Sozialisation: "Kein Wunder bei der Herkunft..."

Der angehende Lehrer, der in seiner Unterrichtseinheit nach wenigen Stunden den pr�fend-vergleichenden Blick des professionellen P�dagogen drauf hat, diesen �ber die M�gdelein und Knaben seiner S I-Klasse schweifen l��t, dabei hier gestochene Sch�nschrift und dort verschmierte Krakel, hier einwandfreie Orthographie und dort 6 Fehler in einer Zeile, hier Subjekt-Pr�dikat-Objekt mit doppelt eingesprungenem Relativsatz und dort eine Grammatik entdeckt, da� es den Grimm graust, dieser angehende Lehrer wird nicht nur des Wohlwollens seines Mentors, sondern auch seiner p�dagogischen Weisheit teilhaftig. Mit gerunzelter Stirn wird ihm der Krakel-Fritz als leibhaftiger Beleg der Sozialisationstheorie vorgef�hrt. Das Geheimnis: Er kommt aus einer Arbeiterfamilie! Na dann! Und: Kein Wunder! Beim Studenten rastet es wie auf Befehl ein: "Schichten-spezifische Sozialisation" - "restringierter Unterschicht-Code" - "geringes Leistungsstreben" - "Schule eine Mittelschichtinstitution" - "Chancengleichheit fehlt: ungerecht" - "schichtenspezifische Auslese" ... Krakel-Fritz ist einsortiert und mit Bedauern abgehakt.
Der Reihe nach:

l. Ein Befund wie eine Verurteilung

Arbeiterkinder - so wei� der Verfasser des Standardwerkes "Sozialisation und Auslese durch die Schule", (Hans-G. Rolff, Heidelberg 1973) zu berichten -sind in der Schule gegen�ber Kindern aus der Mittel- und Oberschicht stark benachteiligt

"Die Schularbeiten fallen ihnen schwerer. Sie haben kaum individuelles Leistungsstreben entwickelt und werden auch von den Eltern nicht sonderlich dazu angehalten. (Sie sind) mit der Qualit�t der 'symbolischen' Belohnung des Lehrers nicht vertraut... Seine Sprache bleibt ihnen relativ fremd und manchmal sogar unverst�ndlich." (S. 153)

Einmal unterstellt, der dargestellte Befund w�rde zutreffen. Was w�re eigentlich seine Konsequenz? Hie�e sie nicht: Eine sch�ne Aufgabe wartet hier auf die Damen und Herren Erzieher? Wo den Arbeiterkindern etwas schwerer f�llt als anderen, da mu� ihnen verst�rkt geholfen werden. Wo ihnen etwas fehlt, was andere schon besitzen, mu� es nachgeholt werden. Und mit der Ausdrucksweise der Lehrer hat man sie auch vertraut zu machen. Pustekuchen! Der Befund wird anders benutzt:
Zur Erkl�rung der "schichtenspezifischen Auslese durch die Schule". Daher der mitf�hlende Tonfall. Daher das merkw�rdige Fazit: Die Arbeiterkinder seien durch das, was sie an Gelerntem von Zuhause mitbringen, in der Schule stark benachteiligt - immer nat�rlich im Vergleich zu den G�ren der Beg�terten aus Mittelschicht und Oberschicht. Dabei ergeben sich solche vergleichsweisen Benachteiligungen in der Schule aus dem gemeinen Umstand, da� die Schule und ihre Funktion�re es nicht als ihre Aufgabe ansehen, die mitgebrachten Defizite bei Arbeiterkindern zu beseitigen. Gleichbehandlung hei�t ihre Maxime, die in der schulischen Praxis z.B. in Gestalt der schriftlichen Arbeit zuschl�gt, der sich alle Sch�ler einer Klasse zum gleichen Zeitpunkt unter den gleichen Bedingungen unterziehen m�ssen - egal, ob Krakel-Fritz und seine Schicht-Kollegen das verlangte Pensum nun schon drauf haben oder nicht. Erst so werden die aus �konomischen Verh�ltnissen der Familie in der Tat erkl�rlichen Unterschiede zu welchen schulischer Leistung die man in der Rangskala zwischen l und 6 festgehalten und exekutiert. Das ist die Auslese und daf�r braucht's die Vergleicherei.
Die Theorie der "schichtenspezifischen Sozialisation" sieht das nat�rlich ganz anders:

"Tats�chlich sind der Schulerfolg und damit auch die Berufschancen ungeachtet des Abbaus der formalen Schranken f�r den Zugang zu den weiterf�hrenden Schulen immer noch in starkem Ma�e von der sozialen Herkunft der Sch�ler bestimmt. Fast alle Kinder aus der Unterschicht werden fr�hzeitig von der Schule entlassen." (S. 113)

Das ist ein hartes Urteil. Nicht das, was Lehrer in der Verfolgung des Schulzwecks mit den Arbeiterkindern anstellen, entscheidet �ber Versetzung und Nichtversetzung, sondern - so behauptet Rolff - dar�ber ist schon l�ngst entschieden, wenn das Kind zum ersten Mal den Fu� �ber die Schwelle der Sortieranstalt setzt. Der Umstand, da� so ein Sch�ler in Mathe, Deutsch, Geographie seine regelm��igen F�nfer und Sechser kassiert, das beweist nicht seine L�cken im Stoff, nicht sein Nicht-Wissen, sondern sein Nicht-Wissen-K�nnen. Aus den Voraussetzungen der schulischen Auslese, aus dem, was Kinder eben so in die Schule mitbringen, wird der Grund f�r die Resultate der Auslese; was die Schule mit diesen Mitbringseln anstellt, wird dem Mitgebrachten angelastet. Und der Lehrer? Den gibt es dann nur als mehr oder weniger hilflosen Exekutor eines "Sozialcharakters" von Unterschicht-Kindern, f�r den er nicht verantwortlich gemacht werden kann.
Nat�rlich ist ein derartiger Fehler nur zu haben, wenn man schulische Auslese, also die Organisation der Erziehung als Ausschlu� eines gro�en Teils der Kinder von jedem weiterf�hrenden Wissen, als die einzig denkbare, sozusagen naturnotwendige Form von Erziehung betrachtet. Ohne Parteig�ngerschaft f�r dieses Prinzip der demokratischen Klassenschule, die in Anwendung der Gleichheitsgrunds�tze in der Erziehung den Nachwuchs sehr erfolgreich auf die bekanntlich h�chst unterschiedlich mit Segnungen ausgestatteten Etagen der Gesellschaft verteilt, l��t sich eine derartige Sudellogik nicht zu einer Theorie von h�chster Wertsch�tzung und Verbreitung ausgestalten. Dabei z�hlen sich ihre Verfechter zu Kritikern von Schule und Gesellschaft; auch H.G. Rolff.

2. Der Mensch: Ein Gef�� mit Innen und Au�en

Als �berzeugter Sozialisationstheoretiker f�hrt er sich zugleich als Kritiker der einer angeblich reinen, "reaktion�ren" Begabungstheorie ein:

"Die schichtspezifische Auslese durch die Schule wurde bis vor wenigen Jahren nahezu ausschlie�lich durch genetisch-biologische Theorien 'erkl�rt'. Es herrschte weithin die �berzeugung, da� die Mehrzahl der Sch�ler aus Arbeiterfamilien 'naturgem��' unbegabt sei." (S.23)

Wohingegen heute die Sache "differenzierter" gesehen wird:

"Die Art des Sozialisationsprozesses entscheidet dar�ber, wieweit sich Begabung innerhalb der organisch vorgegebenen Grenzen �berhaupt realisieren kann." (S.29)

Jetzt darf man sich den gesamten Zusammenhang in Rolff's Theorie so vorstellen: Was in den Arbeiterkindern so an 'Begabung' steckt, das wei� kein Schwein, denn der "schichtenspezifische Sozialisationsproze�" wirkt auf "Begabung" in bestimmter Weise ein, und in der Schule sieht man dann den ganzen Kladderadatsch.
Das ist eine recht absonderliche Konstruktion: Der Mensch ist so eine Art Gef�� - "organisch vorgegebene Grenzen" -, mit einem flexiblen Inhalt - "Begabung" - und einer Umwelt, die auf das Innere des Gef��es im Rahmen der Gef��-Grenzen einwirkt - "Sozialisationsproze�". Da stellen sich schon einige Fragen: Ist das "Schicksal" von Krakel-Fritz, der mit Mittlerer Reife zum Abgang gen�tigt wird, nun

zu erkl�ren. Ja, was denn nun? Da weder die Potenz "Begabung", noch die organische Beschaffenheit des Menschen als "Grenze" von "Begabung" f�r sich identifizierbar sind, gibt es auch keinerlei Kriterium, nach welchem �ber das Ausma� der Wirkung der "Sozialisation" auf "Begabung" und "organische Grenzen" geurteilt werden kann. Woher aber wei� man dann �berhaupt, da� diese Faktoren gewirkt haben? Die Theorie vermittelt ein Bild von zwei in Wechselwirkung befindlichen Kraftfeldern begrenzter Ausdehnung, von denen jeweils das eine durch die Intensit�t des anderen mitbewirkt ist und als deren Resultat man sich das Tun und Lassen, das Getan- und Gelassenwerden von gro�en und kleinen Leuten ganz frei vorstellen soll.
Die "Kritik" an der reinen "Begabungstheorie" - die ohnehin eine rechte Erfindung von Rolff ist - kommt dabei ohne deren Best�tigung nicht aus: Die "innere" Natur nimmt er weiterhin an, wenn er etwas �u�eres auf sie wirken lassen will. Rolff geht dabei sogar noch einen Schritt weiter. Er setzt der "inneren Natur" sogar gleichfalls nat�rliche Schranken in Gestalt der "organisch vorgegebenen Grenzen" von "Begabung". Gegen diese "Grenzen" hat dann weder ein der "Begabung" f�rderlicher, noch ein die "Begabung" st�ndig deckelnder "Sozialistionsproze�" eine Chance. Ganz sch�n "genetischbiologisch", was da als Kritik der "genetisch-biologischen Theorien" daherkommt! Zwar hat er daf�r genausowenig wie alle Genetiker sonst einen organischen Befund zu bieten (zu wenig Gehirnzellen?), aber die Botschaft ist klar: Nicht Interessen und Zwecke, eigene oder fremde, ausgestattet mit Macht oder ohne sie, sind am Werk, wenn Sch�ler aussortiert, wenn Leute als Arbeiter ans Band gestellt oder wenn andere eine Karriere wie aus dem Bilderbuch vorlegen, sondern innere und �u�ere Wirkkr�fte, welche f�r sich und im ber�hmten Wechselspiel Schicksal spielen und ihre jeweiliges Resultat der gar nicht staunenden Menschheit pr�sentieren. So wird denn die theoretische Frage, wie das Tun und Lassen von Leute zu erkl�ren ist, gleich in die so viel interessantere Frage verwandelt, was wof�r in welchem Umfang verantwortlich zu machen ist:
Innen (+ Gef��): Au�en = 4 : 4? Oder 2 : 6? ...
Die ganze Frage ist also ein Fehler. Ihre Beantwortung ist nicht zu leisten, was aber Rolff nicht daran hindert, an seiner Antwort strikt festzuhalten: Es sei die M�glichkeit nicht auszuschlie�en, da� in einem Bandarbeiter ein verhinderter Konzertpianist und in einem Magazinverwalter ein (au�en-)schaumgebremster Nobelpreistr�ger in Physik stecke. Dazu hat er sich eine ganz falsche Sorte von Schulkritik zurechtgelegt:

3. Schule verf�lscht Menschennatur

"Die Wertvorstellungen und Verhaltenserwartungen, die die Schule beherrschen, beg�nstigen den Sozialcharakter (= Produkt der Sozialisation) der Sch�ler aus der Mittelschicht gegen�ber dem Sozialcharakter der Sch�ler aus der Unterschicht." (S.115)

Und an diesen Mittelschichtnormen der Schule - so geht der Gedanke weiter - blamieren sich st�ndig die Kinder der Unterschicht und werden ausgelesen, was man z.B. durch schichtspezifische oder schicht�bergreifende Auslesekriterien verhindern m��te.
Rolff dementiert hier seine eigene zentrale Aussage von der bestimmenden Funktion der herkunftabh�ngigen Sozialisation bei der schulischen Auslese. Jetzt hat er ein schulisches Instrument entdeckt, eben die ber�hmten Mittelschichtnormen, welche r�cksichtslos gegen�ber den erworbenen "Wertvorstellungen und Verhaltenserwartungen" von Kindern ab Ausleseinstrument eingesetzt werden. Was ist denn nun, Herr Rolff? M�chten Sie die "soziale Herkunft" der Uprivis daf�r verantwortlich machen, da� diese massenhaft das Proletengymnasium 'Hauptschule' bev�lkern? Oder ist hier ein schulisches Beurteilungs- und Sortierungsinstrument am Werke, welches an den Herkunfts-Mitbringseln allererst das Urteil in die Welt setzt und vollstreckt, wer die "Guten f�r's T�pfchen" und die "Schlechten f�r's Kr�pfchen" sind?
Dabei tut Rolff �brigens nebenbei auch noch so, als sei es der schulische Zweck, den Unterschichtkindern zu beweisen, da� sie Unterschichtenkinder sind, indem die Schule deren Abweichung von den sogenannten Mittelschichtnormen festh�lt und -schreibt; als sei es der Zweck von Schule, jeden Sch�ler genau wieder in den "Topf" zu stecken, aus dem er kommt. Dabei ist es doch gerade ein Zeichen gelungener Reform, die prinzipielle Gleichg�ltigkeit des Ausleseverfahrens schulischer Erziehung gegen�ber der sozialen Herkunft nachzuweisen: Wenn nur die verschiedenen "T�pfe" immer sch�n gef�llt sind, wenn also die Schule immer hinreichende Quanta des Nachwuchses auf den Etagen der Berufshierarchie ausspuckt, dann br�stet sich die (Gesamt-)Schule auch schon mal als "klassenloses Bildungssystem" und verweist daf�r auf die Professorenkinder, die im "Arbeitertopf" landen, und auf die Arbeiterkinder, die in den "Professorentopf" gefallen sind. Da ist die demokratische Klassenschule gro�z�gig: Hauptsache, da� immer genug Arbeitsvieh auf der einen Seite und Figuren, die die Aussortierung, Ausbeutung und ideologische Betreuung der "Unterschichtler" bewerkstelligen, auf der entgegengesetzten Seite vorhanden sind.
So st�rt denn Rolff auch nicht die Auslese, sondern da� sie angeblich durch die soziale Herkunft st�ndig verf�lscht wird. Der Kritiker der "Begabungs"-Theorie entdeckt hier seine heimliche Vorliebe f�r den verschm�hten Gedanken: Zun�chst war er so frei, den F�nfer des Arbeiterkindes in Mathe, Deutsch und Englisch allein der Wirkung des Au�en, eben der sozialen Herkunft, anzulasten - dabei mu� er �brigens seine ganze Konstruktion weit von sich weisen, derzufolge das Au�en �berhaupt nur �ber das Ausma� der �u�erung des Innen entscheidet. Jetzt hingegen besinnt er sich ganz umgekehrt wieder auf die Natur, auf das Innen, welches ganz ohne die von ihm als Schranke bestimmten Wirkungen des schichtspezifischen Au�en zur Geltung kommen m�ge: Wenn denn die soziale Herkunft die schulische Sortierung st�rt, dann - so lautet sein Ideal der Sortierung - m�ge die Natur des Menschleins sich doch rein �u�ern und �ber Aufstieg und Fall entscheiden. Wer mit allerlei kompensatorischem Krimskrams die Wirkungen der sozialen Herkunft neutralisieren m�chte, der setzt letztlich auf ein im Inneren des Individuums angelegtes Leistungsverm�gen, welches seinem Besitzer dann den Platz in der Schulhierarchie und "im Leben" zuteilen soll, der ihm zukommt. Der Salto mortale geht dabei bruchlos in den Flickflack �ber, denn jene Kompensation, ohne die sich die Natur eben nicht unverf�lscht dem munteren Konkurrieren stellen soll, mu� doch wohl der Abteilung '�u�erliche Einwirkung' zugerechnet werden.
Rolff erg�nzt also seine Parteinahme f�r Auslese durch die Schule um eine Sorte Rassismus, der ganz auf der demokratischen H�he ist: Egalit�r soll der Rassismus schon inszeniert sein, so da� niemand in der Schule eine andere "Chance" bekommt als diejenige, die ihm seine 'Anlagen' lassen, und so aus jedem das wird, was in ihm steckt.
Sehr praktisch die Vollendung dieses Gedankens auch noch in anderer Hinsicht: l. hat man so auf die schulische Sortierung nichts kommen lassen und nur deren angebliche Ungerechtigkeit beklagt, welche das unselige gesellschaftliche Schichtgef�ge mit sich bringe. Wenn man 2. dabei feststellt, da� die eigene Parteinahme f�r Auslese merkw�rdig kontrastiert mit einer Krittelei am gesellschaflichen "Schichtgef�ge", f�r das immerhin ausgelesen wird, dann kann man auch noch diesen h��lichen Heck von der Theorie der Sozialisation entfernen; mit dem Ideal der Konkurrenz unverf�lschter Anlagen lassen sich auch die "Gesellschaftlichen Verh�ltnisse" aus der Schu�linie bringen: Schlie�lich darf bei ordentlich kompensatorischem Bem�hen nicht einmal mehr das "Schichtgef�ge" verantwortlich gemacht werden. Es ist jetzt Krakel-Fritz selbst mit seinem krakeligen Innenleben f�r all das verantwortlich, was das Ausbildungssystem mit ihm anstellt. Natur ist eben Natur!!
Nat�rlich kann man sich auch zu radikalen Bl�ten versteigen und wie Rolff dies gelegentlich andeutet, f�r die Abschaffung der Schichten pl�dieren, nur damit diese nicht mehr in der schulischen Sortierung die Kinds-Natur verstellen. Wozu dann eigentlich sortiert und ausgelesen werden soll, das mu� sich ein p�dagogischer Fanatiker des demokratischen Rassismus wirklich nicht fragen lassen.