Was ist und wozu gibt es Didaktik? Didaktisches Denken soll man als angehender Lehrer lernen? Wie geht das? Wohin mag das bloß führen?
Hat sich der Student der Pädagogik, wenn er sich in seinem Studium diesen unumgänglichen Fragen zuwendet, all jene Beteuerungen, daß es Definitionen von Didaktik wie Sand am Meer gäbe, jeder Didaktiker darunter etwas anderes verstehe, man auf jeden Fall die Allgemeine von der Besonderen oder Fach-Didaktik zu unterscheiden haben usw. usf., hat er also all diese aufgeplusterten Demonstrationen ungeheuerer Bedeutsamkeit dieser Disziplin ohne größeren Schaden an seiner Seele zu nehmen durchgemustert, stößt er mit Sicherheit auf das Credo didaktischen Denkens, in welchem sich noch alle Vertreter der Zunft einig sind:
"Sehr wohl ist von dem sich der Vorbereitung widmenden Lehrer zunächst die Konzentration auf die ,Sache' gefordert, auf das ,Was' des Unterrichts. Aber (!) diese, Sache' ist für ihn von vornherein ein unter pädagogischem Aspekt gesehener ,Gegenstand', der dem jungen Menschen zum ,geistigen Eigentum' werden soll, kurz ein Bltdungsinhalt. Die bildenden Momente eines Inhalts, das in ihm, was zur Bildung werden kann oder sollte, gilt es herauszuarbeiten." (Klafki, Studien zur Bildungstheorie, S. 129)
Diese pädagogische Disziplin verfolgt offenbar ein sehr apartes Anliegen: Sie warnt eindringlich vor dem 'Mißverständnis', daß es beim Beibringen des "1x1", des Lateinischen, der Funktionsweise des Otto-Motors oder Entstehung der BRD usw. eben um diese Gegenstände, um das "1x1", die lateinische Sprache, den Otto-Motor usf. gehe. Vielmehr soll mittels der angesprochenen Sachverhalte - sie heißen auf pädagogisch "Lerninhalte" - etwas ganz anderes gelernt werden als was sie selber sind. Es geht um ein Lernen, welches sich nicht an den Bestimmungen der zu erlernenden Sache orientiert. Es soll ein "pädagogischen Ziel" erreicht werden: als "Bildungsinhalte" sollen sie vermittelt werden. Das ist nur nicht nur die - tautologische - Umschreibung des Umstandes ist, daß es dem Lehrer eben darauf ankomme, Wissen z.B. über die Entstehung der BRD (= Lerninhalt) zu vermitteln (= Lernziel). Wäre dem so, dann gäbe es eben nur dieses eine Lernziel - vermitteln, beibringen, lehren... -, der Fall wäre ausgestanden und der Lehrer bzw. Lehrerstudent könnte sich in den Gegenständen kundig machen, die er den Schülern nahe bringen möchte. Daß die Sache aber gerade damit nicht erledigt ist, dafür steht die Didaktik. Umgekehrt: "didaktische Reflexion" insistiert darauf, daß die Vermittlung vorfindlichen Wissens nur Material für andere Zwecke sein soll, die dann notgedrungen nicht den Bestimmungen der Sache, sondern anderen "Spähren" entnommen sein müssen. Einfach so bzw. "an sich" und nur zu dem Zweck auf den Stundenplan geschrieben, daß der Schüler sich nachher in der Sache auskennt, bekommen Inhalte von den Didaktikern nie das Attribut "pädagogisch". Einfach so, ohne die "logisch vorgängige Frage nach den Lernzielen" beantwortet zu haben, hätte jeder Unterricht ganz einfach seine "bildende" Bedeutung verpaßt.
Der Altmeister der bundesdeutschen Nachkriegsdidaktik, W. Klafki, formuliert diese Regel in seinen Handreichungen zur "Didaktischen Analyse" folgendermaßen:
Der Begriff "Sachanalyse trifft noch nicht das Wesentliche, ja er beschwört die Gefahr herauf, daß man darunter eine vorpädagogisch-fachwissenschaftliche Analyse versteht, diese direkt zur Grundlage des Unterrichts macht und damit die spezifisch pädagogische Aufgabe aus dem Blick verliert." (Klafki, S. 129)
Warnend wird hier der didaktische Imperativ ausgesprochen, nur ja nicht dem Irrglauben zu verfallen, eine gründliche wissenschaftliche Durchdringung einer Sache sei allemal die beste Unterichtsvorbereitung und setze einen instand, den der Sache eigenen logischen Aufbau, ihre Gesetzmäßigkeiten, ihren Begriff und ihre Sonderfälle, kurz, alles, was man auch braucht, um Unwissenden die Sache zugänglich zu machen, selbst erst einmal zu begreifen.
Damit haben wir bereits die l. Regel des didaktischen Denkens:
Gewöhne Dir rechtzeitig eine Stellung zu dem Wissen Deiner Schulfächer an, die dieses erstens nicht nach Wahrheit und Falschheit und zweitens nicht nach Wichtigkeit und Unwichtigkeit sortiert, sondern an es allein den Maßstab anlegt, ob bzw. wodurch es tauglich ist zum Transport pädagogischer Ziele.
Und was ist sie nun, die "spezifisch pädagogische Aufgabe", ohne deren primäre Berücksichtigung jeder Unterricht sein sogenanntes Eigentliches, das Pädagogische, verfehle? Was sind die "pädagogischen Ziele", ohne welche keine Erkenntnis je in den Rang eines "Bildungsguts" gelangen würde? Heimann, Otto, Schulz erteilen folgende Auskunft:
"Sicher dürfte sein, daß ein Thema erst in Verbindung mit mindestens einer Absicht ein eindeutiges Unterrichtsziel darstellt: 'Der Staudamm von Assuan' wird anders unterrichtet, je nachdem seine technischen Probleme, seine Bedeutung für Ägyptens Wirtschaft oder als Gegenstand östlicher und westlicher Entwicklungshilfe zur Debatte steht. Der Assuanstaudamm 'an sich' ist wohl schwerlich als Unterrichtsinhalt denkbar". (S.28)
Der "Staudamm von Assuan" und die "wirtschaftliche Bedeutung des Assuanstaudamms" sollen sich verhalten wie ein Thema zu einer Absicht, mit welcher man ihn behandeln könnte? Tatsächlich handelt es sich in diesem Beispiel doch um zwei verschiedene Themen. Wenn die wirtschaftliche Bedeutung des Damms erklärt wird, dann geht es um mehr als um Gesetze der Statik etc.
Aber so simpel, quasi wie ein großes Mißverständnis löst sich die Sache nicht auf. Darauf macht z.B. schon die "Absicht" aufmerksam, das "Thema" als "Gegenstand westlicher und östlicher Entwicklungshilfe" zu behandeln. Und dabei darf nicht vergessen werden, daß sich die "Intentionen", "Absichten" und "pädagogischen Ziele" übergeordneten Gesichtspunkten der folgenden Art verdanken:
Es geht darum "Veränderungen in Richtung auf gesellschaftlich anerkannte Zuständlichkeiten anzubahnen", um das "Herbeiführen von wünschenswerten Gesinnungen, Gewohnheiten, Überzeugungen". (Heimann, Otto, Schulz, S. 18 u. 27)
Keine Frage, wie jetzt aus dem "Thema" mittels der 'richtigen', sprich "wünschenswerten" Absicht, erst ein ordentlicher Unterichtsinhalt wird. Keine Frage, was an "wünschenswerten" Resultaten herauszukommen hat, wenn der Assuan-Damm vom fertigen Standpunkt des imperialistisch eingerichteten Ost-West-Gegensatzes betrachtet wird. Da muß bei Entwicklungshilfe Ost wenigstens das "Hilfe" in Anführungszeichen stehen, während bei Entwicklungshilfe West die Eigennützigkeit der westlichen Bauträger auf jeden Fall mit dem Hinweis auf den beiderseitigen Nutzen angerührt gehört. Wer also keine "gesellschaftliche anerkannten" und "wünschenswerten" Absichten als "Intention" an die Gegenstände heranträgt, dem wird abgesprochen, überhaupt eine Intention zu haben - jedenfalls eine pädagogisch vertretbare. So teilen die Herren Didaktiker mit, warum sie auf die Trennung von "Ziel" und "Inhalt", von "Thema" und "Intention" solchen Wert legen: Keinesfalls darf man sich seine Sache "einfach so" erklären und dann von diesem Resultat seinen Standpunkt dazu abhängig machen. Da wäre ja unter Umständen gar nicht garantiert, daß die gefällten Urteile dem Kriterium "gesellschaftlich anerkannt" und "wünschenswert" genügen!
Deswegen heißt die 2. Regel des didaktischen Denkens auch wie folgt:
Lege die gesellschaftlich wünschenswerten und anerkannten Urteile, die mit der Unterrichtung eines bestimmten Gegenstandes produziert und befestigt werden sollen, auf jeden Fall vorher fest und behandle den Gegenstand so, daß sie dabei auch herauskommen. Dabei lasse Dich nicht von Bestimmungen der Sache irre machen, die eventuell ganz andersartige Schlußfolgerungen nahelegen würden. Greife zu Schulbüchern oder Lehrerhandreichungen, in welchen Du auf jeden Fall jenes Kondensat der anerkannten wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Thema findest, das dem pädagogischen Anliegen gerecht wird.
Dabei braucht der angehende Pädagoge nicht zu befürchten, daß ihn seine "didaktische Verantwortung", den Nachwuchs der Nation mit garantiert konformen Gedanken auszustatten, etwa in Konflikt mit den Resultaten seiner jeweiligen Fachwissenschaft bringen könnte. Die lehnt nämlich schon von sich aus ganz selbstbewußt die Erwartung ab, sie sei keiner Autorität außer der Wahrheit über ihre Gegenstände verpflichtet und wartet keineswegs mit nicht "erwünschten" Einsichten auf, die als Unterrichtsinhalt geradezu kinderverderbliche, "unpädagogische" Konsequenzen zeitigen würden. Da kann der Student einer deutschen Universität sich durchaus auf die dort etablierte Wissenschaft - und zwar bis in die Naturwissenschaft hinein - verlassen: daß sie die Natur als vorbildlich wohlgeordneten Kosmos, modern: als Gleichgewichtssystem vorstellt, demgegenüber man sich mit dem Erheben von Ansprüchen bloß versündigen kann, daß sie den Staat aus der angeblichen Wolfsnatur des Menschen begründen, die Demokratie für ein zwar schwerfällige, aber immer noch die beste aller Regierungsformen erachtet, die freie Marktwirtschaft hochlobt, ihre gar nicht zufälligen Resultate in Gestalt von 2-3 Millionen einkommenslosen Bürgern und jeder Menge Frühinvaliden für Produkte von Mißmanagement hält und das Geld für die beste Erfindung seit der Bibel bejubelt.
Zwar wird einem Lehrerstudenten seiner Fachdisziplin nichts nahegebracht, was den "pädagogischen Absichten" zuwiderläuft. Das macht die Didaktiker noch lange nicht arbeitslos. Als das pädagogische Gewissen all jener Ideologien, welche die staatstreue Wissenschaft ganz ohne Auftrag produziert, hat er sich schon zu bewähren. Seine "didaktische Analyse" hat sicherzustellen, daß die "pädagogischen Ziele" die "Absichten", kurz: die Indoktrination mit "wünschenswerten Gesinnungen und Überzeugungen" und für "gesellschaftlich anerkannte Zuständlichkeit" auch ja nicht in der "Stoffülle" untergeht. Deshalb werden sie vom Ballast wissenschaftlicher Form befreit und "kindgemäß" und "elementar" gleich so ins Schulbuch geschrieben, daß keinerlei Mißverständnis über die Botschaft entstehen kann. Über die so auf ihren affirmativen Kern gebrachten "Stoffe" kann die jeweilige mit der "gehobenen" Form derselben Botschaft befaßte Universitätszunft den Vorwurf der "Unwissenschaftlichkeit" der Lehrerbildung loswerden und einen albernen, der Natur der Sache nach gar nicht entscheidbaren Streit darüber führen, ob der Lehrer mehr "pädagogisch" oder doch mehr "fachwissenschaftlich" ausgebildet sein müsse.
Den gestandenen Pädagogen ficht dieser Vorwurf der "Unwissenschaftlichkeit" nicht nur nicht an. Er hat den Konter des "Unpädagogischen" längst angebracht und ist sich sicher, daß er und die Disziplin der "Didaktik" die berufensten Tugendwächter bürgerlichen Denkens überhaupt sind. Wenn der fachwissenschaftliche Stoff ohnehin nur das vielfältige Material für das immer gleiche Lernziel "Produktion gesellschaftlich anerkannter Einstellungen" ist, dann ist es konsequent pädagogisch weitergedacht, wenn Didaktiker empfehlen, die erwünschten Haltungen und Gesinnungen gleich den ministeriellen Direktiven zu entnehmen. Um keinerlei Mißverständnisse aufkommen zu lassen, formuliert Klafki die 3. Regel des didaktischen Denkens gleich selbst:
"Es charakterisiert die Stoffe des Lehrplans wesensmäßig, daß sie von den Lehrplangestaltern als Bildungsinhalte gemeint sind. Jene Stoffe müssen also als Bildungsinhalte betrachtet und als solche in der praktischen Schularbeit zu Geltung gebracht werden.... (Folglich muß) der Praktiker die in den Lehrplaninhalten verborgene pädagogische Vorentscheidung der Lehrplangestalter gleichsam noch einmal vollziehen." (Klafki, S.128)
Das ist klar genug: Die Lehrpläne sind eine Frage der politischen Behörden. Ihre Direktiven sind noch immer die beste, weil gültige Pädagogik. Die Didaktik möchte nun den Lehrer in aller Bescheidenheit darauf aufmerksam machen, daß seine pädagogische Freiheit darin besteht, den jeweiligen staatlichen Anliegen nachzuspüren, um sie adäquat-pluralistisch zu verfolgen. Deswegen findet sich auch die präziseste Fassung des Anliegens des "didaktischen Denkens" immer noch in jedem Schulrecht:
"Der Lehrer ist verpflichtet, seine Aufgaben gewissenhaft zu erfüllen. Er ist in seiner Unterrichts- und Erziehungsarbeit in dem Rahmen frei, den ihm die Gesetze, Verordnungen und Erlasse der Schulverwaltung, Lehrpläne und Konferenzbeschlüsse ziehen. Seine methodische Freiheit ist grundsätzlich gewährleistet." (Handbuch des bremischen Schulrechts, S. 148)
P. S.: Wem jetzt ein Lehrer einfällt, der Richtlinien und Lehrplänen ihren direktiven Gehalt mit dem Hinweis bestreitet, daß er noch jeden Unterrichtsgegenstand seiner Wahl unbeanstandet habe unterrichten können, der möge sich einmal die folgende Frage zur Beantwortung vorlegen: Ist von diesem Lehrer die direktive Funktion der Lehrpläne und Richtlinien widerlegt oder vielleicht nur der Nachweis geführt worden, daß er seine unterrichtliche Freiheit ohnehin nur im Rahmen des staatlichen Zugelassenen definiert? Im zweiten Fall entdeckt er natürlich keine Beschränkung für sich. Er teilt ja die Maßstäbe der Richtlinien -, welche übrigens dieselben sind, mit denen Berufsverbote wegen Nichtbeachtung des direktiven Gehalts der Staatsdidaktik begründet werden.