Unterrichtstheorie:

Der Unterricht: - eine Sisyphosarbeit ?

1.

Daß nicht wenige angehende Lehrer nicht so sehr aus "Liebe zum Kind" oder wegen der inneren "Berufung, dem Kind zu sich selbst zu verhelfen", ihre Berufswahl getroffen haben, sondern weil sie die Aussicht auf einen recht bequemen, recht gut dotierten Job mit Pensionsanspruch und viel Freizeit und Urlaub durchaus zu schätzen wissen, ist kein Geheimnis.
Folgt man der Wissenschaft über die Lehrertätigkeit, der Unterrichtstheorie, so müßte sich eigentlich längst herumgesprochen haben, daß solche Kriterien für die Berufswahl mit der Wahrheit über die Berufstätigkeit des Lehrers nichts zu tun haben. Eines der Lieblingszitate jeder neueren Unterrichtstheorie, es stammt von dem DDR-Pädagogen F. Winnefeld, behauptet nämlich:

"Jedes pädagogische Feld muß als eine vieldimensionale Faktorenkomplexion aufgefaßt werden." (Winnefeld, Päd. Kontakt und päd. Feld, 1967, S.34)

Es handelt sich allerdings dabei kaum um die theoretische Erfassung des bestimmten Gegenstandes 'Unterricht', wenn behauptet wird, daß er viele "Dimensionen" besitze, ohne anzugeben welche, daß er aus "Faktoren" komponiert sei, man aber nicht erfährt aus welchen, und daß schließlich der Zusammenhang dieser "Faktoren" äußerst "komplex", also schwer zu durchschauen sei. Ebensogut könnte man dies über ein Stammtischgespräch, den Sommerschlußverkauf oder einen Kindergeburtstag behaupten. Es taucht die bestimmte Sache, um die es geht, nämlich überhaupt nicht auf. Statt dessen gelten dem Theoretiker Kategorien des theoretischen Begreifens als Bestimmungen der Sache selbst: Eine Sache als "Faktor" zu kennzeichnen, will eben aussagen, daß sie weder eindeutig als Grund für etwas anderes, noch bereits klar als eine Bedingung identifiziert ist, sondern daß man nicht genau den bestimmten Zusammenhang kennt, in dem dieser Sachverhalt zu anderen steht. Deswegen wird so ein Zusammenhang dann auch meistens als "komplex" charakterisiert. Womit nur mit wissenschaftlicher Prätention umschrieben ist, daß man bisher von nichts eine Ahnung hat.
Es handelt sich also nicht um eine zu allgemeine, sondern um eine prinzipiell falsche Aussage über Unterricht, die mehr über den Unterrichtstheoretiker als über seinen Gegenstand verrät. Gleichwohl ist sie äußerst beliebt. Und das liegt daran, daß diese Aussage, in welcher der Gegenstand .Unterricht' gar nicht vorkommt, wie eine Auskunft über den Unterricht gewonnen wird.
Diese Auskunft, in der die Probleme der Wissenschaft mit dem Gegenstand als Bestimmung des Gegenstandes genommen werden, heißt dann schlicht: "Unterricht ist eine unheimlich schwierige Angelegenheit."

2.

Die Unterrichtstheorie will also keinesfalls angehende Lehrer mit dem Hinweis auf die unzulängliche wissenschaftliche Aufbereitung des "pädagogischen Feldes" abschrecken. Sie will nicht sagen: Laßt die Finger vom Unterrichten - solange wenigstens, bis die Wissenschaft sich mehr Klarheit über diese Praxis verschafft hat! Umgekehrt ziert so ein Spruch die Einleitungen von Unterrichtstheorien, in denen dann belegt werden soll, daß die Praxis des Unterrichts ihrem Wesen nach "komplex", sprich: schwierig sei. Das hört sich dann so an:

"...was ein Lehrer gleichzeitig leisten soll: über bestimmte Gegenstände und mit Schülern sprechen, agieren und reagieren, eine bestimmte Richtung verfolgen und doch von dieser Richtung abweichen können, seine Gestik, Mimik und Körperbewegung kontrolliert einsetzen, auf 3o bis 4o Kinder gleichzeitig achten und dabei auch einzelne beachten, Unterrichtsstoffe souverän beherrschen und vieles mehr. Dabei hat der Lehrer keinen Regisseur, der ihm Anweisungen gibt, und kein Textbuch, an das er sich halten kann, seine Rolle ist nicht fertig und nicht hundertmal durchgespielt, wenn er in die Schulklasse kommt, sondern er muß improvisieren, aus der Situation heraus das richtige Verhalten finden und es der Situation angepaßt einsetzen." (Grell, Techniken des Lehrerverhaltens, 1980, S.25)

Man erkennt den Unterricht, den man als Lehrer, Lehrerstudent oder Schüler erfahren hat, kaum wieder, sofern man sich nicht bereits diese "Komplexitäts"-Brille aufgesetzt hat.
Es soll gar nicht geleugnet werden, daß Lehrer im Unterricht so ihre Probleme bekommen: Sie mögen sich ein Problem machen, wenn sie beim Nicht-wissen ertappt werden, oder sich über ungehorsame Schüler ärgern. Doch die unterrichtstheoretisch ausgebreitete Vorstellung, Unterricht sei eine einzige Ansammlung von Schwierigkeiten, weil der Unterricht so "komplex" sei, kommt nicht ohne Erfindungen aus: Gleichzeitig auf alle 30 und auf jeden einzelnen Schüler soll der Lehrer achten! Das ist eine schlichte Unmöglichkeit und im Unterricht, so wie er bei uns angelegt ist, auch gar nicht nötig. Es läuft doch ganz anders ab: Da wird die ganze Klasse am Anfang Schüler für Schüler auf Anwesenheit hin kontrolliert, dann werden Fehlende vermerkt. Einzelne Schüler werden mit besonderer Aufmerksamkeit bedacht, wenn sie sich bemerkbar machen, oder wenn der Lehrer gerade von ihnen noch eine zensierbare Leistung abfragen will. Wer stört, wird bestraft. Den Stoff bestimmt der Lehrplan und nach zweimaligem Unterricht gehört seine Vermittlung zur Routine. Daß dem Lehrer jemand zuschaut und ihm Regieanweisungen erteilt, wird sich dieser verbitten usw. Von wegen "komplex".

3.

Der Trick dieser Verwandlung von Unterricht in die "vieldimensionale Faktorenkomplexion", durch die er wie der Vorhof der pädagogischen Hölle erscheint, ist simpel. Der schlichte Umstand, daß jemand, ein Lehrer nämlich, vor einer Versammlung von Kindern, die sich zum Aufpassen zwingen müssen, wenn sie gute Noten haben wollen, den geforderten Schulstoff (von wegen kein Textbuch!) zum besten gibt, wird hier in eine unabsehbare Anzahl von Einzelleistungen des Lehrers, die ihm die "pädagogische Situation" abverlange, zerlegt. Die theoretische Abstraktion, die man in der Betrachtung des Unterrichts schon einmal vornehmen kann, wird hier als eine praktisch notwendige Abstraktionsleistung behauptet. Alle Operationen im Unterricht, die man gedanklich auseinanderlegen kann, werden deswegen als unterschiedene, einzelne Tätigkeiten bestimmt. Das ist natürlich barer Unsinn: Wenn man nicht gerade in Selbstgespräche vertieft ist, dann redet man eben mit jemandem über etwas, sagt etwas, hört zu, bedenkt das Gehörte und antwortet. Schweiß bricht einem dabei allenfalls aus, wenn der Inhalt der Erörterung schweißtreibend ist, nicht aber weil sie aus hören, über etwas sprechen, mit jemandem sprechen, das Gesprochene beherrschen, nachdenken und zwar ohne Souffleur usw. besteht. Es gibt eben nicht die Sprache im Unterricht getrennt von dem Gegenstand, über den gesprochen wird, eine Aussage getrennt von der Absicht, die mit ihr verfolgt wird, den Sprecher getrennt von seinem Körper usw. Es ergibt sich der Inhalt einer Rede doch gerade aus der Absicht, einem bestimmten Adressaten oder Adressatenkreis etwas mitzuteilen! Die Theorie bemüht also die Vorstellung eines Gesprächs ohne den Zusammenhang von Gesprächsgegenstand, Gesprächsteilnehmer, Rede und Gegenrede. Sie löst einen zweckmäßigen Zusammenhang von Leuten - sei der Zweck nun Unterricht oder Gespräch - in eine ziemlich zwecklose Angelegenheit auf, in der jedes Moment der Sache wie sein eigener Zweck vorgestellt wird: So als werde erst irgendetwas geredet (l. Leistung) und zwar ohne fremde Hilfe (2. Leistung), dann der Inhalt bedacht (3. Leistung), sich danach an einen Adressaten gewandt (4. Leistung), dem anschließend zugehört (5. Leistung), ohne fremde Hilfe sich ein Reim drauf gemacht (6. Leistung). Barer Unsinn! Doch für den Unterrichtstheoretiker sind auf diese Weise schon mindestens sechs einzelne, selbständig zu erbringende Leistungen zustande gekommen, die sich in dem Maße als Schwierigkeiten potenzieren, wie weitere Leute an dem Gespräch teilnehmen. Wahnsinn!

4.

Die Technik, den Unterricht erstens seines Zweckes zu entkleiden, ihn dann zweitens als Ansammlung isolierter Faktoren zu betrachten und drittens jeden "Faktor" als sich vor dem Lehrer auftürmende Schwierigkeit zu deuten, bringt einige interessante Auskünfte über Lehrer und Schüler zuwege. Der Unterricht taucht nämlich in dieser Sichtweise zweimal auf: Einmal als die Sache, die erschwert wird, und zum anderen als Summe von Faktoren, Sie, erschweren. Danach wäre z.B. der Schüler erstens das Objekt des Unterrichts, dem etwas beigebracht werden soll, und zugleich ein dieses Anliegen erschwerender Faktor. Einerseits ist er Zuhörer, dem der Lehrer etwas vorträgt, auf der anderen Seite gibt es ihn 30 mal, was natürlich den Lehrervortrag fast unmöglich macht: Denn nun muß er nicht nur "über bestimmte Gegenstände mit Schülern reden, sondern auf 30 bis 40 Kinder gleichzeitig achten..."
Die Bebilderung dieses "Problems" hat nichts zu tun mit dem Fall des unaufmerksamen Schülers, der beständig zur Aufmerksamkeit ermahnt werden muß. Denn eine solche Ermahnung ist ja als Methode gedacht, den Schüler zu der Aufmerksamkeit zu bewegen, die seine Unterrichtung verlangt. Das Faktoren-Modell dagegen hat diesen bestimmten Zusammenhang zwischen Schüler, Lehrervortrag und Ermahnung getilgt. Auf diese Weise ist der Schüler eben nicht nur der Adressat der Unterweisung, sondern zugleich der störende Faktor für diese Unterweisung.
Nun darf und soll sich der angehende Lehrer durch dieses Modell allerdings durchaus an jede Menge "Probleme" erinnert fühlen, die man als Pauker im Unterricht tatsächlich bekommt: Da gibt es Schüler, die sich der Veranstaltung ganz entziehen, andere glänzen durch geistige Abwesenheit, und wieder andere schreiben beim Nachbarn ab.
Das Faktorenmodell des Unterrichts sorgt nämlich dafür, daß darüber kein richtiges, dafür aber ein sehr parteiliches Urteil in die Welt kommt. Der tatsächliche Grund für solche "Probleme" liegt eindeutig im Auftrag des Lehrers: Er hat mit allen ihm dafür zur Verfügung gestellten Mitteln dafür zu sorgen, daß wirklich jeder der ihm zugeteilten Köpfe einer differenzierenden Beurteilung unterworfen wird; daß die Kinder dafür auch ihren Verstand einsetzen und daß sie die Resultate original ihrer Geistesarbeit immer dann äußern, wenn es verlangt ist. Kurz, er hat dafür zu sorgen, daß die Schüler sich vor seinem Auftrag, verteilungsrelevante Unterschiede zwischen ihnen herzustellen, bewähren.
Zur Parteinahme für diesen Auftrag, der es allen Schülern schwer und den meisten von ihnen unmöglich macht, sich durch ihre Schulleistungen die Voraussetzungen für ein sorgenfreies "Leben nach der Schule" zu schaffen, ist die Wahrheit allerdings weniger geeignet als das Faktorenmodell. Das vermeldet nämlich über diese Lehrerleistungen, daß es sich um "Schwierigkeiten" handelt, die dem Lehrer gemacht werden; und zwar um solche, die aus der Vielfalt der vom Lehrer im Unterricht zu bewältigenden Aufgaben herrühren. So kommt der Job nicht in Verruf, dafür der Lehrer in den Ruf ein wahrer Sisyphos zu sein.

5.

Es würde natürlich kein Unterrichtstheoretiker auf die Idee kommen, dieses "Modell" auf irgendeine Kneipenplauderei zu übertragen. Obwohl das lässig ginge, wenn er nur wollte, weil das "Modell" sich um den Zweck der zur Klärung stehenden Sache ganz absichtsvoll nicht schert. Es wäre nur schlicht komisch, den Stammtisch zur "vieldimensionalen Faktorenkomplexion" zu erklären, vor dem man sich schwer in acht zu nehmen hätte und den man ohne ausgebildetes Problembewußtsein und schriftliche Vorbereitung gar nicht besuchen dürfte. Die Theorie geht also von einer Botschaft bereits aus, die über den Gegenstand 'Unterricht' unter die Pädagogik studierende Menschheit gebracht werden soll: Der Unterricht ist so schwer, daß es eigentlich ein Wunder ist, wenn er ständig stattfindet und zur ziemlichen Zufriedenheit der politischen Veranstalter ausfällt. Deswegen soll der angehende Lehrer auch nicht etwa den Beruf wechseln, sondern sich durch ordentliches Studium der Erziehungs- und Unterrichtstheorien klar machen, daß es nicht an ihm, sondern am "komplexen Unterricht" liegt, wenn nicht alles so gelingt, wie er, Schüler oder Eltern es sich vielleicht vorstellen. Auf jeden Fall darf er sich sicher sein, daß er der eigentlich Leidtragende bei der ganzen Veranstaltung ist.
Diese Botschaft macht dem Lehrer also das Angebot, sich mit seiner Funktion mittels der Urteile einer zur Wissenschaft ausgestalteten Ideologie zu arrangieren, in der er als das Opfer auftaucht und Kinder und die übrigen "Unterrichtsfaktoren" als seine Quälgeister dastehen. So gesehen sind alle obligatorischen "Problemlösungsmittel", von der mündlichen Ermahnung, über die Strafarbeit, bis zum Schulverweis eigentlich nur völlig legitime Schutzmaßnahmen. Die wendet natürlich kein Lehrer gern an, aber wenn er es denn doch tut, nur deshalb, weil er in der "komplexen pädagogischen Situation" gar nicht anders kann.

6.

Den kleinen Widerspruch, den sich die Unterrichtstheorie hier geleistet hat, indem sie einen Popanz von Unterricht aufgebaut hat, der den angehenden Lehrer abschrecken könnte, wo die Unterrichtstheorie ihn doch nur in seiner Berufsentscheidung dadurch bestärken will, daß sie ihn mit dem passenden Berufsverständnis ausstattet, löst sie mit einem modifizierten Rückgriff auf Sprangers "geborenen Erzieher":
"Aber zum Glück," vermelden die Grells, "können die meisten Lehrer viel mehr, als sie theoretisch dürften. Was ein Lehrer alles 'von selbst' richtig macht, das kann ihm bis heute kein noch so schöner Computer nachmachen." (Grell/Grell, Unterrichtsrezepte, 1979, S.20)
Das ist nicht etwa die Überflüssigkeitserklärung von Lehrerbildung, sondern das Gegenteil. Das "'von selbst' richtig machen" steht natürlich in Anführungszeichen, d.h. so etwas stellt sich erst nach ordentlichem Lehrertraining ein:

"Man muß lernen, bestimmte Handlungen auszuführen und dafür eventuell andere zu unterlassen (das heißt vornehm: "Komplexitätsreduktion"). Man muß das Handlungsrezept zu einem inneren Programm machen, das viele unterschiedliche Einzelhandlungen und nicht nur ein stereotypes Geplapper produziert. Man muß lernen, die Bedingungen zu erkennen, die ein Handlungsrezept erst sinnvoll machen und sich angewöhnen, diese Bedingungen schnell genug zu identifizieren, um rechtzeitig auf sie reagieren zu können. Überhaupt muß man das Handlungsrezept zu einem Teil der eigenen Persönlichkeit (machen..." (a.a.O., S.281)

Wie tröstlich: Der "angeborene Erzieher" kann "erworben" werden. Die Unterrichtstheorie mit ihren Trainingsprogrammen und Rezeptbüchern macht es möglich. Ein tolles Selbstlob dieser Disziplin. Obwohl die entscheidende theoretische Frage nun doch noch offen bleibt: Setzt so eine erworbene Fähigkeit zum Erziehen nicht doch die Anlage voraus? Wieviel von der Fähigkeit zum Erziehen läßt sich erwerben und was muß angeboren sein? Fifti-fifti vielleicht? So wie wir den Laden hier kennen, wird es wohl ohne einen komplexes Wechselwirkungsgefüge nicht abgehen.