Bürgerliche Bildung - was ist das eigentlich?

Die bürgerliche Gesellschaft verfügt über einen nicht unbeträchtlichen Wissenkanon; und daß es im "Zeitalter der Wissenschaft" ungeheuer aufs Lernen ankommt, will noch jeder unserem modernen Staatswesen als Gütesiegel anhängen. Dabei ist unübersehbar, daß die Ausbildungsinstitutionent nicht den gebildeten Verstand des Volkes und seine vernünftige Betätigung zum Gegenstand und Zweck haben, sondern beim Vermitteln von Kenntnissen sehr selektiv verfahren: jeder wird aufs Lernenmüssen verpflichtet; was einer lernen darf, entscheidet sich im Vergleich des Lernerfolgs in Zeit. Auf diese Weise erzeugt die Ausbildung den nötigen Wissensdurst und garantiert zugleich das Wissen, das die Gesellschaft braucht - ohne die Köpfe der heranwachsenden Staatsbürger mehr als unbedingt nötig mit diesem Wissen zu befrachten, und ohne die Leute dadurch von nützlichen Arbeitsdiensten abzuhalten oder gar durch zuviel geistige Freiheit auf falsches Anspruchsdenken zu bringen. Deswegen soll man unter dem hohen Gut Bildung ja auch gar nicht den schlichten Umstand der Vermittlung von allem wissenswerten Zeug an jeden, der es wissen will, verstehen; dies gilt hierzulande schon deshalb als weltfremder Idealismus, weil niemand daran ein Interesse hat. "Bildung" heißt, der Sache nach betrachtet, soviel:
Es wird laufend in speziellen Institutionen, in gewissen Köpfen Wissen entwickelt, in Spezialbüchern niedergelegt und von den Verantwortlichen seiner Nutzung zugeführt. Unübersehbar kommt mit Hilfe der Kopfarbeiter, die von wirklicher Arbeit befreit sind, der gesellschaftliche Fortschritt voran, der sich der Wissenschaft bedient, damit aber auch der Gegensatz, dem sie dient: Die Rheinverseuchung haben sie genauso im Griff wie die Eindämmung von Volksseuchen, Atomkraftrisiken lassen sich genauso kalkulieren wie die durchschnittlich machbaren Höchstleistungen an einem menschengerecht eingerichteten Arbeitsplatz. Naturwissenschaftler rechnen in die Beherrschung der Natur auch gleich die profitabelsten Verfahren und den rentabelsten Arbeitseinsatz an jeder Betriebsanlage mit ein. Techniker und Professoren erfinden der Politik ihre unverzichtbaren Gewaltmittel. Professionelle Sinndeuter liefern die entsprechenden Argumente für die beste aller möglichen Welten und viele gutgemeinte Ratschläge hinterdrein und kümmern sich darum, daß die Lehren dem Volk öffentlich unterbreitet und schulstufengerecht vermittelt werden. Das alles klappt, weil Wissenschaft zum gehobenen Staatsdienst und zu den besseren Betriebsposten gehört, also ein prächtiges Ausbildungs- und Karriereziel für die entsprechende Minderheit liefert.
Mit jeder neuen Maschine, mit Taschenrechnern und Mikroprozessoren, Robotern und arbeitswissenschaftlich durchorganisierten Produktionsbändern nimmt andererseits für die meisten Gesellschaftsmitglieder die Notwendigkeit von Wissen ab und damit der Zwang zu, ziemlich unspezifisch zuzulangen. Dem wachsenden Spezialistentum in Sachen technische Revolutionierung und Betriebsplanung steht das Sammelsurium der geistlosen, schlechtbezahlten Tätigkeiten gegenüber, die Mobilität zu einer reinen Willensfrage machen. Für genügend Anwärter mit entsprechend wenig Kenntnissen hat auch hier die Schulbildung vorgesorgt. So, nämlich negativ, bewahrheitet sich laufend der Satz, daß etwas ist, wer etwas kann. Vom gesellschaftlichen Geist bekommen die Massen dennoch alles Nötige mit.
Erstens dürfen sie - nicht nur am Arbeitsplatz - mit den vielen Dingen umgehen, die forschrittsorientierte Unternehmer nach streng wissenschaftlichen Methoden produzieren -, d.h. wenn sie das Geld haben, um sie sich zu kaufen. Sonst gibt es da keine Klassenschranken. Hausfrauen fahren Diesel, Kinder kommandieren Computerprogramme, Eltern schalten Fernseher an - und keiner, nicht einmal der Reparateur, braucht zu wissen, wie das alles funktioniert; höchstens was es kostet.
Zweitens bekommt jeder nahezu kostenlos eine passende Persönlichkeitsbildung und täglichen Dauerunterricht in moralischen Kernsätzen, mit denen man Rechte und Pflichten einzuschätzen und alles in eine Lebenlage zu verwandeln weiß, an der man sich nach Kräften und eigenem Können zu bewähren hat. Dank dieser Allgemeinbildung weiß jeder, daß es schlaue Köpfe gibt, die was erfinden, kluge, die regieren, dümmere, bei denen es seine Ordnung hat, wenn sie es nicht so weit gebracht haben.
Drittens blüht neben den paar Geboten der Staatsbürgermoral in einem aufgeklärten Volk das Unwissen und so ziemlich jeder Unsinn, der den Verhältnissen Schicksalskraft und den eigenen Anstrengungen höhere Bedeutung verleiht. Bei Horoskop und Kartenlesen, Wundermitteln und manchem Unerklärlichen, aber auch im Katechismus des institutionalisierten Aberglaubens kennt sich jeder irgendwie aus, und all das erfreut sich reger öffentlicher Betreuung.
Viertens bewährt sich das Aufgeklärtsein im Glauben ans Wissen, das andere unbefragt repräsentieren. Auf Autoritäten kann man hören, wenn die Verantwortlichen sagen, daß es welche sind. Von denen läßt man sich bestätigen, worauf es ankommt. So werden die Massen im Namen des Wissens verdummt und bei Staatslaune gehalten, damit sie sich auf die gesellschaftlichen Fortschritte einstellen, die mit Hilfe der Wissenschaft zustande gebracht werden.
Wissen und Bildung gibt es schon im Kapitalismus. Er beruht schließlich auf ihrer Anwendung. Die sieht so aus, daß den Massen Wissen erspart bleibt, Arbeit aber nicht. Die verantwortliche Minderheit braucht weder zu arbeiten noch etwas zu wissen, weil sie ganz ohne eigenes Zutun aus den Erträgen der Wissenschaft einen Selbstbedienungsladen gemacht hat. So leidet die arbeitende Klasse weniger daran, daß ihr die Bildung vorenthalten wird, als an ihrer Ausbeutung. Gegen die allgemeine Volksverbildung hilft deswegen auch keine Volksbildung. Umgekehrt: Die gehört zu den Gratisgaben einer gelungenen Revolution.