Das Erziehungsziel der Erziehungsziele: Selbstbestimmung

1.

Erkundigt man sich in der Erziehungswissenschaft, was denn Zweck und Absicht der Erziehung sei, so erh�lt man die merkw�rdige Auskunft, Erziehung sei - ihrem Wesen und eigentlichen Sinne nach jedenfalls - eine ganz und gar selbstlose Angelegenheit: Nur dem werdenden Menschen verpflichtet, will sie nichts als Hilfe f�r ihn sein, er selbst zu werden. Wenn sie Erziehungsziele nennt, fangen diese dann gern mit "Selbst-" an: "Selbstfindung", "Selbstverwirklichung", "Selbstverantwortung" etc. So erkl�rt ein "Studienbuch P�dagogik" (Kaiser/Kaiser) im Kapitel "Erziehungsziele" Selbstbestimmung zu deren allgemeinem Begriff:

"Damit bezeichnet Bildung als allgemeines Ziel der Erziehung einen Pers�nlichkeitszustand, der den einzelnen bef�higt, sein Handeln auf Einsicht und Sachkompetenz zu gr�nden und es kritisch-pr�fend unter dem Prinzip der Selbstbestimmung zu verantworten." (S. 65)

Ein seltsames "Prinzip". Zun�chst einmal merkw�rdig umst�ndlich. "Selbstbestimmung" soll offenbar nicht einfach hei�en, da� ein jeder dar�ber entscheiden m�ge, was er zu tun und zu lassen gedenkt. Er soll es vielmehr "kritisch-pr�fend unter dem Prinzip der Selbstbestimmung verantworten"! Und das ist schon etwas g�nzlich anderes. Offensichtlich soll sich der Mensch bei jeder Handlung, die er verrichtet, die Frage vorlegen, ob denn da wirklich sein Selbst zum Zuge gekommen ist. Er soll sich folglich in allem, was er tut, vor einer Instanz verantworten, die - merkw�rdigerweise - er selbst bzw. sein Selbst ist. Wieso das, wo doch au�er Frage steht, da� sein Tun auf jeden Fall sein Tun ist? Warum soll er sich fragen, ob wirklich er selbst es gewesen ist, wenn er in den Urlaub gefahren ist, ein Auto gekauft oder sich neu verliebt hat?

2.

F�r die Erziehungswissenschaft hat diese Absurdit�t, das zweifelsfrei feststehende Subjekt einer Handlung zu verd�chtigen, da� es gar nicht das Subjekt dieser Handlung gewesen sei, Methode. Sie leistet sich sehr systematisch den Verdacht, da� in den Verrichtungen des Subjekts gar nicht sein Selbst, sondern etwas diesem Selbst Fremdes zum Ausdruck gekommen w�re. Damit meint sie nicht den Umstand, da� in der Tat die Menschen in den meisten ihrer Verrichtungen Notwendigkeiten folgen, die ihnen gegen�ber als Pflichten und gesetzliche Vorschriften aufgemacht sind: Man mu� eben Geld verdienen, man mu� in die Schule gehen, man mu� f�r jeden Plunder den geforderten Preis zahlen usw. So gesehen w�ren in der Tat mindestens 80 % der t�glichen Entscheidungen "fremdbestimmt". Und F�lle von Ungehorsam gegen diese und andere Auflagen des Alltags w�ren geradezu Musterbeispiele f�r das Erziehungsziel "Selbstbestimmung". Nach eigenem Bed�rfnis sich in der Ladenkasse bedient, die Schule geschw�nzt und in gepflegten Parkanlagen Fu�ball gebolzt - wird man dann f�r gegl�ckte "Selbstbestimmung" begl�ckw�nscht?

3.

So ist das nat�rlich nicht gemeint. Umgekehrt w�rde der P�dagoge hier reichhaltiges Material f�r seinen Verdacht finden, da sei "Fremdbestimmung" am Werke gewesen. Und zwar einfach deswegen, weil er mit diesen dezidierten Willens�u�erungen nicht einverstanden sein kann. So .fragt er, ob der Sch�ler nicht durch "Werbung zum Konsumterror verf�hrt" oder "durch Gruppenzwang seiner Clique manipuliert" worden sei. Kurzum: er entdeckt �berall dort, wo der ihm anvertraute Nachwuchs aus der Rolle f�llt, "geheime Verf�hrer", welche ihm zweifelsfrei beweisen, da� sich das Handeln des Sch�lers der Wirkung eines fremden Einflusses verdanke. Da k�nnte so ein Sch�ler noch so sehr protestieren und darauf verweisen, da� der Griff in die Ladenkasse der Taschengeldknappheit und das Schuleschw�nzen einer tiefen Schulunlust geschuldet sei. Der P�dagoge wei� es besser: Mit der Konstruktion, jedes willentliche Handeln eines Menschen nach "fremdbestimmt" und "selbstbestimmt" zu sortieren, liegt n�mlich die entscheidende Frage, was denn nun "fremd" und was "selbst" sei, praktischerweise ganz beim P�dagogen. An der bestimmten Handlung ist diese Unterscheidung n�mlich ebensowenig auszumachen wie an den Willensbekundungen der handelnden Subjekte. Es obliegt folglich ganz der Instanz, die den Verdacht vom "fremdbestimmten" Handeln theoretisch in die Welt gesetzt hat, hier Ma�st�be zu setzen. Beweisbar sind solche Verd�chtigungen nie und nimmer. Beweiskraft sollen sie dadurch erhalten, da� der P�dagoge bei seinen Sortierungskriterien das �blicherweise erw�nschte und gesellschaftlich geforderte Verhalten auf seiner Seite hat.

4.

Den Sch�lern treten solche Sortierungskriterien in Wirklichkeit als Vorschriften in Schule, Familie, Warenwelt oder Betrieb gegen�ber. Bei deren Befolgung hilfreich anzuleiten, darin sieht Erziehung zur Selbstbestimmung ihre Aufgabe. Deshalb warnt die P�dagogik auch immer davor, Selbstbestimmung mi�zuverstehen:

"Denn Selbstbestimmung hei�t nicht, sich frei machen von ethischen Wertvorstellungen, sondern Ausrichtung des Selbst auf der Grundlage eines Wertesystems und kritisches Handeln im Sinne dieser Wertvorstellungen." (Theo Dietrich, Zeit- und Grundfragen der P�dagogik, 1988, S. 73)

Den "Normen" folgen, und zwar "aus sich heraus", also ohne gr��ere p�dagogische Nachhilfe, das zeichnet ein selbstbestimmtes Individuum aus. Einen guten Grund, warum das so sein mu�, hat sich der P�dagoge auch noch zurechtgebastelt: Vorschriftenkataloge und Regelwerke sind f�r ihn n�mlich nicht der Ausdruck bestimmter gesellschaftlicher Interessen, sondern Ausdruck von Moral. Und als diese Moralismen sind sie nat�rlich dem innersten Wesen des Menschen abgelauscht. Denn der w�re ohne Moral v�llig aufgeschmissen, was man schon an den Tieren sieht:

"Die Verhaltensforschung geht in der Tat davon aus, da� bei h�heren Wirbeltieren das Sozialverhalten 'wie durch Gebote geregelt' (W. Wichler) sei und spricht von 'moralanalogen Verhaltensweisen'. (K. Lorenz).

Den moralischen Geboten nicht zu folgen, kann daher nicht "menschengem��" sein: Wo doch schon die Tiere einen Moralersatz haben, braucht der Mensch ja wohl Moral als Instinktersatz ! Das ist denn auch der Witz am Erziehungsziel "Selbstbestimmung": Wenn der Mensch den - in der Regel von Gesetzesmachern verfertigten - Vorschriften folgt, dann folgt er, dem p�dagogischen Ideal nach, nicht diesen, sondern sich selbst bzw. seinem wahren Selbst. Solange er noch erzogen wurde, da war noch ma�voller Zwang n�tig: Er war n�mlich noch nicht - er selbst. Irgendwann aber ist f�r den P�dagogen an ihm die F�higkeit zur "Selbstbestimmung" hergestellt, die �u�eres Nachhelfen �berfl�ssig macht. Dann ist er - frei. Dann kann er in seinem Handeln allein unterscheiden zwischen "Selbst-" und "Fremdbestimmtheit".

5.

Die Logik dieses Erziehungsziels ist einerseits dieselbe wie die des unmodernen Erziehungziels "sittliche Reife": Wer zeigt, da� er seine Freiheit verantwortungsvoll gebraucht, wer also von selbst tut, was er soll, und von selbst vermeidet, was verboten ist, der erweist sich als reif genug, um aus der erzieherischen Aufsicht entlassen zu werden. Wer dagegen seine Freiheit nur mi�braucht, um sich danebenzubenehmen, der verdient sie nicht und mu� noch auf die eine oder andere Weise erzogen werden. In der Lehre von den Erziehungszielen wird diese Logik allerdings nicht als die kleine Erpressung weiterempfohlen, die sie nun einmal darstellt, und mit der man Heranwachsenden klarmachen kann, da� sich Gehorsam "lohnt". Den P�dagogen, diesen notorisch wohlmeinenden Menschen, schwebt vielmehr vor, da� sie das Kind tats�chlich nur zu sich selbst f�hren, wenn sie es zur Einhaltung moralisch aufbereiteter Gebote und Verbote erziehen.
Deswegen ist aber der auf Selbstbestimmung erpichte P�dagoge andererseits noch nicht zufrieden, wenn die Erziehungsprodukte sich den Regem des Gebotenen freiwillig beugen. Er m�chte mehr, als nur am Sch�ler festhalten zu k�nnen, da� dieser seinem Bilde von "sittlicher Reife" entspricht.

"(Es) hat die intentionale Erziehung insofern besondere Bedeutung, als sie passive Einordnung und kritiklose Anerkennung des Gegebenen und �berlieferten zu �berwinden trachtet.... Da� der Mensch um seiner selbst willen zu erziehen sei, zu Selbst�ndigkeit und Selbstbestimmung innerhalb seiner Gesellschaft, diese Forderung durchzieht die neuere P�dagogik." (Schiefele)

Wenn sich die Erziehungsprodukte einfach blo� "einordnen" und "ans Gegebene anpassen", dann vermi�t der P�dagoge an ihnen den lebenden Beweis, da� er sie nur zu sich selbst gef�hrt hat. Er m�chte kritische Menschen erziehen. Das ist mit einer Aufforderung zur Kritik "am Gegebenen" allerdings nicht zu verwechseln: Das Ergebnis dieser kritischen Haltung soll ja schon Anerkennung des Gebotenen sein. Verlangt ist, da� die Erzogenen neben der "Anerkennung des Gegebenen" das Selbstbewu�tsein demonstrieren, beim Einordnen nur ihrer eigenen Freiheit zu folgen. Darin n�mlich sollen sie die Ideologie des P�dagogen glaubhaft machen, er habe die Kleinen nicht angepa�t an �u�ere Normen, sondern dabei ihr innerstes Wesen herausgekitzelt. Das gilt ihnen dann als "kritische Haltung".
Diesen Gefallen tun dem P�dagogen in der Tat nicht gerade wenige Resultate von Erziehung. Es sind alle diejenigen, die sich viel darauf einbilden, selbst eine Meinung zu haben, auch wenn sie nur die Leitartikel von "Bild" und "S�ddeutscher Zeitung" nachplappern, und die es als Akt ihrer M�ndigkeit verstehen, wenn sie ihren Privatkonsum erfolgreich ganz unter das Diktat ihres schmalen Geldbeutels zu beugen verm�gen.
So beglaubigt dieser Selbstbetrug von Erzogenen den Selbstbetrug der Erzieher, da� sie die Heranwachsenden wirklich nur zu sich selbst gef�hrt haben, wenn sie sich als ordentliche B�rger auff�hren.

6.

Die Einbildung der P�dagogen, der Deutung von Anpassungsakten als Freiheitsgebrauch durch ihre (Ex-)Sch�fchen den Beleg f�r erfolgreich verlaufene Erziehung zur Selbstbestimmung entnehmen zu k�nnen, basiert auf einer Verwechslung. Sie t�uschen sich, wenn sie auf die Wirkung einer eingebauten bzw. mit der Zeit am Kind hergestellten Moralgarantie setzen, welche den Erzieher irgendwann �berfl�ssig werden l��t. Die Gr�nde, all die Vorschriften und Regem zu umgehen, welche Interessen beschr�nken und ihre Verwirklichung verhindern, bleiben n�mlich in der Welt und bekommen jeden Tag, an dem der Mensch aufs Neue seine Anliegen unter Vorschriften begr�bt, weitere Nahrung. Sofern er es jedoch unterl��t aufzumucken, sofern er sich vielmehr dem gebotenen Anstand anbequemt und sich obendrein daf�r auch noch irgendwelche Argumente zurechtlegt, ist das Erziehungsziel "Selbstbestimmung" erreicht. Allerdings anders, als sich dies die P�dagogen vorstellen:
Nicht sein "wahres Selbst" ist da zum Vorschein gekommen, sondern er hat sich jener Sorte von Vernunft anbequemt, die hierzulande als Tugend gilt. Er hat sich n�mlich eine Stellung zu Vorschriften und Regem zugelegt, die es ihm erlaubt, sie mit "guten", ihm einleuchtenden Gr�nden zu versehen. Er hat nicht etwa die Moral zu seinem Zweck gemacht, wie der P�dagoge vielleicht w�hnt. Er hat sich vielmehr entschieden, sich seine Unterwerfung unter das herrschende Regelwerk als "Notwendigkeit" oder gar als "das Beste" f�r ihn und seinesgleichen theoretisch zurechtzulegen. Sein praktisches Tun folgt nach wie vor anderen Gesetzen, die er sich nicht selbst und schon gar nicht f�r sich selbst erdacht hat. Genau diese Differenz zwischen den tats�chlichen Gr�nden f�r das Tun und der nachtr�glichen Zurechtlegung lauter "guter Gr�nde" f�r den Menschen m�chte die Theorie vom Erziehungsziel "Selbstbestimmung" zum Verschwinden bringen. Mehr soll es sein als das Ergebnis der Einbildung, die �bereinstimmung von Herrschaft und Individuum - ein Widerspruch in sich, da es dann ja wohl nichts zu beherrschen g�be - sei das gesellschaftliche Ordnungsprinzip, wenn Individuen sich der Herrschaft beugen.
Aber mittels dieser antrainierten Einbildung wird aus der blo�en Tautologie, da� der Mensch das, was er macht, auch selbst macht, eine besondere Leistung, auf die P�dagogen und ihre Dienstherren dann ziemlich stolz sind. Die lassen als Selbstverwirklichung der B�rger ohnehin nur zu, was sie ihnen an Leistungen abfordern. Und wenn die Untertanen dies nicht nur als ihr ureigenstes Interesse interpretieren, sondern obendrein noch als Freiheit ihres Selbst feiern, dann ist es ihnen eben doppelt recht, weil doppelt bequem.