Juristen sind eigenartige Menschen: Ganz bewußt kokettieren sie mit der Differenz ihres Tuns und Treibens zum gewöhnlichen Alltag der Gesellschaft. Wenn die angehenden Juristen z.B. im Grundkurs Zivilrecht mit Testamenten konfrontiert werden, die, von Abgestürzten mit letzter Kraft in eine Gletscherspalte gemeißelt, nach 200000 Jahren angeflossen kommen und von den rechtmäßigen Erben – welcher Zufall – auch noch entdeckt werden (formgültig?); wenn sie sich an Hunden die Zähne ausbeißen müssen, die mit Vorliebe die Post verspeisen (zugegangen?), oder ungewöhnlich große deutsche Barfrauen in Tokioer Nachtclubs vorgestellt bekommen, die auf die kleinen Japsen monströs statt – den Anforderungen ihrer Anstellung entsprechend – animierend wirken (Irrtum über die Eigenschaften der Person?) –, dann sollten sich ihnen eigentlich Zweifel am Geisteszustand ihrer Professoren bzw. an der juristischen Logik aufdrängen. Kein Mensch kommt außerhalb der juristischen Vorlesungsräume darauf, sich mit dem Kuriositätenkabinett ernsthaft zu beschäftigen, das die blühende Phantasie der zur Ausbildung des Nachwuchses berufenen Repräsentanten dieser als trocken verschrieenen Fakultät täglich gebiert. Wenn für die Jura-Studenten ein ohne Kopfschütteln und mit dankbarem Schmunzeln erledigter Teil ihrer Ausbildung in der Befassung mit solchen Spinnereien besteht, ist dennoch nicht an ihrem Verstand zu zweifeln. Schlimmer: Sie lernen den ganzen Verstand dafür zu gebrauchen, das Recht anzuwenden.
Wo Professoren der Juristerei ihre Phantasie ausgiebig in der Erfindung von Fällen spielen lassen, die das Leben nicht schrieb, da geht es sicher nicht darum, sich Gedanken über die "Wechselfälle des Lebens" und ihre Gründe zu machen. Man muß sich vielmehr auf den Standpunkt stellen, daß prinzipiell alles möglich ist, um zu lernen, alle wirklichen oder erfundenen Begebenheiten an einem Maßstab zu messen, der mit dem, was in der Welt passiert, gerade so viel zu tun hat, wie der erfrorene Testamentsfanatiker mit einem verunglückten Skifahrer. Es geht im Jurastudium also um die Einübung und Perfektionierung einer Sicht- und Denkweise, die einerseits ignorant gegenüber den Begebenheiten selber ist und diese andererseits sehr interessiert darauf abklopft, welche Gesetze man auf sie anwenden soll. Ein "richtiges" juristisches Urteil hat von vornherein nichts mit dem Kriterium eines wissenschaftlichen Urteils zu tun, ob ein Gedanke stimmt oder nicht; und genau so wenig mit der Unterscheidung "nützlich oder schädlich", die einem praktischen Standpunkt zur Welt eigen ist, sondern stellt eine ganz besondere Haltung der Welt gegenüber dar: Juristen interessiert einzig die Frage, ob die "richtigen" Gesetze "richtig" angewendet werden. Warum das Recht eine so schöne Sache und immer besser geworden sei, solche Fragen sind den Begleitveranstaltungen zum Jurastudium a la Rechtsgeschichte, -philosophie und -soziologie vorbehalten, die dem juristischen Handwerk seine Legitimation samt einem Touch von Teilhabe am sonstigen akademischen Leben verpassen, bei der eigentlichen Berufsausbildung aber störend sind (und deshalb höchstens mal, besonders in Grundlagenveranstaltungen, herbeizitiert werden, um die Verantwortung der Juristen herauszustreichen).
Wie geht juristisches Denken? Während der Alltagsbürger z.B. bei dem nicht ganz alltäglichen Vorfall, daß eine Schwangere angefahren wird und ihr Blag deswegen spastisch behindert zur Welt kommt, sich den Frust vorstellt, körperlich behindert zu sein, oder über den Rowdyfahrer schimpft, der verknackt gehört, muß sich der Jurastudent im Hörsaal von solcher Anteilnahme am "individuellen Schicksal" freimachen – sie weder teilen noch kritisieren, sondern als ungebildete, "rein gefühlsmäßige" oder berechnende Reaktion des "Laien" verachten und ganz anders denken lernen:
"Hat E, der Embryo, einen Anspruch? Anspruchsgrundlage wäre § 823 1.
Problematisch ist aber, ob E überhaupt Träger von Ansprüchen sein kann, ob er überhaupt ein Rechtssubjekt ist, denn § 1 BGB (deshalb kommt so ein Fall am Anfang des Grundkurses) legt fest, daß man erst mit Vollendung der Geburt ein rechtsfähiger Mensch wird."
Wohlgemerkt, mit "Anspruch" ist nicht gemeint, daß das Kind jetzt wohl einige Sachen braucht, um die Behinderung wenigstens zu kompensieren – solche praktischen Selbstverständlichkeiten gelten dem Recht nichts. Vielmehr geht es um einen Rechtsanspruch, also darum, ob das Recht vorsieht, daß das Kind einen Anspruch geltend machen darf – und das ist eine durchaus offene Frage. "Anspruchsgrundlage" ist im rechtlichen Sinne eben nicht die Behinderung, sondern ob sich die für die Inanspruchnahme von irgendwelchen §§ ausschlachten läßt. Der Vorfall als solcher und seine Folgen sind damit vom Tisch; sie sind pures Material für Gesetzesbestimmungen, und das unglücklicherweise nicht ganz normale Baby ist in einen nicht ganz normalen §§-Fall verwandelt (läßt sich das Blag zum Zeitpunkt des Unfalls als ein Rechtssubjekt dingfest machen?), den man dadurch löst, daß man im Schönfelder kramt, ob irgendwelche §§ erlauben, ein Ungeborenes als §§-würdiges und damit anspruchfähiges Geschöpf zu definieren. Das Kind, das nicht weiß, wie ihm geschieht (und nicht nur es), wird ohne Rücksicht auf Verluste mit den Definitionen des Gesetzes verglichen, die vorschreiben, als was die Juristen das Kind theoretisch (und dann eben nicht nur theoretisch) zu behandeln haben, und durch diesen Vergleich zu einem ganz anderen Wesen gemacht, dessen Existenz vom Zutreffen oder Nichtzutreffen von §§ abhängt.
Und der Autofahrer? Vom Ort des Geschehens in den juristischen Hörsaal verfrachtet, wird seine Beteiligung am Unfall nur so und nur insoweit berücksichtigt, wie sie für die Bestimmung des § 823 BGB "erheblich" ist. Die Tatsache, daß er die Frau umgefahren hat, ist nicht das Urteil über ihn (daraus ergäbe sich ohne Recht ja auch gar keine Konsequenz). Umgekehrt: daß er es nicht wollte, schließt vor Gericht seine Schuld nicht aus. Warum er den Unfall verursacht hat, ob er etwa seine kaputten Bremsen wegen Geldmangel nicht reparieren ließ oder nach einem Ehestreit betrunken war etc. – das interessiert den Juristen wiederum nur unter dem Gesichtspunkt, wieweit er bei der Verursachung eine §-mäßig zu erfassende Schuld auf sich geladen hat. Für ihn wird deshalb im Sinne des § 823 BGB die Bestimmung "vorsätzlich oder fahrlässig" "erheblich" gemacht, also nicht die Frage, warum er z.B. trotz Alkohol im Blut nach Hause fahren wollte, sondern einzig, ob er es wollte. Unter dem Blickwinkel des Gesetzes bleibt nur ein abstrakter Wille übrig, – wollte, wollte nicht –, wobei der schlechte Zustand seiner Bremsen, ein nicht ganz klarer Kopf wegen eines vorhergegangenen mittleren Gelages, die Sorge, zur Geburt seines ersten Sohnes zu spät ins Krankenhaus zu kommen usw. als dasselbe gelten. Die heiße Frage ist eben, ob sein Tun und Lassen vom festgelegten Rechtszustand abweicht und als solches vom Juristen "kritisiert" gehört. Vor Gericht zählt eben nicht, was einer getan hat, und auch nicht, was er bewirkt hat; ganz unabhängig von seiner Handlung und deren Konsequenzen wird ein Urteil gesucht. Sein Wille – egal, was er in Wirklichkeit wollte – wird abgesucht nach staatlich Erlaubtem oder Verbotenem. Vielleicht war er sogar berechtigt, die Frau umzufahren – das könnte vom Gesetz her schon sein. Im umgekehrten Fall wird er behandelt, als hätte er das Gesetz umgefahren – und dann ist das Gesetz berechtigt und verpflichtet, ihn zu schädigen, und zwar ganz jenseits davon, ob die durch ihn zu Schaden gekommene Anna samt Mutter davon etwas haben. Man muß sich dieses Hin und Her mal mit einem Maßstab vorstellen, der nicht der höchsten Gewalt entnommen ist – es wäre sofort total absurd!
Noch einmal logisch ausgedrückt: Wenn die Studenten bzw. der Professor den Vorfall in allen Einzelheiten durchhecheln, um diese nur als Material für einen Vergleich mit §§ gelten zu lassen, dann nur, um von ihnen zu abstrahieren und sie tautologisch umzuinterpretieren, so daß ein Rechtsfall daraus wird: Was das Gesetz über ihn festlegt, das ist er und nur das, weswegen man an dem, was er ist, wiederfinden muß, was er eigentlich, nämlich gesetzmäßig ist. Aus der spastisch geborenen Anna wird deshalb im Falle E der nicht eindeutig kodifizierte Rechtsstatus Embryo. Er hat sich den Rechtstatbestand einer "Körperverletzung" zugezogen – eine Krankheit, die nur der § 823 kennt, die aber noch kein Arzt behandelt hat. Dadurch ist E möglicher Anspruchsberechtigter aus § 823. Von Matthias Fahrer (warum trägt er im Juristen-Seminar wohl diesen Namen?) bleibt im Fall bloß seine Eigenschaft "Autofahrer" und im weiteren die Gesetzesbestimmung "Schädiger" und "Anspruchsgegner" übrig, die durch § 823 I als seine Merkmale festgelegt werden. Die Mutter existiert zunächst überhaupt nicht; in einer Extraprüfung kann sie allerdings selbst zur Rechtsexistenz einer "Geschädigten", weil "Körperverletzten" gebracht werden. Aus der Verletzung der Mutter nebst ungeborener Anna ist damit die Verletzung des Gesetzes geworden und die Welt auf den Kopf gestellt.
Ein komisches Denken, das den Sachverhalt alles angeblich "zufälligen und unnötigen Beiwerks" entkleidet, was einen Juristenausbilder zu dem Zugeständnis bewegt, dies erscheine dem Anfänger "sehr abstrakt und lebensfremd", um ihm damit schleunigst das Kopfschütteln seines Alltagsverstandes über diese Sorte Betrachtung abzugewöhnen. Ein Denken, das – mit Verlaub juristisch gesagt – den Tatbestand der arglistigen Täuschung, wenn nicht gar der Beleidigung und absichtlichen geistigen Körperverletzung erfüllt, weil es darauf beharrt, die rechtlichen Kategorien eines Vorfalls seien das Wesentliche, obwohl der Unfall nur zu einem "rechtlichen Ergebnis", einem Fall, wird, wenn man ihm die ganzen rechtlichen Bestimmungen zuschreibt. Niemand ruft bei der Polizei an und meldet eine Körperverletzung mit möglicher Schadensersatzfolge. Nur weil die Welt nach anderen Gesetzen als denen im Schönfelder läuft, braucht es schließlich eine Ausbildung in "Subsumtion", was auf deutsch soviel wie "einordnen, unter einer Rubrik zusammenfassen" heißt, und durch die der Vorfall so zugerichtet wird, daß er unter eine "Rubrik" des Gesetzes paßt (und nicht etwa die Zustände ihren Eigenschaften und ihrem Zusammenhang nach gedanklich geordnet werden).
Daß rücksichtslose Verdopplung und Verkehrung der tatsächlichen Ereignisse ein Kennzeichen ihres Denkens ist, beweisen Juristen nicht nur durch die souveräne Erfindung von möglichen und unmöglichen Geschehnissen für die Demonstration der Gesetzesbestimmungen, sondern auch in der spielerischen Konfrontation ihres normalen Verhaltens als normale Menschen, die sie ja noch sind, mit seinen juristischen Beurteilungen. "Das Mensaessen erfüllt ja heute wieder den Tatbestand einer positiven Vertragsverletzung", "A + B gehen im Park spazieren. Wie ist die Rechtslage?", so kokettieren sie mit der Verrücktheit der juristischen Definitionen, wobei der Spaß gerade auf der Sicherheit beruht, daß das Mensaessen und der Gang durch den Park eigentlich wirklich eine Rechtslage darstellen und jederzeit als solche auch praktisch geltend gemacht werden können. Und auch der Professor spekuliert auf einen Lacherfolg, wenn er in den Anfangsstunden nach der rechtlichen Bezeichnung von Brötchenholen fragt (Kaufvertrag, bei dem Eigentumsübergänge stattfinden). Hiermit, wie mit der Klausur, die Tells Schuß als strafrechtlichen Fall (versuchter Totschlag, gerechtfertigt oder entschuldigt?) behandelt, oder mit der juristischen Interpretation des Faustpakts mit dem Teufel (gültiger Vertrag?), signalisiert er den Studenten nicht nur, daß sich die Leute ihren Absichten nach keineswegs nach rechtlichen Normen bewegen – er denkt schließlich beim Brötchenholen auch nicht an Kaufvertragsprobleme, sondern daran, ob sie knusprig sind –, sondern vor allem, daß die juristische Beurteilung, die sie lernen müssen, verlangt, sich darüber hinwegzusetzen und Wilhelm Tell z.B. als möglichen Totschläger zu behandeln, obwohl jeder weiß, daß Teil erstens ein Geschöpf der Dichtung und als solches zweitens einen Freiheitshelden vorstellt, der bei seinem Schuß alles andere als rechtliche Probleme hatte. Das ist juristische Logik. Und die geht nur, weil sie eine Macht hinter sich weiß, die sie gültig macht.
Das Problem, welches die Studenten mit der noch ungeborenen Anna serviert bekommen, ist also keineswegs, zu ergründen, was es eigentlich mit einem § 1 BGB auf sich hat, der Embryos bestreitet, "andere" im Sinne des § 823 I zu sein, obwohl Anna ein Embryo war, aus dem etwas geworden ist, nämlich die spastische Anna; sondern die Frage, ob sich in der Gesetzeswelt eine Ersatz-Existenz für Anna finden läßt. Wäre sie erst "nach Vollendung der Geburt" überfahren worden, wäre unbestritten, daß nicht nur sie angefahren, sondern mit ihr zugleich ein Rechtssubjekt körperverletzt worden wäre. So wie der Fall aber (natürlich extra) konstruiert ist, schlägt der Anfänger sich mit der Differenz der Alltagswelt, in der es Embryos gibt, die zu Annas werden, zur Welt der §§ herum, in der alle Menschen (nur eben nicht von vornherein Embryos) als Schemen herumlaufen, die erst kraft Gesetz zum Subjekt gemacht werden, vor dem Gesetz alle gleich sind, und nur aus lauter wirklichen und möglichen Pflichten und Rechten, also aus den abstrakten gesetzlichen Definitionen bestehen. Dabei lernt er die "Interpretation" und "Auslegung" der "Normen", d.h. die Kunst, sich in dieser verdoppelten Welt hin und her zu bewegen und das, was ist – Unfälle passieren dauernd – mit dem zu vergleichen, was (nicht) sein soll – mit dem Gesetzespostulat: "Verletzungen des Körpers" sind "unerlaubte Handlungen" und sollen nicht sein. Genauso gut könnte er das Auftreten der Schweinepest mit dem Hinweis kommentieren, es sei verboten! Er ähnelt dem Medizinmann, der jedesmal von Neuem durch angestrengtes Beten – der einschlägige Götze möge es verhindern – die dräuende Naturkatastrophe bespricht, nur daß er es nicht mit außerordentlichen Naturkatastrophen, sondern mit alltäglichen gesellschaftlichen Vorkommnissen zu tun hat, und seine Beschwörungen die Form streng geregelter Subsumtion dieser Vorkommnisse unter feststehende Gesetzesbestimmungen haben, obwohl bzw. gerade weil die §§ nicht die Gesetze des Handelns sind. Die Allgemeinheit des Gesetzes, die den Fortschritt der Gesellschaft ausmachen soll, ist das gerade Gegenteil dessen, was man ansonsten unter einem Gesetz versteht. Solange sich die Erde dreht, saust kein Apfel von sich aus nach oben, sondern fällt brav zu Boden. Solange es aber staatliche Gesetze gibt, gnicht von allein, sondern müssen am und gegen jedes Handeln immer erst geltend gemacht werden, und zwar – wie gesehen – ziemlich rücksichtslos. Die Gesetze liefern den Juristen die Grundlage, gleich-gültig gegen alles und jedes in der Gesellschaft ihr die ideelle Eigenschaft zuzuschreiben, Rechtsordnung zu sein, um dann alles und jedes an diesem idealen Maßstab zu messen. Wenn sie feststellen – welches Wunder –, daß sie ihm nicht entspricht, legen sie daraufhin streng nach den Bestimmungen des Gesetzes fest, daß sie ihm zu gehorchen hat. In den Gesetzestexten besitzen sie also den Schlüssel zu einer Behandlung der ganzen Welt, die jeder Erklärung spottet und für verrückt gelten würde, wenn sie nicht von allen anerkannt geltend gemacht werden könnte und wird.
Wenn also die Juristen, die bewußt ein Tier mit einer Sache verwechseln, die Tätigkeit des Arztes als Körperverletzung behandeln, die so tun, daß auf der Welt alles möglich ist, weil notwendig nur die §§ sind, unter die sich alles Wirkliche und Unwirkliche subsumieren läßt, die jedes wirkliche Geschehen als zufällig ansehen, weil sie von den Gründen absehen und nur den einzelnen, von seinem Inhalt losgelösten Willen in Bezug auf die Gesetzesbestimmungen beurteilen, wenn also diejenigen, die so souverän rücksichtslos mit der Wirklichkeit umspringen, sich auf ihre Objektivität etwas zugutehalten, dann beruht das sicher nicht auf einer Gewißheit darüber, daß sie richtig denken, sondern auf ihrer Sicherheit, daß es darauf ganz und gar nicht ankommt.
Dieser verrückte Idealismus, dem die gesetzlichen Abstraktionen alles, die Wirklichkeit nichts gilt, ist ja – leider! – keine willkürliche Spinnerei, ist weder "weltfremd" und "lebensfern" noch "schematisch", aus dem einfachen Grund, weil hinter ihm die Staatsgewalt steht, die ihm nicht nur seinen Maßstab liefert, sondern ihm auch praktisch Geltung verschafft. Und zwar nicht nur immer dann, wenn die Polizei oder sonstige Vollzugsorgane einschreiten. Der Staat geht einfach davon aus, daß die Leute aufgrund seiner immer schon vorhandenen rechtlieben Gewalt als Rechtssubjekte, die sich prinzipiell nach seinen befohlenen Maßstäben richten, herumlaufen. Und immer, wenn ein Handeln nachträglich oder vorher auf diese Maßstäbe hin überprüft werden soll, treten Juristen auf den Plan. Sie lernen im Studium, sich freizumachen vom subjektiven Urteil, daß die Welt doch so oder so laufen sollte, und stattdessen theoretisch die gewaltsame Beurteilung der Welt, wie sie laut Gesetz sein soll, zu vollziehen und ihre gewalttätige Durchsetzung vorzubereiten. Die Verrücktheit hat also Methode, und die will gelernt sein. Deswegen müssen die Anfänger im "Gutachterstil" ("Hier könnte vorliegen ..., Voraussetzung ist ..., könnte erfüllt sein, wenn") die Verwandlung der wirklichen Welt nach den Buchstaben und dem Geist des Gesetzes Schritt für Schritt vorführen, und dann diese ganzen Abstraktionen wieder rückwärts als gültiges Urteil runterleiern ("Da vorliegt... Voraussetzung erfüllt ist, ... gilt")
So entspricht ihr Idealismus zwar im Prinzip durchaus dem des Medizinmannes, doch während dessen Vertrauen auf den allmächtigen Vitzliputzli selten belohnt wird, können sie sich auf die Staatsmacht bei der Durchsetzung ihres Urteils verlassen. Ihre geistige Leistung besteht also nicht in Argumenten, ist aber schlagend, weil sie getreu den staatlichen Maximen dessen Zuschlagen theoretisch vorwegnimmt und vorbereitet.
Weil der Staat ihren bornierten Urteilen über die Welt den Maßstab liefert und sie praktiziert, besteht das einzige theoretische Problem bei der Fallösung auch darin, sich getreu an diesen Maßstab zu halten, d.h. die Einheitlichkeit der Rechtsauslegung zu beachten. Der Geist des Gesetzes duldet keine Willkür, weil er die allein- und allgemeingültige Willkür des Staates ist. Der Anfänger lernt deshalb den Embryofall in diesem Geiste zu entwickeln:
"Wenn man dem Embryo die Rechtsfähigkeit und damit die Voraussetzung, Ansprüche zu stellen, abspräche, widerspräche das § 1923 II und § 844 II BGB sowie dem in § 218 StGB ausgesprochenen allgemeinen Interesse des Gesetzgebers am Schutz ungeborenen Lebens."
Ein "uneinheitlicher" Maßstab wäre kein gültiger mehr, also muß der Jurist lernen, die Kollisionen von Paragraphen zu beseitigen, während ihn die täglich erlebten und im Gesetz kodifizierten Kollisionen der bürgerlichen Welt kalt lassen müssen. Wer dabei die Entscheidung fällt, ist klar: man hat sich an die geltende Rechtssprechung zu halten, auch wenn man noch so sehr Minderheitsmeinungen diskutiert. Was einmal entschieden ist, ist geltendes Recht, an dem kein Weg vorbeiführt, und jede strittige Auslegung wird früher oder später durch die Entscheidungsgewalt der obersten Gerichte ausgeräumt. Im Verlauf seines Studiums lernt der angehende Jurist deshalb auch, daß die Freiheit, sich im Gestrüpp der §§ einen möglichen Geist des Gesetzes zurechtzulegen, ihre Grenzen nicht nur an den §§ selber hat, sondern mit jedem Grundsatzurteil hinfällig wird. Der Embryofall ist entschieden:
"im geltenden Recht wird der nasciturus pro iam nato habetur, dann, wenn es durch gesetzliche Vorschrift besonders angeordnet ist (vgl. dazu auch §§ 1923 II, 844 II, 2176 BGB). Dabei genießt der nasciturus nach h. M. den Schutz des § 823 I (in analoger Anwendung) auch dann, wenn er z.Z. des Schaden stiftenden Ereignisses (z.B. Verkehrsunfall der Mutter) noch nicht erzeugt (BGHZ 8,243) oder geboren war (BGHZ 58,48)." (Baumann)
Was gilt, gilt eben, auch wenn die Rechtsauslegung – wir leben schließlich in einer Demokratie – als Meinung ausgegeben wird. Es ist die herrschende Meinung, und an deren – keineswegs relativen – Geltung muß sich ein Jurist gewöhnen.
So ist für einen ordentlichen Juristen die Welt in Ordnung, weil er das Gesetz vertritt und dadurch Ordnung schafft. Sein praktischer Idealismus liefert ihm auch die brutale Ideologie, daß die Gewalt der Gesetze ein Segen für die Menschheit und unumgänglich ist, gerade weil sie sich so oft nicht nach ihnen richtet. Die verbundenen Augen der Justitia, Zeichen, daß vor dem Gesetz alle ohne Ansehen der Person gleich sind, hält er für den gesellschaftlichen Fortschritt, und leugnet damit, daß gerade die rechtliche Gleichbehandlung, weil sie von den gesellschaftlichen Unterschieden absieht, diese Unterschiede immerzu erzeugt. Das fällt ja gerade außerhalb seiner Aufgaben. Ob also die spastische Anna überhaupt etwas braucht, der Fahrer etwas hat – er ist stolz darauf, davon abzusehen. Und einen Einwand, ob das denn gerecht sei, wenn die Anna jetzt nichts hätte, aber auch nichts bekäme, weil der eigentlich reiche Fabrikant F., der Fahrer, seine Firma seiner Frau überschrieben hat und angeblich kein Einkommen mehr hat, den Einwand, daß hier ein Rechtsanwalt doch offensichtlich zu einer geschickten Lüge geraten habe, darf man sich in der Juraausbildung nicht lange leisten. "Das ist geltendes Recht. Daran müssen Sie sich halten." Damit wird der Prof jeglichen moralischen Einwand gegen rechtlich korrekte Fallösungen stirnrunzelnd abfertigen und einem nahelegen, das Studium zu wechseln, will man sich diesen bornierten Zynismus nicht angewöhnen, alles zu akzeptieren, was rechtlich ist, mit dem einzigen Argument, weil es rechtlich ist. Daß Anna nichts bekommt, obwohl sie es bräuchte und der Fabrikant es hätte, oder aber der Anspruch von Anna gegen den Fahrer F. zwangsvollstreckt wird, so daß dem bloß sein Existenzminimum bleibt, obwohl sie es als Kind reicher Eltern gar nicht bräuchte, oder aber beide nichts bekommen, weil sie beide nichts haben – dafür hat man blind zu sein. Das ist die Gerechtigkeit der Gleichbehandlung.
Ein ordentlicher Jurist muß gegen die Moral, die für jeden sein Recht fordert und dabei den eigenen Nutzen meint, gefeit sein. Schließlich sorgt das Recht bzw. die Rechtsprechung dafür, daß jeder innerhalb des Allgemeinwohls seinen Nutzen verfolgen kann – woran man bemerken kann, daß dieses mit dem Nutzen für jeden einzelnen nicht zusammenfällt –, eher schon umgekehrt! Mit der Entgegnung, daß jeder zu seinem Recht kommt, hat der Jurist allerdings recht und kann deswegen die Forderung nach mehr Gerechtigkeit auch abschmettern. Daß allerdings deswegen Gerechtigkeit ein Glück sei, stimmt noch lange nicht. Wenn jedermann sein Recht erst bekommt, und es in vielen Fällen gar nicht will, sondern zur Wahrnehmung seines Rechts (z.B. im Gefängnis) verurteilt wird, dann hat nur eine Instanz ein unbedingtes Interesse am Recht: der Staat, der es macht und der in seinen Gesetzbüchern bestimmt, wie und wieweit dabei ein jeder zum Zuge kommt.
Daß die Staatsgewalt mit der Durchsetzung ihres Interesses (also der Durchsetzung des Rechts) einen so unbestreitbaren Erfolg hat, daß sich die Leute bei der Verfolgung ihrer Interessen überwiegend danach richten, was der Staat ihnen erlaubt oder verbietet, macht zwar die Sache nicht besser, verleitet aber einen gestandenen Juristen dazu, sich bei der Pflege seines Stolzes auf seinen Berufsstand zu der Abteilung "Genuß der Differenz zum alltäglichen Bewußtsein der gemeinen Leute" auch noch eine zweite Abteilung zuzulegen.: Genuß der Macht im Rücken der Rechtspfleger, weil die "kleinen Leute" sich ihr unterwerfen und noch ihre moralischen Maßstäbe danach ausrichten.