nur parteiisch für ihr Erkenntnisobjekt, das sie grundsätzlich vorteilhaft findet, sie betätigt darüber hinaus den Standpunkt der Sorge für es und sein Funktionieren - was bei sozialen Naturgesetzen, wenn es so etwas gäbe, wahrlich überflüssig wäre. Niemand könnte ihnen zuwiderhandeln, die Vernunft des Sozialen wäre objektiv und bräuchte die bewußte Nachfolge der ihr Unterworfenen nicht. Wenn die sozialen Gesetze aber nur funktionieren, sofern die Leute sich an sie halten, dann sind sie eben doch nicht so unumstößlich und objektiv, wie die Wissenschaft sie hinstellt. In ihren „Gesetzen“ will die Gesellschaftswissenschaft von einer notwendigen Unfreiheit der Menschen wissen und propagiert diese auch noch. Ihre Erkenntnis wird praktisch, indem sie zum bewußten Akzeptieren dieser Unfreiheit rät. Die Menschen sollen sich den sozialen Notwendigkeiten unterordnen, weil sie ihnen ohnehin untergeordnet sind. Vom Anspruch „nützlichen Wissens“, von dem Ideal, die Kenntnis der geheimen Kräfte und Funktionsweisen von Ökonomie, Gesellschaft, Seele usw. könnte denen, die sich diesen Gesetzen wissend anpassen, Hebel ihrer Interessen an die Hand geben, bleibt nichts übrig als der Rat zur Anpassung.
5.
Die wirtschaftlichen und staatlichen Zwänge dechiffrieren die Gesellschaftswissenschaften uni sono als Sachzwänge, nützliche Einrichtungen und notwendige Formen des Zusammenlebens: Die Gesetzmäßigkeiten, denen die Menschen unterworfen sind, entsprechen ihnen. Den Beweis dieser interessanten Auskunft gewinnen sie mittels einer verblüffenden Rückfrage: Würden sich die Menschen andernfalls auf sie einlassen? Sie kaufen mit Geld, gehen wählen, gehören einer Nationalität an - also haben sie offenbar ein Bedürfnis nach Geld, Wahl und Nation. Weil - und solange die Untertanen sich die Verhältnisse gefallen lassen und in ihnen zurechtzukommen suchen, liefern sie selbst den Beweis, wie bedürftig sie ihrer sind. Die pure Existenz der betrachteten Gegenstände wird zum Beweis ihrer Notwendigkeit: Es gibt Literatur, Erziehung, Moral und Religion - also muß es auch ein menschliches Bedürfnis geben, das nach all dem ruft. Wissenschaftler können sich vornehmen, was sie wollen, ihre Abhandlungen haben in Wahrheit immer nur ein Objekt: „den Menschen“. Die billige Reflexion der äußeren Institutionen und Gebräuche ins Innere der Menschennatur hinein, um sie aus ihr wieder heraus zu ziehen, zeichnet ein Bild vom Menschen, zu dem die kapitalistische Welt, in der er leben muß, haargenau paßt. Damit das Ergebnis herauskommt, wird alles, was man nicht erklären, sondern für notwendig erklären will, als Ausdruck einer ursprünglichen Ausstattung dieses merkwürdigen Wesens gedeutet. So bekommt jedes Fach ein eigenes Tier, dessen Natur nach dem ruft, was das Fach behandelt: Diese der kapitalistischen Zwänge bedürftigen Wesen hören, weil unhintergehbar ursprünglich gedacht, vorzugsweise auf lateinische und griechische Namen: Ein „homo oeconomicus“ braucht einfach freie Preise und Konkurrenz, weil er sonst seinen Nutzen nicht maximieren könnte. Das „zoon politikon“ braucht einen Staat, weil es ein „von Natur staatenbildendes Wesen“ ist. Ein „animal soziale“ braucht Gesellschaft, weil es, wie der Name sagt, nicht allein bleiben kann. In jungen Tagen ist dieses Tier ein „homo educandus“, der mit seiner ganzen Existenz nach der Erziehung ruft, ohne die der „unfertig geborene Nesthocker“ nicht lebensfähig wäre. Ein anderes Fach hält es mit dem „homo ludens“, der Kunst und Literatur braucht, weil der „homo faber“ schließlich nicht alles gewesen sein kann.
Die immergleiche Reflexion der gesellschaftlichen Objektivität in die Menschennatur hinein ergibt ein doppeltes Menschenbild: Der Mensch ist der Grund all dieser Objektivität; die soziale Welt ist die seine und er kann froh sein, dass er sie hat, weil sie zu ihm paßt. Andererseits braucht dieser Mensch die von ihm getrennte Objektivität seiner Vernunft in äußeren Institutionen und Sachzwängen, die ihn zu dem zweckgerichteten, sozialen, anderen und sich selbst nützlichen Verhalten zwingen, zu dem er von sich aus nicht bereit oder fähig ist. Einerseits braucht der doppelte Mensch Zwang und Unterordnung, weil er zur vernünftigen Regelung seiner eigenen und der gemeinsamen Anliegen unfähig ist. Andererseits ist er einsichtsvoll genug, die Zwänge seiner Welt als das notwendige Korsett seiner Schwachheit anzunehmen und sich ihnen freiwillig und bewußt unterzuordnen.
Das Wissen, das die Gesellschaftswissenschaften hervorbringen, ist somit weder wahr noch nützlich. Es ist nichts als eine ideologische Botschaft, die den vom alten Hegel etwas anders gemeinten Satz, nachdem Freiheit die Einsicht in die Notwendigkeit ist, auf ebenso viele Arten variiert wie es Fächer an den ökonomischen und philosophischen Fakultäten gibt.
Das Fach verspricht „die Erforschung der Wirtschaft“ und will „fundamentale Einsichten in wirtschaftliche Abläufe und Zusammenhänge“ bieten. Wenn es sich selbst vorstellt und seinen Gegenstand benennt, dann ist die Rede aber nicht von Ware und Geld, Kapital, Zins, Arbeitslohn und Grundrente, sondern vom lieben Menschen, näher von einem besonderen Teil seines Verhaltens, dem „rationalen“.
„Unter Wirtschaft wird der rationale Umgang mit knappen Gütern verstanden, die zur Befriedigung menschlichen Bedarfs dienen. Ist der Vorrat an Gütern hinreichend, um den gesamten darauf gerichteten Bedarf stets zu befriedigen, dann handelt es sich um freie Güter. Übersteigt dagegen der Bedarf den Vorrat an Gütern und Dienstleistungen, dann wird von knappen Gütern gesprochen. Nur diese bilden den Gegenstand der Wirtschaftswissenschaften. ... Erforschung der Zusammenhänge bei der Verteilung der knappen Güter auf die einzelnen Individuen und Gemeinschaften ...“ (Gablers Wirtschaftslexikon, 11. Aufl. 1983, Stichwort: Wirtschaftswissenschaft.
Während ihre Vorgänger, die klassischen Ökonomen, die Herkunft des enormen „Reichtums der Nationen“ (Adam Smith) zu erklären suchten, den sie vor Augen hatten, nehmen die Heutigen, die noch viel größere Reichtümer sehen, den Ausgangspunkt ihrer Wissenschaft bei einer allgemein menschlichen, niemals überwundenen Not - der Knappheit der Güter, die zur Befriedigung der sie stets übersteigenden Bedürfnisse nicht ausreichen. Schon der erste Satz dieser Wissenschaft zielt offenbar nicht auf die Erklärung des vorhandenen Reichtums und seiner Formen, ebensowenig freilich auf die Erklärung der ihn begleitenden Armut. Der Anfang der Wissenschaft zielt gar nicht auf die Erklärung der bestimmten Wirtschaft, in die sie Einsichten verspricht, sondern beantwortet die sinnige Frage: Warum wirtschaften Menschen überhaupt und tun nicht gar nichts? Die Antwort benennt ein Menschheitsproblem: Die Römer mit ihren Sklaven, die Feudalen mit ihren Knechten, Unternehmer mit ihrem Lohnarbeitern wirtschaften aus demselben Grund und zu demselben Zweck: Ihnen fliegen die gebratenen Tauben nicht ins Maul, deshalb müssen sie mit der Nichtübereinstimmung ihrer Bedürfnisse mit den Mitteln ihrer Befriedigung umgehen. Sie wirtschaften, um ihre Bedürfnisse - so gut es im Rahmen allgemeiner Knappheit geht - zu befriedigen. Noch ehe die existente Wirtschaftsweise in Betracht gezogen wird, ist die Hauptauskunft über sie schon fertig: Sie dient, wie jede andere Wirtschaftsweise auch, der Bedürfnisbefriedigung. Diese entscheidende Rechtfertigung kann durch keine Betrachtung der Wirklichkeit mehr verloren gehen - sie steckt im Ausgangspunkt.
Das ökonomische Grundproblem soll, wie alle Grundannahmen über den Menschen, unmittelbar einleuchten; schließlich wird die wirkliche Ökonomie später als seine Bewältigung aus diesem Problem abgeleitet. Tatsächlich lassen sich die Wirtschaftsbürger leicht von der Knappheit der Güter überzeugen - sie haben ihre Erfahrungen mit dem Widerspruch zwischen Bedürfnissen und unzureichenden Mitteln ihrer Befriedigung. Die einen, weil sie stets zu wenig verdienen für die Bedürfnisse, die der Kapitalismus mit seinem immerzu wachsenden Warenangebot bei ihnen geweckt hat. Diese Knappheitserfahrung hat ihren Grund darin, dass das Einkommen seinem Besitzer nicht erlaubt, sich den angebotenen, also vorhandenen Überfluß zugänglich zu machen. Aber auch die anderen, denen es an nichts fehlt, kennen ein Knappheitsproblem, weil ihr Erwerb gleich gar nicht auf die Befriedigung von Bedürfnissen beschränkter Reichweite sondern auf Geld und Vermögen selbst gerichtet ist. Und davon kann man nie genug haben, eben weil der Bedarf nach Geld sein Maß nicht am Umkreis irgendwelcher Bedürfnisse hat. Ihre diversen Knappheits-Erfahrungen will die Wirtschaftswissenschaft den Leuten nicht erklären, sie sollen sie als einen Grundtatbestand des Menschseins akzeptieren, um sich damit dann das existente Wirtschaften zu erklären, das zu den Phänomenen der Knappheit führt. Ein schöner Zirkel!
Rein wissenschaftlich ist die Bestimmung des Wirtschaftens daraus, dass das Schlaraffenland nicht existiert, grundfalsch. Dass die Mittel der Bedürfnisbefriedigung nicht von selbst vorhanden sind, ist der Grund für Arbeit und Produktion. Diese Banalität wird aber nicht ausgedrückt in dem Satz: Der Bedarf übersteige den Vorrat. Ohne Arbeit gibt es gar keinen Vorrat - und nach der Arbeit sind die Mittel herbeigeschafft, deren Herstellung die Arbeit sich vorgenommen hat. Das Problem, das sich die Nationalökonomen konstruieren, handelt von einer so grundsätzlichen Ungleichung zwischen Bedürfnissen und den Mitteln ihrer Befriedigung, dass ihr durch Produktion gar nicht abzuhelfen ist. Die Knappheit der Güter ist nicht nur Ausgangspunkt produktiver Bemühungen, sondern auch ihr Endpunkt: Sie bleiben knapp - weil unter der Hand längst an lauter Geldgrößen und die ewig zu maximierenden Gewinne gedacht wird, die durch diese Überlegungen zur Menschennatur offiziell erst hergeleitet werden sollen. Was sich harmlos einführt - die Natur stellt uns, was wir brauchen, nicht ohne unser Zutun zur Verfügung -, ist das Dogma von der Maßlosigkeit nie befriedigter Bedürfnisse angesichts „endlicher Mittel“.
„Die Volkswirtschaftslehre beruht auf der Annahme, dass über knappe Mittel bei alternativ möglichen Verwendungen in zweckmäßiger Weise disponiert werden soll; Überfluß macht Wirtschaften unnötig. Da sich die ökonomische Theorie nur mit wirtschaftlichen Erscheinungen befaßt, geht sie von einer ökonomisch motivierten Handlungsweise aus. Sie wird in extremer Vereinfachung als sogenanntes ökonomisches Prinzip formuliert. Es bedeutet: Entweder mit gegebenen Mitteln ein maximal mögliches Resultat oder ein vorgegebenes Resultat mit einem Minimum an Mitteln zu erwirtschaften.“ (ebd. Stichwort: Volkswirtschaftstheorie)
Das ökonomische Prinzip handelt - hier sogar ausdrücklich - nicht von dem, was ist. Es formuliert einen Imperativ, den man sinnvoll finden könnte: Die Wirtschaftssubjekte sollen sich der Maximierung des Ertrags und der Minimierung des Aufwands verschreiben, weil das Ergebnis ihrer Produktion sowieso nie reicht und der Aufwand immer zuviel ist. Der nützliche, sein Ziel erreichende, die zu befriedigenden Bedürfnisse auch befriedigende Arbeitsaufwand ist durch das Dogma der Knappheit ja ausgeschlossen. Produktion ist also nicht die Überwindung, sondern nur eine Weise, mit dem unvermeidlichen Mangel umzugehen. Andere Umgangsweisen müssen sie ergänzen: Es braucht eine Beschränkung der Bedürfnisse und einen Zwang zur Arbeit. Entscheidungen müssen her darüber, wer was zu arbeiten hat und wer welchen Zugang zu den knappen Mitteln der Bedürfnisbefriedigung gewährt bekommt.
„Im Zentrum der VWL stehen Antworten auf die Frage: was, wann, wie, wofür ( für wen) und wo soll produziert werden. Diese Grundprobleme treten in jeder Wirtschaftsordnung auf, in Planwirtschaften ebenso wie in Marktwirtschaften. Bei marktwirtschaftlicher Lösung regeln sich Produktionsziel, Produktionsmethode, Verteilung und Standorte mit Hilfe des Angebots- und Nachfragemechanismus über die Preisbewegungen, d.h. letztlich über freie Entscheidungen der Konsumenten. In Planwirtschaften sind diese Entscheidungen grundsätzlich durch Planbehörden zu treffen.“ (ebd.)
Der Endzweck, der hier der Marktwirtschaft zugeschrieben wird, trifft ihre Besonderheit offenbar nicht: man soll sie sich als Lösung eines allgemeineren Koordinations- und Verteilungsproblems vorstellen, das auch auf andere Weise gelöst werden könnte. Bezüglich dessen, worum es in ihr hauptsächlich geht, unterscheidet sie sich gar nicht von der anderen Produktionsweise, gegen die sie sich sehr feindselig abgrenzt. Schon formal erweist sich diese schöne Sinngebung als unterschieden von einem Versuch, den Begriff der kapitalistischen Marktwirtschaft zu formulieren. Dabei ist es tröstlich, zu erfahren, dass sich auch ihre radikalen Anhänger eine sinnvolle Vorstellung vom Wirtschaften nur bilden können, indem sie an ein Planen und Verteilen der notwendigen Arbeit zwecks Versorgung der Menschen mit nützlichen Dingen denken. Jetzt heißt es nur noch Gelderwerb und Geldvermehrung, Banken und Börsen als Hilfsmittel der Versorgung mit Brot und Butter zu interpretieren.
Das läßt sich machen: Man muß dazu nur das Knappheits- und Entscheidungsproblem im Kopf behalten, mit dem die VWL das Wirtschaften „versteht“, - und schon erscheint der Kampf um Markt und Geld enorm sinnvoll und gemeinnützig: Der Markt nämlich organisiert die menschlich unvermeidliche Beschränkung im Unterschied zur Planwirtschaft auf eine freiheitliche Weise, so dass die Leute sich mit ihren Kaufentscheidungen selbst von dem Teil der Güter ausschließen, die sie sowieso nicht haben können. Tatsächlich und ohne VWL-Brille betrachtet ist der Preis der Ware, das in Geld gemessene Eigentum, mein Ausschluß vom Gegenstand meines Bedarfs. Ich kann ihn nur überwinden, indem ich das Interesse des Verkäufers an Geld befriedige, das ich vorher beschafft haben muß. So wird mein Bedürfnis davon abhängig gemacht, ob es anderen zum Gelderwerb taugt. Im Lichte der VWL sieht die die Sache folgendermaßen aus: Wegen der universellen Knappheit muß der Mensch auf manches verzichten und entscheiden, welches Bedürfnis er befriedigt und welches er unterdrückt. Weil er das sowieso muß, findet er im Preis eine hilfreiche Form des relativen Ausschlusses vor, den er nach Maßgabe dessen, was ihm wichtig ist und wieviel Geld er eben hat, überwinden kann oder nicht. Dass die Menschen wegen der Geldwirtschaft und ihrer Preise verzichten, sich für und gegen manches entscheiden müssen, sieht nun so aus, dass sie sich dank der Preise erstens frei und zweitens begründet entscheiden können. Das Geld, über das sie verfügen, und die Höhe der Warenpreise, die sie zahlen müssen, fungieren als Entscheidungshilfen dafür, was sie nehmen und was sie besser liegen lassen. So können sie ihre Beschränkung selbst organisieren und auf jeder beliebigen Höhe ihres „Haushaltseinkommens“ ein persönliches Nutzenoptimum erzielen. Der Beweis dieses Optimums? Sie haben sich schließlich frei entschieden; niemand hindert sie ihr Einkommen anders auf nach Preis und Menge bestimmte „Güterbündel“ zu verteilen!
Gleichgewicht - eine Koordinationsleistung des Marktes
Aber nicht nur das. Indem der Käufer sich nach Maßgabe seines Einkommens und der gegebenen Warenpreise einteilt, entscheidet er zugleich die Fragen danach, was für wen zu welchem Preis produziert werden soll. Bei aller Knappheit ist die Marktwirtschaft nämlich zugleich eine, in der das hergestellt wird, was der Konsument wünscht - und das zu dem Preis, den er zu zahlen bereit ist. Die Fragen, die eine zentrale Planung entscheiden müßte, entscheidet der Verbraucher durch sein Verhalten am Markt. Die Nationalökonomen kommen zum Kern ihrer theoretischen Schönfärberei, wenn sie das Gegeneinander von Käufer und Verkäufer, die Konkurrenz innerhalb der beiden Lager und zwischen ihnen als Planungsersatz, als eine „dezentrale Ex-post-Koordination“ der Aktivitäten der Wirtschaftssubjekte deuten. Weil auch auf diese Weise irgendwelche Waren in irgendwelchen Mengen zustande und zu irgendwelchen Preisen an den Mann kommen, wenn sie nicht unverkäuflich liegenbleiben, läßt sich „der Markt“ doch als sinnreiche höhere ökonomische Macht, als Planungsersatz lesen, der ohne Bewußtsein und Subjektivität mehr leistet, als Menschen könnten - und dabei noch die einzelnen Wirtschaftssubjekt so frei agieren läßt, als stünden sie mit ihrer Arbeit und ihren Bedürfnissen überhaupt nicht in Abhängigkeit zu anderen. Methodologisch ausgebuffte moderne Ökonomen werden sich das Lob des Marktes nicht mehr so schön metaphysisch aufsagen trauen wie der alte Adam Smith, der von einer „invisible hand“ wußte, die den allgemeinen Nutzen auch dann mehrt, wenn jeder einzelne sich nur um sich und seine Bereicherung gegen andere kümmert. Aber sie meinen genau dasselbe, wenn sie versuchen, sich nicht mehr so verfänglich auszudrücken und nur noch vom Gleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage reden, das „der Markt“ schafft. Auch sie haben ihre höhere Macht, deren unbestechlichen Gesetzen wir uns zu unserem Besten beugen müssen. Dazu fassen sie das kapitalistische Konkurrieren, bei dem die einen um ein möglichst großes Stück vom Profit, die anderen um ihren Lebensunterhalt ringen, als eine Art Beratung zwischen Millionen von Wirtschaftssubjekten auf, die unbewußt, nämlich von ihren Waren in der Sprache der Preise darüber geführt wird, was nächstens in welcher Menge hergestellt werden soll. Dass der Standpunkt einer gesellschaftlichen Gesamtarbeit und ihrer zweckmäßigen Teilung zwischen den Teilarbeitern in diesem Kampf aller gegen alle ebensowenig vorhanden ist wie der Standpunkt der Versorgung, stört sie dabei nicht. Das ist es ja gerade: die Koordination der unabhängigen Teilnehmer an der Wirtschaft weiß, will und bewirkt niemand, sie stellt sich über den Markt automatisch ein.
Freilich immer nur „letztlich“. Unmittelbar erschiene es ja auch widersinnig, dass die Käufer die Preise der angebotenen Güter bestimmen sollten, wenn sie bezahlen, was verlangt wird. Wer kauft, orientiert sich am vorgegebenen Preis; und auch derjenige der nicht kauft, weil er nicht zahlen kann, oder sein knappes Budget für Wichtigeres spart, beugt sich den Forderungen der Anbieter und bestimmt sie nicht. Aber die Theorie der Preise betrachtet diese eben doppelt: Einmal als den Haushalten vorgegebe Größen, so dass sich die Menge der gekauften Güter nach den verlangten Preisen richtet. Ein anderes Mal als Wirkung der Nachfrage, so dass sich der bezahlte Preis nach der nachgefragten Menge richtet. Dass entweder die eine Seite fix sein muß, damit die andere eine durch sie bestimmte Variable sein kann, oder umgekehrt, dass aber nicht beide Seiten zugleich fix vorgegeben und zugleich die Variable der anderen sein können, ist den Ökonomen nicht ganz unbekannt. Sie organisieren die Sache so, dass sie die eine Abhängigkeit in der Abteilung Haushaltstheorie, die andere in der Abteilung Produktionstheorie verfolgen - und so insgesamt doch zur Behauptung der doppelseitigen Abhängigkeit der Preise von den Mengen und der Menge von den Preisen kommen. Insgesamt unterstellt das „Marktmodell“ dann noch, dass Preise keine anderen Bestimmungsgründe haben als die Nachfrage - so dass bei sinkender Nachfrage die Waren immer billiger würden, und dass die Nachfrage keinen anderen Bestimmungsgrund hat als den Preis, so dass bei sinkenden Preisen von einer Warenart immer größere Mengen gekauft würden. Die Annahmen haben nichts mit der Wirklichkeit zu tun, sie sind aber halt nötig, wenn man sich die geniale Herstellung eines Gleichgewichts von Angebot und Nachfrage durch „den Markt“ vor Augen führen will.
Tatsächlich paßt sich da nichts an und gleicht sich nichts aus. Das Gleichgewicht von Angebot und Nachfrage, das besagter Mechanismus wenigstens letztlich zustande bringen soll, tritt nur unter der Bedingung ein, dass die ungestillten Bedürfnisse, die wegen mangelnder Kaufkraft zu den aktuellen Preisen nicht zum Zug kommen, und die unverkauften Waren, die billiger nur mit Verlust und deshalb gar nicht abgegeben werden, nicht als Einwand gegen das Gleichgewicht zählen. Wenn aber nur verlangt ist, dass ein Gleichgewicht zwischen „marktwirksamer“ Nachfrage und ebensolchem Angebot eintrete, dann kommt es in jedem Fall zustande und ist ohne jeden Gehalt: Es ist dann nämlich die billige Tautologie, dass der Menge der verkauften Waren eine gleiche Menge von gekauften Waren entspricht - und das zu genau dem Preis, in dem sich Käufer und Verkäufer getroffen haben - dem Gleichgewichtspreis. Dieses Gleichgewicht ist bei jedem Niveau von Not und Krise, Arbeitslosigkeit und Absatzflaute zu haben.
Modell
und Mathematik
Auf solche Einwände ist die VWL auf ihre Weise vorbereitet. Sie räumt ein, dass ihre „Annahme“, alle Waren, die verkauft werden sollen, würden auch verkauft, und alle beabsichtigte Nachfrage, käme auch zum Zuge, „realitätsfern“ ist. Sie weiß auch, dass die „lineare Substitution“ von Preis und Menge - je billiger Brot wird, desto mehr wird davon verzehrt, je teurer es ist, desto weniger - eine höchst anfechtbare, aber eben unverzichtbare „Annahme“ ist, wenn man sich ihre Vorstellung von der Koordinationsleistung des Marktes machen will. Nicht gegen die nichtssagende Tautologie ihres Gleichgewichtsgesetzes, sondern gegen den Realismus der von ihr gemachten Voraussetzungen läßt sie Einspruch gerne gelten: sie bekennt, dass idealisierte Voraussetzungen gemacht werden, um das Gesetz, um das es ihr geht, reiner darstellen zu können. Die Theorie wird zum Modell zurückgenommen, sie erfaßt nicht die Realität, wie sie ist, sondern gibt eine Idee, wie man sich ihr Funktionieren gut vorstellen könnte.
Das von der Realität getrennte Modell verteidigt die Volkswirtschaftslehre um so konsequenter - eigentlich besteht das ganze Fach aus der methodischen Verteidigung dieser Idee vom Funktionieren des Marktes. Mittels der Mathematik und allen Feinheiten von Differential und Integral wird, um beim gegebenen Beispiel zu bleiben, die vorgestellte Abhängigkeit von Preis und Menge in eine unübertrefflich exakte Formel gebracht: Y= f(x). Kurven und Gerade lassen sich so legen, dass sie sich schneiden und auch dem ungeübten Auge „beweisen“, dass es bei jedem Preis und für jedes Budget ein Mengenoptimum gibt - und umgekehrt. Ausgerechnet werden muß nichts, weil überhaupt nicht mit vorhandenen Größen gerechnet wird, sondern alle Größen zu Zwecken der Demonstration gewählt sind. Für mehr als für ein Bild von der Abhängigkeit zweier Größen ist die mißbrauchte Mathematik nämlich gar nicht verlangt.
Die
Leistung - Für Oben: Der Schein einer Technologie der Wirtschaftssteuerung - Für
Unten: Die Zurückweisung von Ansprüchen
Dieses Bild von Abhängigkeit zeichnet die VWL nicht nur von Preis und Menge, sondern von allen volkswirtschaftlichen Größen untereinander, indem sie jede dieser Größen als Funktion anderer darstellt. Insgesamt erzeugt sie damit die Vorstellung eines komplexen Wirkungszusammenhangs, in dem alles mit allem gesetzmäßig zusammenhängt. Lohn und Zins, Wachstum und Geldmenge, Investitionen und Staatsausgaben - alle wirken notwendig aufeinander und jede Veränderung einer Größe führt dank des Marktes zu neuen Gleichgewichtszuständen aller anderen Größen untereinander. Mit ihrer Vorstellung vom gesetzmäßigen Wirkungszusammenhang, bei dem jede Größe alle anderen beeinflußt, also auch als Hebel ihrer Beeinflussung genutzt werden kann, bietet sich die VWL dem staatlichen Standpunkt der Steuerung des Wirtschaftsprozesses als das dazu nötige technologische Wissen an. Mit ihrer Kombination von über Marktreaktionen notwendigen und berechenbaren Wirkungen einerseits, der Freiheit der Veränderung einzelner Größen andererseits kopiert die VWL die Natur, die durch Kenntnis ihrer Gesetze und ihrer zielbewußten Ausnutzung beherrscht wird. Steuerung der anonymen Marktgesetze ist möglich - aber nur wenn sie marktkonform ausfällt, wenn also auch der Staat sich ihnen unterordnet, um sie auf seine Ziele zu lenken: Arbeitslosigkeit läßt sich durch Lohnsenkung bekämpfen, Wachstumsschwäche des Kapitals durch Steuergeschenke und niedrige Zinsen, Wohnungsnot durch die Liberalisierung des Mietrechts usw.
An den Empfehlungen der Experten orientiert sich die Regierung sogar, die sie in Auftrag gegeben hat. Und zwar deshalb, weil die „Wirtschaftsweisen“ mit ihrem hohen Renommee ohnehin nichts anderes vorschlagen, als das, was die Regierung von sich aus beabsichtigt. Die Gutachten zur wirtschaftlichen Lage und ihre Ratschläge werden „befolgt“, weil sie zur Rechtfertigung von Kabinettsbeschlüssen taugen - andernfalls würde es ihnen ergehen wie den wissenschaftlich gesehen nicht schlechteren „Gegengutachten“ aus dem Lager gewerkschaftsnaher Ökonomen. Diese Leute, ganz besonders überzeugte Ideologen ihrer Zunft, halten den Kapitalismus für einen ebenso effizienten wie zweckfreien Wirkungszusammenhang, der sich mit dem richtigen Einsatz der richtigen Hebel auf beliebige, auch soziale Ziele hin steuern ließe. Ihre Empfehlung, den gesamtwirtschaftlichen Prozeß mit Zinssenkung und Staatsausgaben in Richtung Vollbeschäftigung und Lohn umzusteuern, wird zuverlässig mit Mißachtung gestraft. Die wissenschaftliche Politikberatung ihrer kapitalfreundlichen Kollegen, die vorgibt, den Mächtigen zu sagen, wie „es geht“, darf sich bei der politischen Macht für das Prädikat „realitätstauglich“ bedanken, das sie von ihr erhält. Was tut es da schon zur Sache, dass die VWL die Technologie eben doch nicht ist, die sie sein will, und dass die Prognosen, mit denen sie ihre wirtschaftspolitischen Ratschläge an die Regierung begründet, regelmäßig daneben liegen? Die Politik beweist den Realismus der Wissenschaft, indem sie sich „daran hält“.
Wissenschaftliche Empfehlungen zu marktkonformem Verhalten ergehen auch in Richtung der Bürger mit den kleinen oder gar keinen Einkommen. Auch sie können sich an diese Empfehlungen halten - freilich nur sehr passiv. An sie richten sich weniger die Expertisen über die Hebel der Beeinflussung des Marktes als die Aufklärung über seine notwendigen und unumstößlichen Wirkungen. Wann immer irgendwem - den Käufern, den Arbeitslosen oder den Mietern - die Ergebnisse der Wirtschaft nicht passen, bestehen Ökonomen darauf, dass der Markt nur der allgemeine Reaktor ist, in den alle besonderen Ansprüche und Nutzenerwartungen eingehen. Er erteilt den Marktteilnehmern nur die notwendige Gleichgewichtsantwort auf ihre Ansprüche. „Der Markt“ kann nichts dafür, wenn es keine Wohnungen, dafür aber jede Menge Arbeitslose gibt, wenn die Preise steigen und die Ersparnisse schrumpfen. Mengendefizite bei Wohnraum? Offenbar sind die Mietpreise zu niedrig, so dass „der Markt“ nicht mehr davon zur Verfügung stellen kann. Massenarbeitslosigkeit? Offenbar ist der Preis der Arbeit zu hoch, so dass sie nicht in ausreichendem Maß nachgefragt werden kann. Steigende Preise und sinkende Massenkaufkraft? Eine Wirkung zu hoher Löhne und überbordender Nachfrage. In der „Lohn-Preis-Spirale“ sind Preissteigerungen nur der notwendige Ausgleich der Störung des Gleichgewichts durch die Lohnseite. Die Propagandisten des Marktes geben jede Klage an den Kläger zurück - wenn der Markt seine Ansprüche zuschanden werden läßt, dann hat er eben unrealistische Ansprüche gehabt, - und diese werden von der Gleichgewichtsmaschine gnadenlos aufgedeckt.
Das Fach ist ein einziges Plädoyer gegen politische und soziale Korrekturen an den Ergebnissen der kapitalistischen Konkurrenz - solche sind allesamt Verfälschungen des freien Spiels der Marktkräfte und können nur zum Gegenteil der Wohltaten führen, die damit beabsichtigt sind. Der größte allgemeine Nutzen entsteht, wenn man den Markt ungestört herausfinden läßt, was zu welchem Preis welche Nachfrage findet. Die Parteilichkeit des Fachs gilt also ganz von selbst nicht nur dem System der Marktwirtschaft, sondern auch jenem Privatstandpunkt in ihr, der „die Wirtschaft“ heißt.
Die Nationalökonomie erforscht nicht die Zwänge des Marktes, sondern gibt ihnen einen guten Sinn: Sie sind die Resultante der vielen privaten Nutzenkalküle, die auf diese Weise ebenso zum Zuge kommen, wie auf ihr realisierbares Maß zurückgeführt werden. Die Volkswirtschaftler haben das Kunststück fertig gebracht, aus dem Nutzen und der Zweckmäßigkeit selbst einen Sachzwang zu deduzieren, dem sich die wirtschaftlichen Akteure durch ihr Nutzenstreben unterwerfen. Dieser Sachzwang ist gerechtfertigt dadurch, dass er nur aus dem Nutzen entspringt und nur ihm dient. Der Materialismus der Marktteilnehmer ist ins Recht gesetzt, wenn der Markt ihm recht gibt, und einer unrealistischen Anspruchshaltung bezichtigt, wenn der Markt ihm nicht recht gibt. Denn der Markt macht keine Fehler! Seine Gesetze wirken unerbittlich.
Das Fach handelt vom Staat und seinen Einrichtungen, also von Macht und Herrschaft in der modernen Gesellschaft. Alle Definitionen des „Politischen“, mit denen diese Wissenschaft anhebt, wissen, dass sich ihr Feld durch Zwang charakterisiert, durch die Verbindlichkeit der Beschlüsse der einen Seite für die andere und durch die Unverbindlichkeit abweichender Wünsche seitens der Regierten. Es ist den Fachleuten kein Geheimnis, dass sie ein Herrschaftsverhältnis besprechen, dessen eine Seite Freiheit der Entscheidung, dessen andere Unterordnung bedeuten. Aber auch die offenkundige Tatsache, dass da eine Obrigkeit die ihr Unterstehenden zu Diensten zwingt oder Beschränkungen unterwirft, zu denen diese von sich aus nicht aufgelegt sind, kann die Wissenschaftler nicht dazu verführen, nach dem Was und Warum der Ge- und Verbote zu fragen, die der Gesellschaft von der monopolisierten Gewalt des Staates auferlegt werden – aus ihnen müsste sich ja wohl der bestimmende Zweck der Herrschaft ergeben. Politologen interessieren sich für die ganz und gar „wertfreie“ Frage, welche Regelmäßigkeiten sich auf dem Feld des Befehlens und Gehorchens wohl feststellen lassen, und welche höheren Notwendigkeiten das Verhältnis von Herrschaft und Untertan bestimmen.
1.
Die Ableitung des Staates aus der Menschennatur: Der Mensch braucht Zwang
Um nicht den wirklichen, sondern den guten Grund der politischen Herrschaft herauszufinden, entfernt sich die Wissenschaft erst einmal von dem Objekt, dessen Bestimmungen sie untersucht, und schwadroniert über den Staat überhaupt im Verhältnis zum Menschen und davon, wie er ohne eine Ordnung stiftende Macht dastünde. Die Sorte Notwendigkeit des Staates, die Politologen ermitteln wollen, hat eben nichts zu tun mit dem bestimmten Zweck des existierenden Staates und will nicht den notwendigen Umkreis seiner Tätigkeiten aus diesem Zweck erläutern, sie will vielmehr den Staat als solchen rundweg für notwendig erklären. Das erste Thema der Wissenschaft von Staat ist also der Mensch.
Von diesem Menschen weiß die Politologie seit ihren frühbürgerlichen Anfängen, dass er ohne politischen Herrschaft in einem „Naturzustand“ leben würde, in dem das Faustrecht gilt und „der Mensch dem Menschen ein Wolf“ ist. Die wilde Bestie raubt und mordet, wenn sie daran nicht gehindert wird, und empfindet - deshalb ? - ein starkes Bedürfnis nach einer Macht über sich, die ihr das Ausleben ihrer Natur verbietet, damit sie in Frieden ihren Interessen nachgehen kann. Politologen stören sich wenig an dem Widerspruch, dass dieses Raubtier ihnen zufolge danach strebt, den seiner Natur entsprechenden Naturzustand aufzugeben. Politologen finden es völlig naheliegend, dass freie Wilde eines Tages zusammengetreten sein und beschlossen haben müssen, über sich eine Macht zu errichten, damit sie ihr gehorchen können und damit sie sich von ihr verbieten lassen, zu tun, was sie von sich aus tun würden. Wenn heutige Fachvertreter Hobbes, Locke, Montesquieu und Rousseau, die nach wie vor zum festen Bestand der „politischen Theorie“ gehören, nicht mehr wörtlich verstanden wissen wollen, und die „Entstehungsmythen“ des modernen Staates nur noch für gelungene Sinnbilder seiner Genese, nicht mehr für die tatsächliche ausgeben, dann nicht, weil sie den Aberwitz einer freiwillig beschlossenen Selbstunterwerfung vordem freier Wilder bemerkt hätten, sondern nur weil sie aus der Geschichte haben lernen müssen, dass es niemals so gewesen ist. Das Bild des „contract social“ ist ihnen nämlich ganz unverzichtbar, es ist ihr ganzer Gedanke über Grund und Wesen des Staates; insofern ist die moderne Distanzierung lediglich eine Immunisierung gegen die Widerlegung dieser schönen Vorstellung, aber kein Abstandnehmen von ihr.
Das sinnige Bild von der raubenden und mordenden Bestie, die sich zugleich nach Frieden sehnt, von sich aus aber niemals Frieden geben würde, sondern dazu eine Macht über sich braucht, will und schafft, ... - diese Vorstellung der Politologie von der idealtypischen Entstehung des Staates geht nicht im allgemeinen Gelächter des Publikums unter. Sie kommt diesem Publikum nämlich automatisch vertraut vor: Die Leute brauchen dazu das angebotene Gedankenexperiment nur mitzumachen und sich zu fragen, was sie denn täten, wenn das Gesetz und seine Organe sie nicht an manchem hinderten. Man weiß ja, was in New York passiert ist, als einmal eine Nacht lang mit der Stromversorgung auch die Macht der Staatsorgane ausgefallen ist, die sonst die Bürger in Schach hält. Halt ungefähr das, was sich Politologen unter dem Naturzustand vorstellen! Die Überzeugungskraft dieses Gedankenexperiments beruht darauf, dass sich die angesprochenen Bürger selbstverständlich als die Privateigentümer, mit ihrem wechselseitigen Ausschluß von den Gegenständen ihres Bedarfs und ihrem feindlichen Gegensatz gegen andere Eigentümer vorstellen, die sie unter der Rechtsordnung des Eigentums auch sind - nun aber ohne den Staat, der diese Ordnung errichtet und gegen die ihr immanenten Übergriffe schützt. Der Staat wird probehalber aus den von ihm geschaffenen Verhältnissen des Privateigentums weggedacht - damit ganz drastisch einleuchtet, dass er schleunigst wieder hergedacht werden muß: Seine Existenz ist ein Segen für die Privateigentümer, die sich und ihresgleichen kennen und fürchten. Der Beweis, der ein notwendiges Bedürfnis der Menschennatur nach einer Frieden und Ordnung stiftenden Staatsgewalt aufzeigen und aus diesem Bedürfnis den wirklichen Staat hervorgehen lassen will, ist - das zeigt das Gedankenexperiment immerhin - ein simpler Zirkel an dem nur soviel stimmt: Eine Welt des Privateigentums kann es ohne die Gewalt des Staates nicht geben, die das ausschließliche Verfügen über jedes Stück Welt irgendeinem ihrer Bürger reserviert. Dass der Mensch von Natur aus Privateigentümer ist, ist eine ganz andere Sache. Aber die muß ja nicht bewiesen werden, wenn eine Wissenschaft ihre Überzeugungskraft daraus gewinnt, dass sie an lauter Privatsubjekte appelliert, die es auch bleiben wollen.
Die
Unfreiheit des Souveräns - ein Segen für den Untertan
Politologen lassen sich von logischen Bedenken nicht irritieren, wenn sie die Herrschaft als Dienstleistung für deren Objekte darstellen. Das Paradoxon drängt sie allerdings zu einer Präzisierung: Nicht jeder Staat verdient dieses Prädikat. Bei schlechten Exemplaren liegt statt der Herrschaft einer Staatsgewalt die Gewaltherrschaft einer Staatsführung vor, und an diesen Fällen erinnern sich die Sachverständigen auf einmal daran, dass Herrschaft und Unterordnung den naheliegenden „Sinn“ haben können, dass die Anliegen der Herrscher zu Zuge kommen und die Regierten tun müssen, was nicht ihnen sondern den Mächtigen nützt. Das gilt Politologen als ein klarer Fall von „Willkür“ und „Machtmißbrauch“, der sich schon wieder umfassend aus der schlechten Menschennatur - diesmal auf der Seite der Mächtigen - erklärt. Die gute Herrschaft ist ein Dienst am Menschen - und sie beweist ihre Qualität durch ein neues Paradoxon: Die Nicht-Souveränität des Souveräns. Insofern ist die eingangs formulierte Frage des Fachs schon die wesentliche Botschaft: Auch die politische Herrschaft, die sich durch Freiheit gegenüber ihren Objekten auszeichnet, unterliegt dem Wirken von Gesetzen, denen sie nicht auskommt. Die Unfreiheit der Mächtigen beweist, dass sie nicht sich selber, sondern der Gesellschaft, über die sie herrschen, einen Dienst leisten.
„In früheren Geschichtsepochen war das Regieren gekennzeichnet durch Formeln wie „Sorge um das gemeine Wohl“, „Wahrung des Friedens nach innen und außen“, „Mehrung und Schutz des Rechts“ - Formeln, die wir heute als Leerformeln bezeichnen müssen, da es weitgehend der Entscheidungsfreiheit der Herrschenden überlasssen blieb, welchen Inhalt sie diesen Formeln geben wollten. ... zur Kennzeichnung des modernen Regierens kaum mehr brauchbar. Denn seit dem letzten Jahrhundert ist ein radikaler Wandel eingetreten: ein radikaler Wandel in den Strukturen der politischen Gesellschaft, der zu einem radikalen Wandel des Regierens geführt hat. (Heute muß) ... die Regierungslehre fragen, wie das politische System strukturiert ist, in dem regiert wird, wie demzufolge die Regierungsaufgaben inhaltlich bestimmt sind oder sein müßten, welches Regierungsinstrumentarium systemadäquat ist. Regierungen sind Bestandteile von politischen Systemen, verstanden als soziale Gesamtordnungen. Ihre Generalaufgabe ist es, solche hyperkomplexen Systeme zu steuern mittels der Durchführung einer Vielzahl von Einzelaufgaben. (Heinz Laufer, Regierungslehre, in: Politische Wissenschaft heute, München 1971, S. 79-90)
Dass die Figuren an der Macht nicht ihrer Willkür frönen, sondern „Regierungsaufgaben“ erledigen, beweist in Wahrheit nur, dass ein nicht mehr nur persönlicher, sondern objektiver Herrschaftszweck vorliegt, dessen Träger Funktionäre sind. Der Vergleich mit vergangenen Zeiten, in denen der Staat das Privateigentum des obersten Chefs gewesen ist, mag Leuten, die sich zur Not auch das gefallen ließen, den modernen Staat so sehr als einen Glücksfall für Untertanen erscheinen lassen, dass ihnen die nicht-willkürliche Ausübung der Herrschaft gleich als eine Art arbeitsteiliger Funktion vorkommt, der die Gesellschaft bedarf. Trotzdem wird aus der politischen Herrschaft durch einen geschickt gewählten Vergleich nicht ihr Gegenteil. Und was für die Funktionäre des Staates gilt - sie üben Ämter mit rechtlich geregelten und begrenzten Kompetenzen aus - das gilt nicht für den Staatszweck, in dessen Auftrag sie tätig sind: Dieser ist keineswegs beschränkt und gehemmt, nur weil er seine Amtsträger auf ihre Funktionen festlegt. Die souveräne Macht selbst ist nicht „Aufgaben für die Gesellschaft unterworfen“, wenn ihre Agenten ihre Aufgaben erledigen. Der Staat dient nicht ihm vorausgesetzten Bürgerinteressen, sondern definiert und schafft diese; er „dient“ nur den gesellschaftlichen Positionen, Ständen, Klassen, er „schützt“ nur die Rechte und Interessen, die er mit seinem Gewaltmonopol eingerichtet und auf die er die Gesellschaft festgelegt hat. Als Dienste stellen sich Staatstätigkeiten nur einem Betrachter dar, der auf den Staat vom Standpunkt der Gesellschaft aus blickt, die dieser Staat mit seinem Zwang geschaffen hat. Die nähere Bestimmung der Dienste, die der Staat seiner Gesellschaft leistet, kann den funktionalistischen Zirkel, dem sie sich verdanken, nicht ganz verbergen:
Von diesen Elementen des politischen Systems her ... können die Regierungsaufgaben gewonnen werden. Summarisch: Schutz für den physischen Bestand der politischen Gesellschaft durch Organisation der militärischen Verteidigung; Schutz vor Gefahren im Inneren durch Kriminelle, Verkehr, Technik, biologische und biochemische Mittel, Krankheiten und Seuchen; Sorge für die materielle Existenzbasis der Bürger durch Gestaltung der Wirtschaftsordnung, des Finanzwesens, der Energieversorgung, durch die Erwerbsförderung und Gestaltung der Arbeitsverhältnisse; ... Garantie und Schutz der personalen Existenz der Gesellschaftsmitglieder durch Rechtsschutz für Leben, Freiheit, Gleichheit und Eigentum, Gesundheitsvor- und -fürsorge, soziale Sicherung im Krankheits-, Invaliditäts- und Rentenfall.“ (ebd.)
Der Staat schützt erstens vor äußeren Gefahren. Diese gehen von anderen Staaten, also von Seinesgleichen aus. In seiner Mehrzahl ist der Staat also selbst der Grund der Gefahren, vor denen er „schützt“. Deshalb ist der Ausdruck „Schutz“ nichts als ein Euphemismus für die immerwährende Gewaltkonkurrenz, die die politischen Souveräne untereinander austragen. Der Staat „schützt“ zweitens vor inneren Gefahren, die er - Gesundheitsgefahren durch Chemie, Verkehr, Arbeitsplätze, Armut alle selbst geschaffen oder ausdrücklich erlaubt hat. Besonders schützt er die Bürger vor Kriminellen - Leuten die es ohne den Staat und seine Gesetze nicht geben könnte, sind sie doch dadurch definiert, dass sie diesen Gesetzen zuwiderzuhandeln. Schließlich schützt er Person und Eigentum - eben weil er den Menschen unter seiner Hoheit die Rolle von Privatpersonen und Eigentümer auferlegt hat.
Linke Politologen gibt es auch. Sie sind im Namen des kapitalistischen Staates kritisch gegen seine wirtschaftliche Grundlage und haben höchste Achtung vor der Aufgabe, die sie ihm zuschreiben. Dafür übertreiben sie die auch ihren Kollegen geläufige Kritik des an sich zerstörerischen Privategoismus um ein bißchen Kapitalkritik: Den ganzen Staat leiten sie aus einem Funktionsdefizit der von sich aus selbstzerstörerischen Produktionsweise ab und stellen ihm die Aufgabe, dieser an sich antigesellschaftlichen Wirtschaft eine gesellschaftliche Reproduktion abzuringen. Sie gehen so weit, den Staat, der diese Wirtschaft mit seiner Gewalt schafft und ins Recht setzt, als ihr Opfer hinzustellen: Der Kapitalismus macht es dem Staat schwer bis unmöglich seinen Gemeinwohlaufgaben nachzukommen, so dass mancher, der auszog, den Staat als „Reparaturinstanz des Kapitalismus“ zu „verstehen“, denselben in den 90er Jahren beim Reparieren scheitern sieht. Ihr Forschen resultiert in einem negativen Urteilt - der Staat reguliert das anarchische Geschehen auf den globalisierten Märkten letztlich nicht -. Ihre merkwürdige Mitteilung, nach der nicht stattfindet, was sie gerne als Staatsleistung gesehen hätten, halten sie nicht für eine Kritik ihrer idealistischen Funktionszuschreibung, sondern für eine zeitgemäße Staatstheorie.
Politik
ist der politische Prozeß
Weil Herrschaft nun einmal nötig - wir erinnern uns der natürlichen Unvernunft des politischen Tieres -, aber immerhin Herrschaft ist, die oft genug den Herrschenden nützt, also mißbraucht wird, hängt ihre Vertretbarkeit voll und ganz davon ab, wie streng sie sich und ihre Funktionsträger an ihre Aufgabe - eine Funktion für die Gesellschaft zu sein, bindet. In staatlicher Selbstbindung - Gewaltenteilung zwischen verschiedenen Staatsorganen - und der Bindung des Staatswillens an die Gesellschaft erkennt die Politologie das entscheidende Erfordernis anerkennungswürdiger Staatsgewalt. Sie hat sich an die Untertanen und diese zur Staatsräson hin zu vermitteln. Die neben die Exekution der Staatsräson getretene Pflege der Beziehungen von Oben und Unten, mit denen die Amtsträger ihr Tun vor den Regierten rechtfertigen, gilt dem Fach als Hauptaufgabe und Springpunkt der politischen Macht: Das Verhältnis von Herrschaft und Unterordnung wird im Lichte der rechtfertigenden Vermittlung beider Seiten in der Abstraktion eines Verhältnisses überhaupt ersäuft, in dem nur noch festgehalten wird, dass Oben und Unten auf einander angewiesen sind und irgendwie einander beeinflussen. So hält der Systemgedanke Einzug in der Politikwissenschaft: Die Teile - Staat und Gesellschaft - sind definiert durchs Ganze, und dieses wiederum durch seine Teile; alle Seiten des Ensembles brauchen einander, weil sie ohne ihre jeweils andere Seite nicht wären, was sie sind. Diese „Einsicht“ in die Notwendigkeit des Staates für die Gesellschaft präsentiert sich unverhohlen als Denkverbot:
„Für unseren Zusammenhang wesentlich ist die Möglichkeit einer weiteren Differenzierung dieser politischen Realität - entsprechend der ihr eigentümlichen Verschränkung von subjektiven und objektiven Elementen - in politische Praxis, in politische Institutionen und in Praxis wie Institutionen normierende und der jeweiligen konkreten Gestalt dieser politischen Realität Sinn gebende politische Ordnungskonzeptionen oder -ideen, die auf konkreten Erfahrungen der Menschen und ihrer interpretativen Erarbeitung beruhen. ... Eine politikwissenschaftliche Analyse der politischen Realität, die ihrem Gegenstand gerecht werden will, kann nicht eines dieser Elemente willkürlich von den anderen isolieren und gleichsam als selbständiges traktieren; sie ... muß der prinzipiellen Einheitlichkeit der politischen Realität und damit des unaufhebbaren Bezugs der drei Elemente aufeinander im Lebensprozeß der Politik eingedenk bleiben, will sie die politische Realität nicht gründlich verfehlen. ... Politische Institutionen lassen sich demnach als Regelsysteme kommunikativer Art, als durch und ausgebildete Ensembles von sprachlich vermittelten, intersubjektiv geltenden Regeln verstehen, die politische Praxis bestimmen und die ihrerseits wieder von konkreten, ebenfalls durch sprachliche Vermittlung zur intersubjektiven Geltung gelangten Ordnungskonzeptionen abhängig sind.“ (Theo Stammen, Zur Geschichte der modernen demokratischen Institutionen, in: Politische Wissenschaft heute, S. 53-66)
Wenn man das Verhältnis von Herrschaft und Beherrschten erfassen will, darf man keinesfalls jedes der Extreme des Verhältnisses für sich bestimmen, um aus ihren Eigenarten auch ihr Verhältnis zu ermitteln; man muß stattdessen beide Seiten immer „zusammendenken“, vermischen, jede Seite für die andere nehmen - und beide im Lichte der Ideen, die die in den Verhältnissen befangenen Menschen darüber pflegen, „verstehen“. Dann kommt man zielsicher zu der Einsicht, dass Herrschaft und ihre Abwicklung ein kommunikativer Prozeß ist, der Regeln folgt, welche die Menschen nach ihrem Geschmack erfunden haben, damit sie ihnen dann gehorchen. Der eigentliche Gegenstand der Politikwissenschaft ist nicht der Staat, sondern dieser von ihr entdeckte Kommunikationsprozeß von Oben und Unten. Staatswissenschaft will sie nicht mehr sein, weil dieses Wort den Eindruck eines Gegenüber von Staat und Gesellschaft vermitteln würde, statt des viel netteren Eindrucks des Miteinander beider, den sie erzeugt. Sie substituiert dem Staat ihren neuen Gegenstand, den „Politischen Prozeß“, und untersucht dieses ihr Konstrukt: Dadurch wird das Procedere der Demokratie zur einzigen Seite des Staatshandelns, das die demokratische Wissenschaft interessiert. Anstatt die demokratischen Techniken der Ermächtigung aus dem Begriff des Staates zu erklären, identifiziert und rechtfertigt sie den Staat aus seinen demokratischen Verkehrsformen - als ob sie nicht wüßte, dass es jede Menge Staaten gibt, die ihre „Aufgaben“ auch ohne Parteien, Wahlen, und Parlamentsmehrheiten abwickeln, und dass jede Demokratie ihre Notstandsgesetze hat, mit denen der Staat gerettet wird, wenn die Demokratie ihren Dienst versagt.
Institutionenlehre
- alles ist Vermittlung
Der politologische Begriff aller demokratischen Institutionen ist derselbe. Ob die Rede vom Parlament, von den Parteien, Wahlen, oder der Öffentlichkeit ist, stets erteilt die Wissenschaft diese eine Auskunft: Alle Einrichtungen sind Mitten, die der Staat zwischen sich und die Regierten schiebt, um seine Maßnahmen dem Volk zu vermitteln und umgekehrt dessen Wünsche und Erwartungen an die Zentren der Macht. So eindeutig ist die Wohltat einer guten Versorgung mit Herrschaft also doch nicht, dass die damit Beglückten nicht immer neue Vermittlungsstufen zwischen sich und ihrem Wohltäter bräuchten, um sich von der Qualität der Dienste zu überzeugen und ihnen abzunehmen, dass Verordnungen und Beschränkungen wirklich die Antworten auf ihre Bedürfnisse sind. Auf den Gehalt des Gegensatzes von Macht und Untertan im Freiheit gewährenden Staat mögen die Politologen keinen Gedanken verschwenden, auf die Überbrückung desselben dafür um so mehr. Was es da zu überbrücken gilt, gerät entsprechend abstrakt und spielt sich allein auf dem Feld der Zahlen ab: Millionen Bürgerwillen müssen in einen einheitlichen Staatswillen transformiert werden; Interessen müssen gebündelt und zu Kompromissen veranlaßt werden, damit sie schließlich in ein alle Interessen umschließendes Regierungsprogramm münden. Dieses muß sich dann wieder an die Interessen, die es keineswegs als ihre Erfüllung erkennen können, zurückvermitteln und den Bürgern erklären, dass gerade wegen ihrer Interessen so oder so über sie hinweggegangen werden muß. Politologen sind ignorant gegen die Frage, warum verschiedene Interessen, wenn es denn bloß die Zahl wäre, nicht allesamt zum Zug kommen sollten, sondern erst zu einem einheitlichen Staatsprogramm transformiert werden müssen; ebenso ignorant sind sie auch gegen den anderen Einwand, dass gegensätzliche Interessen überhaupt nicht vereinheitlicht werden können; stets wird eines untergebuttert, wenn ein anderes von Staats wegen gültig gemacht wird. Insgesamt sind, wenn die Staatsmacht ihre Entscheidungen nach ihren Prioritäten fällt, die Bilder von Kompromiß und Durchschnittsbildung der Interessenvielfalt unangemessen. Politologen lassen sich von derlei Einwänden die schöne Vorstellung, mit der sie die Politik vernünftig finden, nicht madig machen: Sie halten fest an der Idee der hin und hergehenden Vermittlung von Staat und Bürger, die es gar nicht bräuchte, wenn es sich mit den Interessen verhielte, wie sie sagen.
Mit ihrem doppelten Maßstab - ein einheitlicher Staatswille muß aus dem politischen Prozeß herauskommen, die ungeschmälerte Vielfalt der Bürgerinteressen muß in ihn eingehen - sind die wissenschaftlichen Sachverständigen gerüstet, jede Einrichtung der Demokratie und jede Maßnahme der Regierung abschließend zu beurteilen: Parteien zu gründen und zu wählen, muß erlaubt sein, damit die Bürger ihre Anliegen in den politischen Prozeß einbringen können; sie dort auch durchzusetzen muß institutionell verhindert werden: Ein Interessenskampf der Bürger würde die Bildung des einheitlichen Staatswillens gefährden - und außerdem sind, anders als in der kleinen Schweiz, in der Massendemokratie die Marktplätze nicht groß genug, um das ganze Volk auf ihnen zu versammeln und abstimmen zu lassen. Direkte Demokratie und imperatives Mandat - so demokratisch sie vordergündig wären - sind leider nicht praktikabel, können also nicht gewährt werden. Mit solchen Überlegungen „verstehen“ Politologen die Weisheit der wirklichen Demokratie, in der die Bürger Repräsentanten wählen, die die verfassungsmäßige Freiheit genießen, sich von den Forderungen ihrer Wähler frei zu machen, um zu Agenten der Staatsräson zu taugen und den Staatswillen zu bilden. Das Verhältniswahlrecht - um noch ein Beispiel durchzunehmen - ist sehr gut und demokratisch, weil es allen politischen Strömungen eine Repräsentation in der Volksvertretung erlaubt, es ist aber auch schlecht, weil es die klare Mehrheits- und Regierungsbildung behindert; beim Mehrheitswahlrecht verhält es sich umgekehrt. Das Schöne an der Expertise des Faches besteht darin, dass sie allen Maßnahmen, mit denen der demokratische Staat die Bürger auf sich bezieht, ohne sich vom Bürgerwillen beschränken zu lassen - Maßnahmen also, mit denen der Souverän seine Souveränität immer neu herstellt - genau das Gegenteil bescheinigt: sie gelten der Politikwissenschaft als Formen der Bindung und Verpflichtung der Hoheit auf den Willen der Regierten.
3.
Legitimität - das höhere Gesetz demokratischer Herrschaft
Das Fach ist sich selbst nicht sicher, ob es eigentlich von den Bestimmungen der Politik handelt, die es gibt, oder ob es eher moralisiert, nämlich aufschreibt, wie Politik funktionieren müßte, damit Politologen sie vernünftig finden können. Politische Wissenschaft und politische Philosophie, heißt es dazu, ließen sich eben nicht ganz trennen. Aus der relativen Gewichtung beider - unverträglichen - intellektuellen Tätigkeiten ergeben sich die fruchtbaren Debatten des Fachs. Eine Etage höher, nämlich im methodischen Vergleich der viele „Politikbegriffe“, die es im Fach gibt, wälzen Politologen ausdrücklich den Widerspruch ihrer Wissenschaft, gute Gründe für die Staatsmacht anzuführen, die sie dann doch irgendwie auch für wirkliche Gründe der wirklichen Macht halten möchten. Da gibt es einen „empirischen Politikbegriff“, der ganz ohne Wertung vom Faktum der Herrschaft ausgeht und sich für deren Funktionieren interessiert, um Regelmäßigkeiten herauszufinden und sie zur Politikberatung kalkulierend auszunutzen. Das ist im Sinne des „nützlichen Wissens“ „objektiv“ gedacht - aber ziemlich unkritisch. „Unreflektierte positivistische Affirmation“ verbietet sich aber gerade beim heiklen Gegenstand Herrschaft für Leute, die ihren Glauben an die Vernunft der demokratischer Staatsgewalt wissenschaftlich ausdrücken wollen. Sie neigen einem „normativen Politikbegriff“ zu und lehnen entschieden eine zynische Beratung der Herrschenden ab, die ihnen sagt, was sie zu tun haben, um unangefochten im Sattel zu bleiben. Sogar diese „machttheoretische“ „Naturseite des Politischen“ aber hat ihr begrenztes Recht in der politischen Wissenschaft, trotzdem bleiben der „geniale Macchiavelli“ und Carl Schmitt, der Politik für den permanenten Kampf gegen die Feinde des Kollektivs hält, die bösen Buben der Zunft. Sie will sich einfach anheimelndere Vorstellungen von ihrem Gegenstand machen. Andererseits ist aber auch der gutgemeinte „normativen Politikbegriff“ nicht der Weisheit letzter Schluß. Seine Vertreter laborieren daran, dass ihre Ideen der Selbstbeschränkung und Rückbindung des Staates an die Objekte seiner Herrschaft, in ihren Augen zwar gute Gründe für den Staat wären, aber vielleicht doch nicht die wirklichen Prinzipien seines Funktionierens sind.
Im Begriff der Legitimität konvergieren alle Schulen: In ihm hat das Fach den Zusammenschluß seiner parteilichen demokratischen Wertorientierung und die Vorstellung des objektive Gesetzes, das hinter und über allem Herrschen herrscht. Legitimität ist der vom Fach entdeckte, sowohl allgemeine wie wohltätige Sachzwang guter Herrschaft, den eben nicht nur Moralisten der Macht postulieren, dem sich vielmehr wirklich kein Machthaber entziehen kann. Legitim ist demnach die Herrschaft, die es schafft, von ihren Untertanen für legitim gehalten zu werden und dadurch eine dauerhafte „Gehorsamsbereitschaft“ bei ihnen zu erzeugt. Gelingt es der Herrschaft, die „Gehorsamswürdigkeit“ ihrer Machtausübung im Volk zu verankern, dann kann sie frei ihres Amtes walten. Freiheit und Notwendigkeit verteilen sich beim Herrschaftsverhältnis also für die beiden Pole verschieden: Der Bürger ist frei, wenn er einsieht, dass über ihn Macht ausgeübt werden muß, damit er seine Freiheit nicht zerstört. Der Staat dagegen verdient sich die souveräne Handlungsfreiheit, die das Regieren braucht, dadurch, dass er seine Abhängigkeit von der Gehorsamsbereitschaft des Volkes anerkennt und ihr entspricht.
Das Schöne an diesem Gesetz ist, dass es das Gelingen von Herrschaft und Gehorsam zum - einzigen - Zweck dieser Herrschaft und zum Kriterium ihres Rechts erklärt. Das großartige Gesetz ist eine Tautologie ohne jeden sachlichen Gehalt: Die Macht muß die Gehorsamsbereitschaft der Untertanen erzeugen, sonst gehorchen sie nicht und der Staat hat keinen Bestand:
„Wenn es dem Staat nicht gelingt, die dysfunktionalen Nebenwirkungen des kapitalistischen Wirtschaftsprozesses in den Grenzen zu halten, die vom Wählerpublikum noch akzeptiert werden; wenn es auch nicht gelingt, die Schwellen der Akzeptabilität selbst zu senken, sind Erscheinungen der Delegitimation unvermeidlich. ... verschärfter Verteilungskampf ...“ (Habermas, Legitimationsprobleme im modernen Staat, in Politische Vierteljahresschrift, Nr. 7/1976)
Die Tautologie läßt sich, wie es sich für eine Tautologie gehört, auch umkehren: Wenn eine Regierung von den Regierten bei ihrer Machtausübung nicht gestört wird, die Bürger sich also die Herrschaft gefallen lassen, dann wird sie offenbar als legitim empfunden. So beweist das pure Funktionieren der Macht ihr höheres Recht. Unzufriedenheit im Volk und Aufruhr dagegen beweisen, dass die Regierung mit ihrer Handlungsfreiheit auch ihr höheres Recht, ihre Legitimität verwirkt hat. Sie hat ihre erste Aufgabe, Legitimität zu erzeugen, vernachlässigt und ist ab irgendeinem Punkt tatsächlich nicht mehr legitim. Spätestens dann, wenn die Revolution siegt. Dann ist die nämlich legitim.
Politikberatung und Loyaltiätskontrolle
Damit es soweit nicht kommt, wird die Politologie praktisch und schreitet zur Politikberatung. Sie bekennt sich offen zu ihrer Parteilichkeit und zum Standpunkt der Sorge um den Erfolg der Sache, die sie angeblich erforscht. Von der Distanz und Unvoreingenommenheit, die das wissenschaftliche Urteilen verlangt, hält die Disziplin ausdrücklich nichts: Weil sie selbst Bürger ihres Staates und von seinem Wirken betroffen sind, erklären sich Politologen außer Stande ihrem Forschungsobjekt objektiv - „wie äußerer Natur“, sagen sie, - gegenüberzutreten; sie bestehen darauf, dass ihnen ihre Gedanken über den Staat nur kommen und nur einleuchten, weil sie als seine engagierten Parteigänger ihre Stimmen erheben. Als solche warnen sie vor „Selbstgefährdungstendenzen der freiheitlichen Demokratie“ durch zu viel Liberalität und vor den Risiken einer „wohlfahrtsstaatlichen Legitimation der Herrschaft“ - in Krisen nämlich, wenn die Loyalität des Volkes am dringendsten gebraucht wird, versagt eine Legitimation, die auf soziale Leistungsversprechen baut. Zur Sicherstellung der von ihnen so kritisch untersuchten Legitimität der Macht werden Politologen zu „Extremismus-Forschern“ und entdecken an den Parteien und Zirkeln, die der Verfassungsschutz unter Kontrolle nimmt, dass solche „selbsternannten“ Eliten für die Demokratie tatsächlich unerträglich sind, weil sie sich all die Eigenschaften anmaßen, die gewählten Trägern der Staatsmacht zustehen: Gewaltbereitschaft, Intoleranz und der Glaube, über Lösungen für die sozialen Probleme zu verfügen. Während sie dem Staat mit Warnungen und der wissenschaftlichen Entlarvung seiner Feinde dienen, untersuchen sie auf der andren Seite den Stand der Loyalität der Massen und beweisen in der empirischen Wahlforschung durch die Korrelation von Wahlkreuzchen mit definierten Segmenten der Bevölkerung die Rationalität der Wahlentscheidung: Sind es die Frauen, die Rentner, die Landbevölkerung oder die mit Abitur, die der Regierungspartei die Treue halten? Wenn sich Schichten finden lassen, die ihr davonlaufen, dann müssen sie auch in ihrer Lage Gründe dafür haben. Oder wenigstens in der Weise, wie sie von den Verantwortlichen angesprochen werden: Wahlforschung findet auch heraus, welche Parolen Eindruck machen und welche ihrer Leistungen die Regierung lieber verschweigt, wenn sie Wähler anmachen will.
Linke Politologen gibt es, wie gesagt, auch. Sie diagnostizieren „Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus“. Sie klagen das vom Staat eingerichtete Wirtschaftssystem dafür an, dass es ihm seine guten Werke schwer macht und am Ende sogar seine Legitimität darunter leidet. Engagierte Sorgen auch dies.
Die Wissenschaft von der Gesellschaft präsentiert sich problematisch. Einführungen und Kurzdarstellungen unterrichten den Novizen von der Schwierigkeit, zu erläutern, welche Sache von diesem Fach eigentlich untersucht wird. Anders als Ökonomen und Politologen, die von einem besonderen Stück Realität als ihrem Forschungsgegenstand ausgehen - um zu legitimatorischen Deutungsmustern zu gelangen, die sie dann auf alles und jedes anwenden -, können Soziologen auf so einen aparten Gegenstand von vornherein nicht verweisen. Sie machen nicht irgendwelche, von anderen Wissenschaften nicht untersuchte Tatbestände zum Objekt ihres Forschens, sondern betrachten, was andere auf ihre Weise sehen, noch einmal anders. Es gibt das vergessene Objekt gar nicht, das noch auf seine Erklärung wartete, statt dessen gibt es eine Theorie auf der Suche nach ihrem Gegenstand: In und hinter den ökonomischen, politischen, pädagogischen, künstlerischen usw. Tatbeständen, die andere abhandeln, suchen Soziologen „das Gesellschaftliche“. Wenn sie ihr „von Anbeginn schwieriges Verhältnis zu ihrem ‘Gegenstand’“[2] - in Anführungszeichen - thematisieren, bekennen sie sich zum methodischen Charakter ihres Fachs: Sie bieten eine Sicht, die sich nicht aus der Eigenart der von ihnen betrachteten Objekte herleitet, sondern aus einer unabhängig davon gewählten Sichtweise, der diese Objekte subsumiert werden. Soziologie studieren, heißt lernen, diesen aparten Blickwinkel einzunehmen. Einführungsliteratur und Proseminare kündigen nicht Wissen über einen Gegenstand an, sondern werben für diese Optik; sie nennen sich „Einladung zur Soziologie“ - und versprechen, den Neuling „ins soziologische Denken einzuführen“.
Ihre Art zu Denken rechtfertigt die Soziologie mit einer Kritik der gesellschaftswissenschaft-lichen Nachbarfächer. Diesen wirft sie keine Fehler vor - so dass sie richtig machen würde, was jene verkehrt machen -, sondern ein Kleben an der Oberfläche. Während sie die Gründe und Theorien, die andere verkünden „auf deren theoretischer Ebene“ durchaus gelten läßt, gibt sie sich zugleich damit nicht zufrieden und blickt dahinter. Talcott Parsons zum Beispiel findet es richtig, die Gesetze der Marktwirtschaft aus Motiven derer zu deduzieren, die in ihr zurechtkommen müssen; auch er kann sich unter einer Erklärung der gesellschaftlichen Objektivität nichts anderes vorstellen, als die Konstruktion eines Menschenbilds, das zu ihr paßt. Deshalb stimmt er der Annahme zu,
„dass das unmittelbare Ziel des wirtschaftlichen Handelns in einer Marktwirtschaft die Maximierung des Netto-Geldvorteils oder allgemeiner, die Maximierung der Differenz zwischen Nutzen und Kosten ist.“
Nicht korrekt findet er, dass Ökonomen diese Motivation als selbstverständlich gegeben nehmen und sich nicht weiter mit ihrer Herkunft und ihren Voraussetzungen befassen; denn als eine letzte, tiefste, mit der Menschennatur gegebene Zielsetzung will er sie nicht gelten lassen.
„Von dieser scheinbar offensichtlichen Tatsache aus gelangte man dann leicht zu der Verallgemeinerung, dass das System durch die ‘rationale Verfolgung des Eigeninteresses’ aller Beteiligten in Gang gehalten werde, und man glaubte, dass diese Formel den Schlüssel zu einer Theorie der Motive des menschlichen Verhaltens, zumindest im wirtschaftlichen und beruflichen Bereich bilde. ... Es ist (jedoch) sicher unberechtigt anzunehmen, dass dieses unmittelbare Ziel ein einfacher und direkter Ausdruck der letzten, motivierenden Kräfte des menschlichen Verhaltens ist. ... Die bemerkenswerte Konstanz und Allgemeinheit der wirtschaftlichen Motivierung ist nicht das Ergebnis einer entsprechenden Gleichförmigkeit der ‘menschlichen Natur’, etwa ihres Egoismus oder Hedonismus, sondern bestimmter Grundzüge in der Struktur sozialer Handlungssysteme.“[3]
Parsons wirft den Ökonomen Borniertheit vor; nicht etwa, weil sie statt Ware und Geld zu untersuchen, über die Motive menschlichen Verhaltens spekulieren und daraus einen menschlichen Sinn der kapitalistischen Ökonomie ableiten, sondern weil sie bei ihrer Motivforschung zu kurz greifen. Was sie gar nicht tun, worauf sie jedenfalls nicht besonders Wert legen, das tut er ausdrücklich, um es ihnen zum Vorwurf zu machen: Er verallgemeinert ihr Fachmotiv zu einer natürlichen Grundkonstante allen „menschlichen Verhaltens“ - und protestiert dagegen. Eine direkte Ableitung der Gewinnmaximierung aus der Menschennatur wollen Soziologen nicht gelten lassen. Und nicht nur die. In einer wissenschaftlichen Umgebung, in der die Darstellung des Erkenntnisobjekts als Ausfluß der Menschennatur generell als seine Erklärung durchgeht, präsentieren sie sich als kritische Aufklärer und vorsichtige Geister: So natürlich und unvermeidlich, wie die anderen Geistes- und Gesellschaftswissenschaftler meinen, sind die von ihnen betrachteten Institutionen, Praktiken und Motive keineswegs. Soziologen schauen über den Rand dieser Gesellschaft und führen das historische und anthropologische Faktum an, dass in anderen Ländern und Zeiten kein Motiv zur Gewinnmaximierung, keine Einehe, keine Herrschaftsbestellung per Wahl zu finden sind und sich auch ganz andere Bräuche ohne weiteres mit der Menschennatur vertragen. Weil Soziologen die von anderen behauptete Gleichsetzung ihrer Forschungsobjekte mit einer unverrückbaren Menschennatur blamieren, haben sie sich den Ruf von Spöttern zugezogen, die herunterziehen, was anderen heilig ist, und die Geltung von Moral, Religion und Recht untergraben, auf denen das Zusammenleben beruht. Tatsächlich gehören der lockere Ton und die gezielte Provokation der gültigen Sitten, Werte und Ideale zum Fach.[4] Seine kritische Botschaft ist: Gesellschaftliche Tatbestände sind nicht natürlich determiniert; sie sind von Menschen gemacht und - setzen Soziologen manchmal hinzu - deshalb veränderbar.“
Wenn sich Soziologen ans Erklären machen, nehmen sie sich ihrer Gegenstände gleich in der abstrakten und methodischen Fassung an, in der sie die Nachbardisziplinen kritisieren. Was Wirtschaft, Staat, Militär, Justiz, Erziehung, Sprache, Wissenschaft sind bzw. worum es auf diesen verschiedenen Feldern jeweils geht, interessiert Soziologen nicht, sie nehmen alles als dasselbe zur Kenntnis - nämlich als lauter Fälle von „bemerkenswerter Konstanz und Allgemeinheit“ des menschlichen Handelns - und fragen sich, wo die Motivation dazu herkommt und ihre Wurzel hat. Jenseits der Zwecke, die die angeführten Institutionen haben – also sowohl jenseits der Interessen, wegen der sich Menschen auf sie und ihre Gesetze einlassen, wie auch jenseits der mit Herrschaftsinstitutionen verbundenen Gewalt und der Zwänge, denen Unterworfene sich auch ohne Interesse beugen -, wollen Soziologen beantworten, warum Menschen, denen es ihre Natur nicht im einzelnen vorschreibt, überhaupt konstant und allgemein handeln. Jenseits von wirklichem Zwang und jenseits von wirklicher, zur Logik eines Feldes gehöriger, Zweckmäßigkeit suchen Soziologen die Antwort auf die Frage: Warum halten sich Menschen an Regeln? Jenseits von den bestimmten Gründen, die es für die „Regeln“ auf diesem oder jenem Feld gibt, gibt es aber gar keine Gründe für sie.
Die Soziologie sieht das anders. Sie weiß ihren Grund für Regeln, ohne auch nur eine einzige Regel und ihren Grund zu wissen: Gesellschaft! Weil Menschen in Gesellschaft leben, halten sie sich an Regeln – egal in welcher Gesellschaft und egal an welche Regeln. Das Gesellschaftliche ist das Regelhafte, Verbindliche, Überindividuelle in ihrem Handeln. Unter dieser Abstraktion von der Bestimmtheit fassen sie alles zusammen, was sie je thematisieren – und dadurch wird ihnen alles gleich: Es ist kein Wunder, dass alles identisch erscheint, wenn weggelassen wird, was die diversen Institutionen und Aktionsfelder unterscheidet: Herrschaft und Macht, Eigentum und Recht werden in einen Topf geworfen mit Verkehrsampeln, den Regeln der Grammatik, den Spielregeln des Kartenspiels und der Allgemeinheit des wissenschaftlichen Arguments. Es ist keine Kunst, unter immer dünneren Abstraktionen immer mehr Stoff zu versammeln, über den dadurch immer weniger mitgeteilt wird. Die Kunst der Soziologen besteht darin, diese dürftige Abstraktion zu der höheren Macht und der „Tatsache Gesellschaft“ zu erklären, um die sich das Leben dreht. Alle bestimmten Institutionen, Zwänge, Regelwerke dagegen setzen sie zum Accessoire herab, das so oder anders ausfallen kann.
Ihrer verkehrten Abstraktion subsumieren sie ihre Gegenstände und betonen gegen deren bestimmte Eigenschaften stets die gesellschaftliche Bedeutung , die sie ihnen beimessen: nämlich dass sie regelgeleitet funktionieren. Dadurch verfremden sie die allgemein bekannten Objekte ihrer Befassung und widersprechen den bewußten Zielen und Zwecken, die die handelnden Personen mit und in ihnen verfolgen. Soziologen klären darüber auf, dass es um das, was die Handelnden meinen und wollen, gar nicht geht, sondern darum, daß sie mit und in ihrem bewußten Treiben bewußtlos etwas ganz anderes vollstrecken – ihre Gesellschaftlichkeit. Das Fach schmarotzt von einer Tradition der Kritik des falschen Bewußtseins und ist dabei das gerade Gegenteil einer solchen Kritik: Es sieht sich nämlich gar nicht in der Pflicht, den Leuten einen Fehler - sei es bei ihrem Handeln, so dass es andere als die beabsichtigten Wirkungen hat, noch an ihrem Denken darüber zu beweisen. Ohne Kritik an der behaupteten Bewußtlosigkeit ist der elitäre Durchblicker so frei, ein „Dahinter“ behaupten und die wirklichen Zwecke zum unwesentlichen Vordergrund zu erklären. Der Alltagsverstand mag sein vordergründiges Bewußtsein ruhig behalten – es ist ja das richtige für ihn und seine Praxis -, Soziologen und ihre Schüler blicken tiefer und verstehen: Der Alltagsmensch meint, er würde einem Schachklub beitreten, weil er Schachspielen will. Fachmann weiß, dass der Schachfreund eine soziale Gruppe bilden will; eine solche Gruppe aber braucht, um sich gegen ihre Umwelt, d.h. gegen andere Gruppen, abzugrenzen, einen unterscheidenden Gruppenzweck und der ist in diesem Fall halt das Brettspiel. Jugendliche mögen Automaten knacken, ihren Mut beweisen und ein paar Mark mitgehen lassen, Soziologen erkennen darin „abweichendes Sozialverhalten“, mit dem die Halbstarken sich vom sonst geforderten regel-konformen Verhalten erholen. Ein Mensch schließlich heiratet, weil er eine Frau haben und eine Familie gründen will, Soziologen durchschauen seinen persönlichen Wunsch und wissen, dass er nur konventionellen, längst vorgezeichneten Verhaltensmustern, Normen und Ritualen gehorcht, die er durch seinen Gehorsam zugleich in Geltung setzt. Der soziologische Durchblick entdeckt gegen die Leute und ihre Absichten einen tieferen Sinn ihres Handelns. Mit allem, was sie tun und was immer sie damit bezwecken, beugen sie sich der vorgegebenen gesellschaftlichen Objektivität und stellen sie dadurch zugleich her. Sie sind in ihrem Handeln ebenso unbewußtes Produkt des gesellschaftlichen Zusammenhangs wie dieser das unbewußte Produkt ihrer Aktionen ist.
Das metaphysische Subjekt, das die Aktionen der Menschen hinter ihrem Rücken determiniert und zugleich von ihnen determiniert wird - das soziale System – ist kein Gegenstand der Erfahrung; es wird herauspräpariert durch die Befolgung methodischer Vorschriften, in denen all die Bestimmungen, die die Wissenschaft herausholt, als Vorurteil schon drinstecken. Wenn der soziologische Theoretiker sich einem Erkenntnisobjekt nähert, dann hat er es als „gesellschaftlich vermittelt“ anzusehen, d.h. er soll es im gesellschaftlichen Kontext sehen und nicht für sich untersuchen. Soziologen warten nicht eine unbefangene Erklärung der Eigenart ihres Objekts ab, um aus ihr auch den bestimmten Zusammenhang oder Nicht-Zusammenhang mit anderem zu bestimmen; vielmehr legen sie vorweg fest, dass es sich durch irgendwelche Zusammenhänge mit allem möglichen anderen zu erklären hat. Dabei kommt es auf die Bestimmtheit des Zusammenhangs nicht an – wie auch, wenn er sich nicht aus der Eigenart beider in Zusammenhang stehenden Seiten ergibt? Das In-Zusammenhängen-Stehen ist das methodische Vorurteil über alle Gegenstände der Sozialwissenschaft, und eben auch das Urteil, das an ihrem Ende herauskommt: In Gesellschaft steht alles mit allem in Zusammenhang, reagiert auf und interagiert mit anderem, bildet ein organisches Ganzes, das seine Teile integriert. Sie könnten ohne ihren Bezug auf das große Ganze nicht sein, was sie sind; und dieses nicht ohne seine Teile. Alles ist zugleich Ursache und Wirkung – System eben.
Frühe Soziologen (Max Weber) haben sich noch mit materialistischen Fachkollegen herumgestritten, ob die „Protestantische Ethik“ – der Glaube, dass der Mensch sich durch harte Arbeit rechtfertigen und das Himmelreich verdienen müsse, - den Kapitalismus hervorgebracht habe, oder ob es sich umgekehrt verhält. Moderne Fachvertreter haben erkannt, dass es für die Botschaft, auf die sie hinauswollen, ganz unnütz ist, Ursachen und Folgen zu unterscheiden. Das sind in ihren Augen veraltete Denkkategorien, die nur zu Streit führen. Sie haben sich davon gelöst und bescheinigen allem, was sie betrachten, sozialen Sinn oder gesellschaftliche Bedeutung. Wenn man es mit den logischen Kategorien nicht so genau nimmt, läßt sich die Religion ohne Schwierigkeit zugleich als Ausdruck des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Systems und als Beitrag zu seinem Funktionieren deuten: Der Glaube an persönliche Schuld und Rechtfertigung erscheint dann sowohl als Wirkung der „Individualisierung“, die die moderne Privatwirtschaft hervorbringt, wie die religiös geheiligten Werte ihrerseits der Stabilisierung der diversen Subsysteme der Gesellschaft nachhelfen.[5] Das Fach hat sich für seinen intellektuellen Bedarf eine eigene logische Kategorie geschaffen, die Ursache, Wirkung, Bedingung, Ausdruck und noch einiges mehr in einen Topf wirft und nur mehr das denkbar unbestimmteste Verhältnis zwischen zwei Dingen anzeigt: Alles Gesellschaftliche ist eine Funktion[6] des Ganzen und hat eine Funktion im Ganzen und für es. Funktion stellt sich, weil sie ja gar nichts Bestimmtes mehr behauptet, ebenso oft ein, wie ein Soziologe eine Sache in Zusammenhang zu einer anderen zu rücken beliebt.
Eine vorläufige Botschaft des Faches steht damit fest – und zwar aus rein methodischen, vom betrachteten Objekt unabhängigen Gründen: Wird das Verhalten der Menschen als Ausdruck der gesellschaftlichen Struktur, die Gesellschaft ihrerseits aber als Ausdruck der Werte und Ideen der Menschen gedeutet, dann passen beide Seiten jedenfalls prima zueinander. Diese Basisideologie, auf die alle bürgerlichen Wissenschaften irgendwie hinauslaufen, kommt in dem Fach, das so viel von Vermittlung quatscht, ohne jede Vermittlung – ohne Nutzen und bestimmtes Bedürfnis - aus: Allein, dass die Leute mitspielen und sich geistig auf ihr Mitmachertum einstellen, beweist, wie gut die „Gesellschaft“ zu ihnen paßt und wie sehr sie ein Bedürfnis nach ihr erfüllen muß.
Das Fach bescheinigt dem „komplexen Funktionszusammenhang“, zu dem es seinen Gegenstand erklärt, - dem System - selbst eine „Funktion“, freilich eine höchst tautologische: nämlich die, zu funktionieren, seinen Bestand und sich in der Welt zu halten. Soziologen fragen „Was hält hochindividualisierte Gesellschaften zusammen?“ (U. Beck), interessieren sich also gar nicht für die Eigenschaften ihres Objekts, sondern für die Bedingungen von dessen Erfolg – allerdings eines Erfolgs, den kein politisches oder wirtschaftliches Herrschaftssystem anstrebt. Ein solches sucht nämlich Erfolg bei seinem Zweck – im Kapitalismus dem Wachstum des Nationalreichtums und der Ausweitung staatlicher Macht. So bescheiden, nur überhaupt fortbestehen zu wollen, sind Herrschaftsordnungen höchstens im kurzen Augenblick der Revolution – und auch dann nicht, weil ihre Ordnung ein System ist und dasselbe leistet, wie das andere System, das sie gerade zu ersetzen droht, sondern wegen der Differenz beider, d.h. wegen der Interessen, die in ihr herrschen, und im Interesse der Klassen, die diese Interessen haben.
In den verschiedenen Antworten auf ihre Frage nach dem „sozialen Kitt“ gewinnt die Soziologie einen Schien von Sachhaltigkeit dadurch, dass sie je besondere Strukturprinzipien der Gesellschaft angibt, denen sie die immergleiche Leistung – das System zusammenzuhalten - zuschreibt. Welche Normen und Sanktionen stabilisieren das Verhalten der Menschen und integrieren die (menschlichen) Elemente ins System? Welche Leistung des Systems stiftet die Ein- und Unterordnungsbereitschaft der Leute und ihre soziale Identität? Daß so etwas vorhanden sein muß, beweist den Soziologen die Existenz der Gesellschaft ja schon vor jeder näheren Befassung. Nach ihren besonderen Strukturprinzipien, aus denen sie das Funktionieren ihres System konstruieren, geben sie schön pluralistisch ein und derselben Gesellschaft immer neue Namen: In den 60er Jahren machten viele die angeblichen geringen Unterschiede im Lebensstandard der Bürger für den sozialen Frieden verantwortlich und sprachen von einer „nivellierten Mittelstandsgesellschaft“; andere führten die Haltbarkeit des Ladens auf ein nützliches Zusammenwirken der organisierten Interessen der gegensätzlichen kapitalistischen Klassen zurück, sprachen von der „Industriegesellschaft“ und der Produktivität ihrer Konflikthaftigkeit. Als in den 70ern das Konsumniveau sogar der Arbeiterklasse anstieg, sprachen Soziologen von einer „Freizeit- und Überflußgesellschaft“, die „postmaterielle Wertorientierungen und Identitäten“ brauche, aber auch auspräge. Heute, wo Arbeitslosigkeit und Verwahrlosung überhand nehmen, entdeckt das Fach die vergangene Phase des Kapitalismus als „Arbeitsgesellschaft“, die ihre Bürger über die Versorgung mit Arbeit integriert und ihnen soziale Identität über die Arbeit und ihre Werte gestiftet haben muß. Die bislang letzte Wendung hat der deutsche Modesoziologe Ulrich Beck herausgebracht. Er nimmt die Welt gleich nur in der Weise zur Kenntnis, wie seine soziologischen Kollegen sie beschrieben haben, als System, das sich dadurch erhält, dass es Orientierung gibt, seine Elemente zuverlässig in soziale vorgegebene Ränge und Kategorien einordnet und integriert. All diese hergebrachten Korsettstangen des sozialen Verhaltens, so seine Diagnose, würden in der „Risikogesellschaft“ mehr und mehr versagen. Das System, das die Fachkollegen skizziert haben, funktioniere nicht mehr; das aber sei kein Nachteil, sondern ein Zugewinn an Freiheit für die Selbstdefinition seiner Elemente: Die Menschen seien gezwungen, die Werte, denen sie gehorchen wollen, die Gruppen, denen sie sich ein- und unterordnen wollen, die Selbstbilder, denen sie nachlaufen wollen, selbst zu wählen und zu definieren und so das gesellschaftliche Funktionieren zu ihrer eigenen Sache zu machen.
Die Funktionen der Gesellschaft sind also lauter Funktionen für sie selbst. Das Fach, das die Kategorie des Nutzens methodisch zum universellen theoretischen Werkzeug erhebt – etwas ist für etwas anderes gut - und damit polemisch hinter die „vordergründigen“ Ableitungen von Staat und Wirtschaft aus ihrer Nützlichkeit für den Menschen zurückgeht, verspricht gar keinen Nutzen der Gesellschaft für ihre menschlichen Mitglieder. Anders gesagt: Von Nutzen kann nur mehr ironisch gesprochen werden, wenn die Gesellschaft nicht durch irgendwelche Leistungen, sondern durch ihre pure Existenz und Selbsterhaltung als Dienst am entsprechend defizitär zurecht konstruierten animal sociale“ gedeutet wird.
Der durch und durch methodische Gedanke von System und Integration formuliert das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft als zugleich unüberbrückbaren Gegensatz und als vollkommene Identität. Die Alternative des Faches - Wird aus individuellen Gründen oder aufgrund vorgezeichneter gesellschaftlicher Imperative gehandelt? - erlaubt keine Vermittlung; und ein bestimmter, also begrenzter und eventuell ausräumbarer Gegensatz von individuellen Interessen und Forderungen des Gemeinwesens wird ja erst gar nicht ins Auge gefasst. Aus demselben Grund ist der besagte Gegensatz zugleich nichtig: Wenn außer dem Formalismus – individuell oder gesellschaftlich - kein Gegensatz thematisiert wird, dann ist auch nicht zu sehen, warum das Individuelle nicht von vornherein identisch mit dem Gesellschaftlichen sein sollte. Das Problem von Individuum und Gesellschaft in einer verkehrten Abstraktion aufzuwerfen, um einmal die von den Leuten gewusste Differenz, ein anderes Mal die gewusste Identität zu dementieren und so die Gesellschaft als prozessierende Lösung des Problems darzustellen, das Soziologen in sie hineinlesen, - das ist die Aufklärung, die das Fach zu bieten hat.
So setzen Soziologen ihren Stolz darein, in ihrer abstrakten Entgegensetzung stets das Gegenteil dessen zu betonen, was im allgemeinen Bewußtsein im Vordergrund steht: Klassen und Schichten, arm und reich dechiffrieren sie als Chancen für das Individuum, sich „sozial zu verorten“, die Unterklasse als soziale Heimat, Gefängnis und Polizei als Orientierungshilfen. Betätigungen dagegen, bei denen sich die Leute ihrer Subjektivität sicher sind – Sprache, Denken, Liebe - entlarven Soziologen als lauter Fälle von Unterordnung unter eine beengende, das Individuelle tilgende Allgemeinheit. Und das alles, um an jedem beliebigen Stoff die soziologische Botschaft von der Identität der Unterordnung des Individuums mit einer Hilfe für es und seine Freisetzung los zu werden. Politologen haben noch eine Ahnung davon, daß Verbot und Strafe negative, gegen Interessen gerichtete Beschränkungen sind, die der Bürger sich gefallen lassen muß, und wissen dafür ihren guten Grund. Soziologen sind einen Schritt weiter, sie erklären die Beschränkung des Individuums selbst zur Hilfe für es und zum Ausdruck seines Bedürfnisses danach. Mit der Gleichgültigkeit gegen den bestimmten Gehalt der Regeln, Sitten, Gesetze, mit der sie sich von anderen Fächern absetzen, sind sie auch ignorant gegen deren Grund und Zweck. Sie weisen den Normen getrennt von ihrem bestimmten Gehalt einen guten Sinn zu: Nicht die bestimmte Norm – die ist wie alle anderen konventionell und ersetzbar – ist ein Dienst am Menschen, sondern, dass es überhaupt Normen und Gesetze gibt und geregelt zugeht. Die Funktion, die Soziologen der Gesellschaft attestieren, ist tautologisch: sie und ihr Regelkorpus leisten nichts als die Verhinderung ihrer Abwesenheit; darin genau liegt der Nutzen für den Menschen, wie Soziologen ihn sehen. Daß die Leute nicht alles dürfen, was sie wollen, ist eine Hilfe für sie: Denn es bringt Sicherheit in ihre Beziehungen, sagt ihnen, was sie zu tun und was sie von anderen zu erwarten haben. Die Regelhaftigkeit der sozialen Welt beschränkt die endlos vielen Möglichkeiten, die das Handeln ohne sie hätte, und hilft dem Menschen dadurch, zu einem bestimmten Handeln zu finden – als ob beim Handelns nichts Bestimmtes gewollt würde und deshalb genau so gut das Gegenteil oder ganz etwas anderes an seine Stelle treten könnte! Sehr direkt landen die Spötter über die Naturgegebenheit des Eigentums, der Einehe usw. also selbst bei der Natur des Menschen; nur bei was für einer. Ihr „animal soziale“ stellen sie sich als einen Chaoten vor, der nichts will und vor lauter Möglichkeiten dessen, was er wollen könnte, gar nicht erst aus dem Bett käme, wenn nicht die Gesellschaft diese Möglichkeiten schon eingeschränkt – ihre Komplexität reduziert hätte(Luhmann).
Alle historischen Herrschafts- und Staatsformen erfüllen diese eine Funktion, Regellosigkeit und Chaos abzuwenden: Sie erhalten sich durch die Integration ihrer Mitglieder und diese dadurch als gesellschaftliche Wesen. Das erspart ihnen die Einsiedelei. Der Nutzen, den die Gesellschaft spendet, beweist die Notwendigkeit der bestimmten Gesellschaft, in der wir leben. Ihren kritischen Auftakt - „Gesellschaft ist von Menschen gemacht, also veränderbar!“ -, ergänzt die Soziologie durch einen kleinen Nachtrag: Es gibt nur keinen Grund dafür! Als System betrachtet leistet eine Gesellschaft dasselbe wie jede andere.
[1] Diese Unterordnung der Subjekte unter eine Eigengesetzlichkeit ihrer gesellschaftlichen Produkte ist es, was Marx den Fetischcharakter der ökonomischen Verhältnisse nannte: Voneinander unabhängige Privatproduzenten produzieren für das gesellschaftliche Bedürfnis, ob und inwieweit sie mit ihrer Produktion ein solches, auch noch zahlungsfähiges Bedürfnis treffen, erfahren sie erst hinterher auf dem Markt in den Preisen, die ihre Waren erzielen: „Die letzteren wechseln beständig, unabhängig vom Willen, Vorwissen und Tun der Austauschenden. Ihre eigene gesellschaftliche Bewegung besitzt für sie die Form einer Bewegung von Sachen, unter deren Kontrolle sie stehen, anstatt sie zu kontrollieren.“ (Marx, Das Kapital Bd. 1, S. 89). Er hielt diese Entdeckung für eine Kritik, nicht nur des Bewußtseins, sondern der Privatproduktion. Die universitären Fächer halten es umgekehrt: Ihre Aufklärung schmarotzt von dem Skandal, gegen den sie nichts einzuwenden haben.
[2] Joachim Matthes, Stichwort Soziologie, Staatslexikon, Herder 1995.
[3] Talcott Parsons, Die Motivierung wirtschaftlichen Handelns, in: ders., Soziologische Theorie, Neuwied-Berlin, 1964, S. 136-139.
[4]
Ohne Schwierigkeit
findet der Leser in soziologischen Schriften beliebig viele ernüchternde
Auskünfte über unsere Gesellschaft, die auf den ersten Blick wie die
Kritik der gängigen Beschönigungen klingen. Ein Beispiel: „In den
Demokratien der westlichen Welt mit ihrer ideologisch besetzten Überbetonung
einer freiwilligen Zustimmung der Bevölkerung zu in ihrem Namen erlassenen
Gesetzen wird die ständige Präsenz der Amtsgewalt entsprechend
unterbewertet. Um so wichtiger ist es, Bescheid über sie zu wissen. Gewalt
ist das eigentliche Fundament jeder politischen Ordnung.“ Peter L. Berger,
Einladung zur Soziologie, dtv München, 1977, S. 81.
[5] Die Gleichmacherei der Soziologie trifft auch die Welt der Gedanken. Die blödeste Religion und die korrekteste Theorie gelten ihr gleich. Ob Gedanken wahr oder falsch sind, ist eine Frage, die Soziologen gar nicht verstehen, sie halten sie schlicht für funktional. Ideologie heißt bei ihnen nicht ein Gedankengebäude, das mit falschen Argumenten nicht vertretbare Verhältnisse rechtfertigt, sondern jede Theorie, weil sie ihr ohne die Prüfung ihrer Wahrheit eine Befangenheit in der und eine Funktion für die Gesellschaft bescheinigen, in der sie entsteht.
[6] Die Schulen der Soziologie, die bisweilen sogar polemisch gegeneinander aufgetreten sind, geben sich ihre verschiedenen Namen durch das Herausstellen der diversen Momente ihres einen und immergleichen Gedankens. Der Funktionalismus unterstreicht die Methode, mit der er die Dinge gesellschaftlich sieht und alles und jedes so in einen Zusammenhänge rückt, dass die soziale Welt aussieht, wie die Systemtheorie sagt. Das soziale System aber braucht, um zusammenzuhalten, ein Prinzip und eine innere Ordnung, dies zu betonen sieht sich der Strukturalismus berufen. Interaktionisten dagegen finden die Idee einer vorgegebenen Ordnung, die ihre Elemente integriert, allzu objektiv, fast wie eine Vergewaltigung der Elemente. Sie erinnern ihre Kollegen, die dies gar nicht bestreiten, daran, dass die Struktur der Gesellschaft die Tat ihrer aktiv interagierenden Elemente ist, die sich selbst integrieren und das System bilden.