Praktisch war und ist "Erziehen" immer ein klarer Fall. Die staatlichen Einrichtungen, in denen der Nachwuchs der Pflicht nachkommt, sich die elementaren Voraussetzungen für das Leben in der modernen kapitalistischen Demokratie anzueignen, stehen schließlich ebenso fest wie die Aufgaben des Personals und die Karrieren, in die besagte moderne Gesellschaft ihren Nachwuchs einweist. Wo das Erwachsenwerden so ganz selbstverständlich mit der Bemühung zusammenfällt, den Notwendigkeiten, die die Gesellschaft für die Jugend bereithält und als Reich von Chancen anpreist, gerecht zu werden, verböte sich eigentlich die Vorstellung, "Erziehen" wäre etwas anderes als die zweckgerechte Unterwerfung von Kind & Kegel unter die staatlich beaufsichtigte "Gemeinschaft". Von den Kindern hängt es jedenfalls nicht ab, in welchen Formen sich ihre "Integration" in die Welt von Arbeit und Beruf vollzieht. Ebensowenig aber auch von den trostreichen Selbstdeutungen, mit denen Kindergärtner und Studiendirektoren sich und anderen hartnäckig einreden, die Geschicke der nächsten Generation seien zweifelsohne eine Frage der aufopferungsvollen "Arbeit am Kinde".
Entgegen der Behauptung, die Betreuung unerzogener Kinder sei ein Amt, das höchste Verantwortung nebst Einfühlungsvermögen etc. erfordere, ist nämlich festzustellen, daß es ein solch abstraktes und erhabenes Ding wie "das Erziehen" gar nicht gibt - in der Wirklichkeit wenigstens. Da besteht "die Erziehung" aus Zensuren und Versetzungen, aus Stunden- und Lehrplänen, aus Deutsch und Mathe.
In der Vorstellung der Wissenschaft von der Pädagogik gibt es "die Erziehung" allerdings schon. Und zwar nicht als den wissenschaftlichen Begriff der stattfindenden Erziehung, sondern als das Etikett, welches der vorsätzlichen Selbsttäuschung recht gibt, Erziehung wäre neben Prüfen, Belehren und Benoten noch etwas ganz anderes und zwar viel Höheres, Wertvolleres. Dem Beweis dieses Dogmas widmet die Erziehungswissenschaft ihre ganze Energie.
Den Vorwurf des Idealismus tragen Pädagogen mit Gelassenheit - er ist ihr Programm. Das kündigen sie an, wenn sie sich mitten in einer Welt, in der täglich Erziehung stattfindet, und zwar für durchaus eindeutige Zwecke, die Fragen stellen, ob Erziehung überhaupt möglich und notwendig ist:
"Wieso ist überhaupt davon auszugeben, daß der Mensch erzogen werden kann und muß?" (A. und R. Kaiser, Studienbuch Pädagogik, Grund- und Prüfungswissen, 1981, S.15)
Diese Fragen wollen nichts davon wissen, welche Zwecke die herrschende Erziehung notwendig machen. Vielmehr wird ganz absichtsvoll abgesehen von allen vorfindlichen Einrichtungen und Maßnahmen zur Verfertigung "vollwertiger Gesellschaftsmitglieder". Gesucht ist nämlich ein Grund für Erziehung, der über allen schnöden Zwecken schwebt, die die Erziehungswirklichkeit bestimmen. Gesucht ist also ein so menschlich- allzumenschlicher Begriff von Erziehung, daß Erziehung - wie immer sie stattfindet - schon mal sehr prinzipiell in einem befürwortenswerten Licht erscheint. Daher landen Pädagogen dank ihrer Abstraktion von den jedermann geläufigen praktischen Verlaufsformen des Erziehungsgeschäfts auch bei Erziehungsdefinitionen der folgenden Art:
"Erziehung ... besteht im wesentlichen darin, daß man auffordert, selbst jemand zu werden; hierin stimmt der Erzieher mit dem Zögling überein, denn dieser will immer schon selbst jemand werden." (Fischer-Lexikon)
Der erzieherische Zweck definiert sich hier ganz aus dem Willen des Edukanden. Sein väterlicher Freund gibt vor, gar nichts anderes vom Kinde zu wollen, als dieses von sich selber will. Und weil das Kind dann umgekehrt auch nur sich folgt, wenn es sich "rühren" läßt, ergibt sich das schöne Fazit, daß jeder nur will, was der andere will. In diesem erbaulichen, weil völlig zweckfrei gehaltenen Gebilde, beschwört die Pädagogik einen Begriff von Erziehung, der nichts als Rücksichtnahme auf Kind zum Inhalt hat: Sie will dem Kinde entsprechen. Sie will ihm also partout nichts "Fremdes" hinzufügen, sondern nur den Schliff geben, den es immer schon hat. Dieser Unzweck gilt Pädagogen nicht als Widersinn, sondern als hohes und leicht zerbrechliches Ideal, dem Erziehung immerzu nachstreben muß.
So schaffen es die hochgesinnten Denker, dem bürgerlichen Erziehungswesen ein vortreffliches Zeugnis auszustellen, ohne daß dafür auch nur die Kenntnisnahme einer der gültigen Erziehungsmaßnahmen von Nöten wäre: Im Prinzip, so ihre Auskunft, ist die herrschende Bildung nichts als eine besondere Ausformung jener ganz landorientierten Erziehung überhaupt. Und als solche ringt sie immerzu um den harmonischen Begriff von Erziehung, den sich die Pädagogik in der lichten Höhe des idealistischen Denkens ersonnen hat. Aber natürlich nur "im Prinzip": Denn niemand jammert so gerne über die "schlechte Erziehungswirklichkeit", wie die Pädagogenzunft selber. Allenthalben wird nämlich abgewichen von dem, was Erziehung eigentlich ist. Eine Kritik, die nur die Ideologie bestätigt, ein ganzer Berufsstand ringe mit nichts anderem als "kindgemäßer" Erziehung und die Schwere der hehren Aufgabe unterstreicht:
"Ach wie schwierig ist es, das Kind nicht zu überfordern! "Die bürgerliche Erziehung ist eben so besehen nichts als eine mögliche Bewältigung der hohen, aber schweren Aufgabe namens kindgerechter Erziehung. Und jeder vom Staat an sein Erziehungswesen erlassene Auftrag gilt als mehr oder weniger gelungener Versuch, dem Kind gerecht zu werden.
Wer pädagogisch denkt, reflektiert sein Geschäft also ganz verkehrt: Jeder bemerkte Gegensatz zwischen den Aufgaben eines Erziehungsbeamten und den Interessen der Schüler wird erschlagen mit dem Bild von zwei "Interaktionspartnern", die letztlich am selben Strang ziehen. Und schon erscheint es in ganz neuem Lichte, wenn pädagogische Praktiker ihre Amtsgewalt zur Durchsetzung des staatlichen Erziehungauftrags einsetzen; Findet hier nicht die völlig unnötige Verletzung einer eigentlich vorhandenen Übereinstimmung statt, weil der Lehrer z.B. unfähig ist, die Schüler ordentlich zu motivieren? Oder tun die Praktiker nicht ,was sie tun, vielleicht nur deshalb, weil "Führung" nötig ist, um dem Kind zu seinem Besten zu verhelfen?
Nur Rücksichtnahme will die Pädagogik sein. Einen einzigen Dienstherrn will sie nur kennen, nämlich das Kind. Entsprechend idealistisch gerät der Pädagogik das "Wesen" des Kindes. Kaum horcht sie hinein in die Kindsnatur, hört sie nichts heraus, als einen Ruf nach Pädagogik. Eine wunderschöne Natur ist geboren, die nur im Passiv existiert, also nach pädagogischer Formung schreit. Was ist der Mensch, der kleine zumal? Angewiesen auf Erziehung! Er muß und will erzogen sein.
Für die Ausmalung dieser kindlichen Natureigenschaft ist vor allem die pädagogische Anthropologie zuständig. Sie schafft es, einen prinzipiellen Einklang von Erzieher und Zögling zu konstruieren, indem sie das "Gattungswesen" Mensch im Vergleich zum Tier ziemlich erziehungsbedürftig aussehen läßt:
"Der Mensch reift im Mutterleib zur Stufe des Nestflüchters, des Füllens oder des Kälbchens mit offenen Sinnesorganen und ausgebildetem Bewegungssystem heran. Trotzdem, und das unterscheidet ihn von anderen hohen Säugetieren, ist das Kind bei der Geburt wesentlich hilfloser als zum Beispiel das Fohlen, das Kalb oder das Elefantenjunge. " (Funkkolleg Erziehungswissenschaft 3, S. 52)
"Es gibt also eine generelle Notwendigkeit für die Erziehung. Diese allgemeine, d.h. unabhängig von den jeweiligen kulturellen und geschichtlichen Verhältnissen bestehende Notwendigkeit (die prinzipielle Erziehungsbedürftigkeit des Menschen) geht auf einen natürlichen Tatbestand zurück. Im Unterschied zu den Tieren, vor allem zu den höheren Säugetieren, verfügt der Mensch bei seiner Geburt nämlich nicht über all das, was er zu seiner rein physischen Lebenserhaltung braucht." (Giesecke, Einführung in die Pädagogik, S.17)
Diesen Mensch-Tier-Vergleich einmal ernstgenommen, bliebe dem Erwachsenen nichts anderes übrig, als dem Neugeborenen auf die Stufe eines Jungtiers zu verhelfen. Erziehung bestünde dann im Verabreichen der Flasche und Laufenlernen. Aber so ist das natürlich nicht gemeint. Weder soll man diesen, den Schein biologischer Gesetzmäßigkeit suggerierenden Bildern entnehmen, daß man es als Erzieher am besten den Rabenmüttern gleichtut und das Menschenjunge aus dem Nest schmeißt. Noch soll überhaupt irgendeine konkrete Erziehungsmaßnahme wie Milchflasche, Windel, Laufstall und Puppenstube begründet werden. Hergeben soll der Verweis auf den hilflosen Säugling nämlich viel mehr. Ganz auf sich gestellt käme das Menschlein nie in "der Welt" zurecht -also muß ganz überhaupt Erziehung sein. Dabei könnte einem schon noch auffallen, daß der Maßstab völliger Unfug ist, der Kinder und Viecher gleichermaßen daran mißt, wie sie "die Welt" bewältigen. Denn im Unterschied zu Tieren sind Kinder eben keine bloße Natur. Deswegen werden sie auch noch in jeder Gesellschaft auf irgendeine Weise auf die Aneignung von Natur vorbereitet. Sie müssen also gar nicht in einer Tier-Welt zurechtkommen, sondern in einer -im übrigen gar nicht allgemeinmenschlichen - Gesellschaft samt ihrem Erziehungswesen, in der ganz bestimmte Zwecke gültig gemacht sind. Aber einem Anthropologen zu sagen, er solle sich doch mal dieser theoretisch zuwenden, wäre wirklich verfehlt. Er ist ja gerade auf die Abstraktion von allen gültigen gesellschaftlichen Anforderungen an den Nachwuchs scharf, um dem Menschen Erziehung überhaupt als Naturnotwendigkeit anzudichten. Und nur dafür wurde der Pseudo-Vergleich mit der Tierwelt überhaupt erfunden.
Die erste Antwort des Pädagogen auf die Frage." Wie müssen wir erziehen?" lautet also: "Wir müssen erziehen!" Diese Antwort, die eigentlich zirkulär zur Frage zurückführt, leistet jedoch einiges: So hat der Pädagoge aus einer Eigenschaft des Kindes, die es gerade nicht hat -es ist nicht erzogen - einen Auftrag für sich selbst gestrickt. Und dieser enthält erstens einen Freibrief für die Erziehung; Sofern es sie gibt, ist sie schonmal durch die Menschennatur gedeckt, was immer sie vorhat. Zweitens hat der Auftrag den Vorzug, daß er nicht nur so einfach vom Pädagogen in die Welt gesetzt wurde, sondern aus seinem Dienstherren, dem Kind selbst "abgeleitet" wurde. Jetzt sagt eben nicht nur der Erzieher, daß das Kind ihn braucht. Jetzt sagt es angeblich das Kind selber. Und dafür braucht das Kind dankenswerter Weise gar nichts zu sagen. Durch seine bloße Existenz ist es ein lebender Schrei nach Pädagogik. Das ist deshalb besonders wertvoll, weil so der Erziehungsauftrag des Pädagogen durch den kindlichen Auftraggeber die höhere Weihe bekommt.
Gott sei Dank fordert das Kleine nun nicht nur, sondern hat auch einiges zu bieten: Zur Erziehungsbedürftigkeit gesellt sich die Erziehbarkeit:
"Man kann offenbar den menschlichen Säugling nicht nur als ,Mängelwesen' definieren, wie es Gehlen versucht hat, so sehr das eine Seite seiner Unterschiedenheit vom Tier wirklich trifft. Die Mängel an angeborenen Fähigkeiten und Instinkten werden überspielt von der positiven, den Menschen auszeichnenden Gabe - und das ist die wichtigste Interpretation dieser biologischen Fakten -: nämlich von einer unendlichen Lernfähigkeit." Dabei ist gerade die "Hilflosigkeit des sekundären Nesthockers, zugleich die Bedingung für seine Soziabilität" (Funkkolleg Erziehungswissenschaft 3, S. 53/54))
Es ist also der "Mangel" selber, das zugleich das ganz große "Plus" enthält. Gerade weil das Kindlein noch so "unfertig" ist, kann es erzogen werden. So verfertigt die Pädagogik aus der zunächst begeistert vorgestellten Negativ-Bestimmung, nach welcher das Kind dringend der Erziehung bedarf, eine Positiv- Bestimmung. Und schon ist es seine Wesenseigenart, tatsächlich erzogen werden zu können.
Die Albernheit dieser sehr ernst gemeinten Feststellung, daß Erziehung - die doch offenkundig ständig stattfindet - tatsächlich möglich sei, gibt für den Pädagogen durchaus einen Sinn. Nun dürfte ihm doch niemand mehr vorwerfen können, an das Kind etwas heranzutragen, was nicht voll und ganz dessen innerstem Wesen entspricht: Weder ist es allein auf seinem Mist gewachsen, daß das Kind der Erziehung bedarf, noch kann er, der Pädagoge, in den Verdacht geraten, dem Kinde einen notwendigen Dienst angedeihen zu lassen, der diesem vielleicht, mangels Lernfähigkeit, schlecht bekommen könnte.
All dies ist jedoch allein auf seinem Mist gewachsen, und so läßt ihn der Verdacht, es ließe sich bei dieser theoretischen Ausgestaltung der Erziehung immer noch an Absichten von Erziehern denken, nicht ruhen. Da gerät selbst die Vokabel "erziehen" in Mißkredit, weil sie immer zwei getrennte Seiten impliziert: eine, die erzieht, und eine, die erzogen wird. Am liebsten möchte der Erzieher auch noch diese Vorstellung aus der Erziehung theoretisch verbannen. Nur wenn er sich das ganze Geschäft zwecklos, d.h. ohne Zwecke setzende Subjekte und den Zwecken zugeführte Objekte, vorstellen kann, scheint er zufrieden zu sein.
So kann es denn vorkommen, daß aus dem "erziehen" ein "lernen" wird, in welchem der Erzieher gar nicht mehr vorkommt:
"Lernen und Lernfähigkeit verhalten sich zueinander wie Akt und Potenz im gleichen Subjekt. Die Lernfähigkeit ist die den Akt des Lernens ermöglichende psychische Disposition ... Erziehen und Erziehbarkeit sind dagegen nicht im gleichen Subjekt lokalisiert, sondern Erziehen im Subjekt und Erziehbarkeit im Objekt." (Brezinka)
Am besten also sucht man nach schönen Wörtern, die an einen Unterschied zwischen Kind (educandus) und Erzieher (educator) aber auch wirklich nicht mehr denken lassen. "Lernhelfer" soll der Lehrer sein, "Entwicklungshelfer", einer "Hebamme" gleich, die nur ans Licht holt, was schon da ist, oder einem "Weingärtner", der den ihm anvertrauten Stock hegt und pflegt.
Eines scheint da ausgeschlossen: dem Kind etwas zu erklären oder beizubringen, weil man es für richtig und wichtig befindet. Für einen Pädagogen ist umgekehrt der Erzieher - obwohl er doch sein muß - da am nützlichsten, praktischsten und kindgerechtesten, wo er gar nicht mehr vorhanden ist: "Zugleich ist das Ziel rechter... Führung, sich selbst zunehmend überflüssig zu machen." (Fischer-Lexikon) Sollen sie sich doch mal entscheiden! Auf der einen Seite dieser totale Auftrag - bekanntlich ist der Mensch ohne Erziehung ein Nichts -, und dann dieser Kleinmut bei der Bestimmung des Erziehungsgeschäfts: Nichts soll auf den Erzieher als das den Auftrag erfüllende Subjekt, das eigene Vorstellungen verfolgt, verweisen dürfen.
In ein solches Dilemma gerät man natürlich nicht, weil man die schlichte Wahrheit über Erziehung, die eben nie ohne die Durchsetzung des erzogenen gegenüber dem ungebildeten, kindischen Willen auskommt, nicht ertragen könnte. Dieser unausbleibliche Gegensatz ist nämlich erkennbar von recht harmloser Natur und löst sich ohnehin auf, wenn beim Kind das Interesse am Begreifen der Welt entsteht, welches nun einmal nicht ohne den Ersatz der spielerischen Geistestätigkeit durch die Verstandesdisziplin befriedigt werden kann. In ein solches Dilemma gerät man vielmehr nur, wenn die Durchsetzung des erzogenen gegen den ländlichen Willen gleich in der Form des staatlichen Erziehungsmonopols mit Schulpflicht, Notenzwang und verbeamteter Erziehungsgewalt existiert. Nur deshalb werden die theoretischen Bemühungen, die Erziehungspraxis auf das pädagogische Ideal hin zu bürsten, also als Hilfe im Namen des -kindlichen Willens vorzustellen, bei Pädagogen ziemlich intensiv.
Man sieht: Die Pädagogik ist eine einzige Problemwelt, die sie sich mit ihrer Erfindung der Doppelnatur des Kindes selbst eingebrockt hat: Führen im Dienste des Kindes. Also formuliert sie ihren sehr universellen Führungsanspruch, jenes so ganz naturgesetzlich und grundsätzlich zurechtdefinierte Identitätsverhältnis der beiden Seiten der Erziehung, als Identitätsproblem, mit dem alles und jedes behelligt wird. Mit Kritik ist dieser kunstvoll inszenierte und als Wissenschaft durchgeführte Zweifel natürlich nicht zu verwechseln. Mit einem schlechten Gewissen auch nicht. (Das überlassen die Pädagogen den Alternativpädagogen.) Allerdings reicht der Zweifel dazu, der Pädagogenschar ein kritisches und selbstkritisches Standesbewußtsein zu verpassen. Der Widerspruch von einer Menschennatur, die immer erst noch zu sich selbst gebracht werden soll und muß, verleiht ja von sich aus dem ganz abstrakten Harmoniegedanken den Charakter einer unermüdlichen Sorge ums Gelingen, um das es angeblich in der realen Welt bereits geht, das aber noch nicht, noch nicht ganz, vielleicht noch nicht - ideal ist. Auf dem Weg dazu ist man bei aller Kritik aber allemal: Schule - vorsorglich nicht als staatliche Institution gedacht - versündigt sich am Ideal des harmonischen Miteinander, wenn sie zu kräftig die Schüler sortiert; und am liebsten würde man sich eine Schule vorstellen, die ganz ohne jene, ziemlich begriffslos verurteilte Auslese auskommt. Daß Sortierung der Kleinen auf die Schulhierarchie und damit Berufshierarchie hierzulande gerade den Witz an der Schule ausmacht, lassen Pädagogen da ganz vornehm außen vor.
Kein Pädagoge stellt sich auf den Standpunkt, den Kindern nichts beibringen zu wollen, aber das Ansinnen, den Schüler ( = direktes Objekt, Akkusativ) schlicht zu lehren, was man besser kann, gilt wegen mangelnder Schülerorientiertheit als absurd bis gefährlich:
"Schüler haben in den meisten Theorien tatsächlich bloß den Stellenwert von Objekten." (Peterßen)
Nicht der Stoff, sondern der Schüler gibt der rechten Betrachtungsweise das Kriterium, und auch wenn der Schüler etwas noch nicht weiß, anknüpfen will man an ihm:
"Schülerorientierte Didaktik ist die Theorie der Analyse und Konstruktion von Lehr-Lernzielen im Interesse des Lernenden. Das noch weitgehende ungelöste Problem ist dabei die Frage, wie der Lehrer - stellvertretend für den Schüler - dessen subjektive wie objektive Interessen zu bestimmen hat." (Reinert)
Eine schier unendliche Reihe von unlösbaren Problemen ihres Identitätsideals tut sich auf, und keiner ist darüber so froh wie der Pädagoge.
Der Schein der Nützlichkeit, den man sich angesichts dieses Konstrukts eines unendlich problematischen Verhältnisses denken soll, ist sehr total. Den Idealismus des zwecklosen Zwecks, der nur Rücksichtnahme ist, versieht der Pädagoge nämlich mit Erziehungszielen, die in ihrer Abstraktion an .realistischer' Parteilichkeit nichts zu wünschen übrig lassen. Jetzt zeigt sich, was mit der Hilfestellung zum "Zurechtkommen" gemeint war. Verhaltens- und Handlungsfähigkeit heißen die gelehrten modernen Namen für die Tugend der Lebenstauglichkeit, die alle gegebenen Maßstäbe der bürgerlichen Welt unterstellt, es aber als genuinen Zweck des Zöglings ausdrückt, ihnen gerecht zu werden. Lebenstüchtigkeit soll als höchstes Erziehungsziel das unwidersprechliche Interesse des Kindes sein, dem sich jede erzieherische Handlung bloß unterwirft. Die Leistung eines ganzen Berufstandes zeigt sich daran, für diesen Opportunismus harmonische Namen zu finden. Die reichen von so "kritischen" Idealen wie "Selbstbestimmung" bis hin zum Lob des "Einordnens". Zum einen gibt man damit kund, daß man es für wünschenswert hält, wenn der Mensch verstehen lernt, was er tun muß, zum anderen ist man gleich so felsenfest von der Identität von Menschennatur und gesellschaftlichen Ansprüchen überzeugt, daß man biologische Metaphern für angebracht hält, die das Anpassen der Funktion von Lunge und der Leber vergleichbar machen:
"Die erziehende Generation von Menschen hat immer schon von ihrer eigenen Nachkommenschaft begründbar gefordert, daß sie über ein noch unverstandenes, unreflektiertes, unkritisches Verhalten und dessen Einübung ein Organ (!) erwirbt für die Bewältigung der vor ihr liegenden Lebens- und Berufsaufgaben." (Schlederer)
Praktisch sind diese Ideale bezüglich des durch Pädagogik zu stiftenden Nutzens allerdings nur in einer Hinsicht: Sie festigen das pädagogische Selbstbewußtsein vom guten, großen und schweren Auftrag des Erziehens.
Denn dessen Erfüllung verlangt, wie man hört, die Berücksichtigung nicht nur des Kindes und seiner "objektiven" Interessen, sondern ebenso auch der Bedingungen, die verhindern (könnten), daß besagte Interessen ans Tageslicht kommen. Und dann ist auch noch jedes Individuum unverwechselbar. Angesichts dieser Schwierigkeiten, die sich die Wissenschaft gewissenhaft zusammenkonstruiert, bekennt sie sich ehrlich zu den Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit: Zwar ist sie
"an übertragbaren, verallgemeinerbaren Erfahrungen interessiert." Aber "es ist unmöglich, das allgemein sich ändernde und von Fall zu Fall ganz unterschiedliche Geschehen in einem einzelnen Erziehungsvorgang zu untersuchen und dann zu sagen, was passiert, wenn man etwas Bestimmtes tut." (Schiefele)
Also verkündet sie dem Praktiker im Einzelfall bescheiden, daß er letztlich ganz auf sich allein gestellt ist und schlicht und einfach pädagogisches Fingerspitzengefühl benötigt. So ergibt sich die paradoxe Situation, daß erziehungswissenschaftlich geschulte Pädagogen theoriefeindlich werden müssen gegenüber sog. objektiven Analysen, schließlich haben sie es mit unberechenbaren Menschen zu tun und sind auch noch selbst Menschen:
"Da aber nur Menschen erziehen können, macht diese Doppelheft des menschlichen Lebens, reflektierendes und zugleich handelndes Wesen zu sein, notwendig die Zweipoligkeit der Pädagogik aus. Der Pädagoge kann sich nicht aus dem Zusammenhang entlassen, in dem er handeln muß." (Gamm)
Wissenschaftliches Ergebnis ist so die Ausmalung von höherer Pflicht und Verantwortung, die der Dienst am jungen Menschen dem Erzieher auferlegt - ein Schwindel, mit dem er sich zur Pose des Selbstmitleids ebenso berechtigt fühlen kann wie dazu, dieselbe für Kritik zu halten: Eine Kritik, die die einzig realen Gegensätze, mit denen es ein Lehrer jemals zu tun bekommt - die zwischen ihm als pädagogischem Staatsbeamten und den ihm verpflichteten Schülern -, und seine Schwierigkeiten bei der Durchsetzung der vorgeschriebenen Zwecke an den Schülern, als durch vielerei Zufälligkeiten und Bosheiten verstelltes, eigentliches harmonisches Miteinander von Kind und Kindesinterpreten deutet: Der Staat macht dauernd Vorschriften, die Schüler sind kein gutes Material und entsprechen ihrem Begriff nicht, manch anderem Erzieher fehlt die rechte Einstellung, etc.
Wer diese vielfältigen Probleme mit Engagement als solche würdigt und überhaupt glaubt, daß Erziehen ein einziges Problem ist, der kann sich dann bescheinigen lassen, ein geborener Pädagoge zu sein. Auch eine Leistung der Wissenschaft!