Man stelle sich vor: Ein Lehrer läßt eine Probearbeit schreiben, streicht die gemachten Fehler an, schreibt für jeden Schüler unter die Arbeit, worin das Angestrichene falsch ist und gibt Ratschläge, wie solche Fehler in Zukunft vermieden werden können. Dann gibt er die so korrigierte Arbeit zurück. Jedem fällt sofort auf: Hier fehlt die Note, die Leistungsbewertung, ohne die eine Korrektur nicht vollständig ist.
Dies scheint allen Fachleuten in Sachen Schule klar wie Kloßbrühe zu sein: Ohne Noten wäre es unmöglich, festzustellen, ob die Schüler was gelernt haben. Stellvertretend für die allgemeine Meinung zählt das Funkkolleg "Pädagogische Psychologie II" neben anderen "verschiedenartigen Aufgaben der Notengebung" auch die "Rückmeldefunktion für den Lehrer" auf, wonach dieser "an der Zensurenverteilung ablesen können (soll), wie erfolgreich sein Unterricht war" (881). Ähnliche Leistungen der Noten werden auch für Schüler und Eltern berichtet: Erst durch die Zensuren werden sie in die Lage versetzt, ihren Leistungsstand bzw. den ihrer Kinder einschätzen zu können: Durch Noten sollen die Eltern der Schüler "Mitteilung über den Leistungsstand ihrer Kinder erhalten." (881).
Eine merkwürdige Meinung: Daß der Lehrer erst über die Note rauskriegt, wieviel von seinem Unterricht bei den Schülern hängengeblieben ist, kann nicht sein. Das sieht er doch an den Fehlern, die die Schüler in ihren Arbeiten gemacht haben, am besten. Und die Noten kann er doch erst anhand dieser Fehler errechnen. Das bedeutet, daß die Erfolgsbeurteilung des Unterrichts schon gelaufen ist, bevor die Noten ausgerechnet werden. Analoges gilt für den Schüler: Seinen Leistungsstand, wenn er ihn nicht schon vorher weiß, kriegt der doch spätestens beim Bearbeiten der gestellten Aufgaben raus. Da merkt er doch, ob er sie lösen kann oder ob sie für ihn böhmische Dörfer sind. Umgekehrt: Wenn der Schüler seinen Leistungsstand so kennenlernen will, daß es ihm darauf ankommt zu erfahren, was er anstellen muß, dann hilft ihm die Kenntnis seiner Note überhaupt nicht weiter. In dieser ist nämlich jeder Inhalt ausgelöscht: Die Note ergibt sich doch gerade aus der unterschiedslosen Verrechnung von Fehlern. Da gilt eine falsche Großschreibung genauso als ein halber oder ganzer Fehler wie eine falsche Konsonantenverdopplung, und aus der Summe der Fehler ergibt sich dann rein rechnerisch die Note. Diese Verwandlung von qualitativen Fehlern in reine Zahlenverhältnisse kann als Auskunftsmittel über den Wissensstand eines Schülers gar nicht gedacht sein.
Warum dennoch keine Schularbeit ohne Note bleiben darf, obwohl unter dem Aspekt des Wissensfortschritts mit einer Korrektur und Erläuterung der Fehler alles nötige getan wäre, ist kein Geheimnis. In der Schule dient die Leistung eben dazu, sie mit der anderer Schüler zu vergleichen und so für jeden Schüler einen Rangplatz zu errechnen, von dem sein weiteres schulisches (und später berufliches) Fortkommen abhängt.
Darin besteht der Zweck der Noten, und das soll man nicht mit Auskünften über die Qualität irgendwelcher Schularbeiten verwechseln. Wegen des Interesses, die Leistungen in eine Rangreihe zu bringen, wird im Verfahren der Benotung doch gerade vom Interesse an der inhaltlichen Würdigung der Arbeiten Abstand genommen.
Wenn man sich bei Schulleistungen nicht für deren Inhalt, sondern für ihre Unterscheidung voneinander interessiert, dann braucht man einen Vergleichsmaßstab, an dem man die Leistungen vergleichen kann, der mit Inhalt der gemachten Fehler muß ja gerade abgesehen werden, um sie als mengenmäßig unterschiedliche Bewältigung der Unterrichtsanforderungen ausdrücken zu können. Von einer Note eine objektive Leistungsbewertung zu verlangen, ist daher Unfug. Es hängt notwendig ganz vom gewählten Vergleichsmaßstab ab, welche Note ein und dieselbe Leistung ergibt. Ist man milde gestimmt, gibts für 12 Fehler in einem Diktat vielleicht noch eine Drei, legt man einen strengeren Maßstab an, ist dieselbe Leistung womöglich bloß noch eine Vier wert. Weil die Zensur einen Vergleich darstellt, kommt es eben entscheidend darauf an, womit die Leistung verglichen wird, und das ist eine äußerst beliebige Angelegenheit. Den 12 Fehlern selbst läßt sich nicht entnehmen, welche Note zu geben ist. Den Theoretikern der Notengebung ist deren Beliebigkeit einerseits nicht fremd:
"Vom Maßstab, ... den Lehrer bei der Beurteilung von Schülerleistungen zugrundelegen..., hängt es ab, ob eine Klassenarbeit gut oder schlecht ausfällt", (883)
weiß auch das Funkkolleg. Andererseits halten sie das nicht für eine korrekte Auskunft über das Wesen der Zensurengebung, sondern für einen Mangel. Welche Note der gezeigten Leistung nun eigentlich zukomme, also welchen Wert die Leistung eigentlich habe, könne auf diese Weise gar nicht so recht entschieden werden.
Eine widersinnige Idee, sich nach der Bedeutung einer Leistung getrennt von ihrem Inhalt zu fragen. Wie soll man sie denn charakterisieren, die Leistung, außer mit der Feststellung, was an ihr richtig oder falsch ist? Worin soll denn die Bedeutung, der Wert einer Leistung sonst bestehen? Und was will man eigentlich beurteilen, wenn nicht den Inhalt? Daß mit der Kenntnisnahme des Inhaltes die Note noch nicht feststeht, ist etwas ganz anderes, als daß die Leistung noch nicht bewertet wäre.
Die Pädagogik ist offenbar davon überzeugt, daß das Verfahren, vom Inhalt einer Schulleistung zu abstrahieren, um sie durch Vergleich in eine Rangreihe zu bringen, vermittels derer man immer genügend Aspiranten für bessere und schlechtere Berufe erhält, in Wirklichkeit einen ganz anderen Zweck hat. Nämlich den, ein Auskunftsmittel über die gezeigte Schulleistung zu sein. Sie glaubt im Ernst, daß nur Abstraktion von der Leistung die ganz persönliche Leistung der Kinder zeige.
Mit dem Widerspruch, die individuelle Leistung durch Anlegen eines äußeren Maßstabs so beurteilen zu wollen, daß das Resultat der Messung gar kein Vergleich mehr ist, sondern die genau der Leistung zukommende Note, schlagen sie sich ständig herum. Sie erleben ihn als das Problem, daß je nach verwendetem Maßstab der Sortierung ganz andere "persönliche" Leistungen herauskommen, und wollen nie wahrhaben, daß dann ihre Benoterei womöglich gar nicht dem Zweck dient, den sie sich einbilden.
Das führt zu einer ziemlich albernen Besprechung der verschiedenen "Bezugssysteme", die die Pädagogik kennt, unter dem Aspekt, inwieweit bei ihnen der Vergleich mit anderen Leistungen der Bewertung der individuellen Leistung entspreche.
Da gibt es das "klassenbezogene Bezugssystem", wo der Lehrer die Schülerleistungen bewertet, indem er sie auf einen von ihm ermittelten Klassendurchschnitt als Meßlatte bezieht. Der "Vorteil" dieser Orientierung an einer "konkreten und für ihn überschaubaren Leistungsverteilung" besteht ganz tautologisch darin, daß der Lehrer es so macht:
"Immer bekommen Leistungen, die dem Durchschnitt entsprechen, auch die Durchschnittsnote, während überdurchschnittliche Leistungen bessere, unterdurchschnittliche dagegen schlechtere Zensuren erhalten" (884).
Na also, denkt sich der unbefangene Leser, genau das wollte man ja haben: Wie die Leistung, so die Note. Aber schon ein paar Zeilen weiter kommt genau dieser Vorteil als Nachteil daher:
"Die zufällige Zugehörigkeit zu einer bestimmten Klasse entscheidet also über die Bewertung einer Leistung".
Da schau her! Wer wollte sich denn gerade wegen der prima Passung zwischen Note und Leistung an der Klasse orientieren? Natürlich, wenn man einen anderen Maßstab anlegt, etwa den Durchschnitt eines Landes, kommen andere Noten raus. Wenn der Klassendurchschnitt beim Diktat 12 Fehler ist, und ein Schüler 12 Fehler macht, bekommt er eben eine Drei. Wenn der Landesdurchschnitt aber bloß bei 10 Fehlern liegt, bekommt er für seine 12 Fehler vielleicht schon eine Vier. So ist das eben mit Vergleichen. Einem Maßstab vorzuwerfen, daß er nicht gleichzeitig dasselbe Resultat erbringt wie ein anderer, so daß man gar nicht mehr wüßte, was 12 Fehler eigentlich wert seien, ist schon ziemlich blöd.
Das Problem, daß verschiedene Maßstäbe, die an eine Leistung angelegt werden, diese verschieden beurteilen, ändert sich auch dadurch nicht, daß man ein ganz anderes Kriterium wählt, nämlich das "lehrzielorientierte":
Hier werden die Schulleistungen nicht am Durchschnitt, sondern an einem "festen Maßstab", nämlich den Vorgaben des Lehrplans gemessen und je nachdem, wieviel vom Stoff ein Schüler behalten hat, bekommt er eine bessere oder schlechtere Note. Damit ist zwar auch nicht ausgemacht, wieviel Prozent des behaltenen Lernstoffes welche Note ausmacht, aber wenn man das von vorneherein für alle Schüler gleich festlegt (z.B.: 100% entspricht einer Eins, 90% einer Zwei usw.), dann kann sich laut Pädagogik niemand mehr ungerecht behandelt fühlen:
Das gibt es nicht mehr, daß einer für die gleiche Leistung, bloß weil er an einem anderen Durchschnitt gemessen wird, eine andere Note erhält. Wie die Leistung, so die Note. Gottseidank. Indes: Man hat zwar jetzt "einen festen Maßstab, würde aber die Qualität des vorausgehenden Unterrichts als entscheidende Variable außer acht lassen" (884).
Jetzt ist es wieder ganz ungerecht, daß alle Schüler dasselbe lernen müssen, um die gleiche Note zu bekommen, denn sie lernen ja bei verschiedenen Lehrern! Und ob der eine oder andere Schüler bei einem Lehrer, der besser unterrichten kann, bei gleicher Leistung nicht eine bessere Note bekommen hätte, wer weiß? Sollte man nicht doch lieber wieder zum klassenorientierten Bezugssystem überwechseln (da ist nämlich der Lehrer immer derselbe)? Aber ob das ideal ist...
Es gibt noch einen Ausweg: Der heißt "schülerorientiertes Bezugssystem" und geht so, daß man nicht mehr ein festes Lernziel vorgibt, an dem gemessen wird, sondern es werden die individuellen Lernfortschritte beurteilt. Je größer diese, desto besser die Note. Das Problem, herauszufinden, um wieviel Notenstufen ein Schüler sich verbessert, wenn er den Übergang vom Zweier- auf das Dreier-Einmaleins geschafft hat und ob dieser Übergang, ausgedrückt in Notenstufen, derselbe ist wie der vom Zwölfer- auf das Dreizehner-Einmaleins, umgeht man souverän dadurch, daß man einfach den Inhalt der Lernleistung in irgendeiner Zahl ausdrückt. Aber wenn man diesen Unfug für alle einheitlich gleich macht, dann scheint es ja endlich vollbracht zu sein: Wie die Leistung, so die Note. Ganz individuell:
"So könnte zum Beispiel als erfolgreich bezeichnet werden, wer seinen Vorkenntnissen entsprechende Leistungsfortschritte erzielt hätte, unabhängig vom Niveau seiner Leistungen" (919)
Soweit der Vorteil. Der Nachteil geht so:
"Müßten nicht, wollte man das Modell durchhalten, alle Schüler, deren Leistungsfortschritt ihren Vorkenntnissen entspräche, die gleiche Note erhalten, unabhängig vom jeweiligen Leistungsniveau?" (921)
Das gäbe ja unterschiedliche Noten für gleiche Leistungen - je nachdem welche Leistungsfortschritte der Schüler gemacht hat. Wo man doch gleiche Noten nur für gleiche Leistung kriegen soll!!
Zum Schluß hat das Funkkolleg noch einen originellen Vorschlag, wie man dem leidigen Umstand, daß ein Vergleichsmaßstab immer nur etwas über die Leistung relativ zum Maßstab und nie über die Leistung selbst aussagt, beheben kann:
"Will man möglichst viele Informationen über einen Schüler erhalten, so könnte das dadurch geschehen, daß alle drei Bewertungssysteme zur Anwendung kommen. In jedem System könnte ein Schüler unterschiedlich gut sein und entsprechend verschiedene Noten erhalten" (921).
Also: Wie gut ist ein Diktat mit zwölf Fehlern? Eine Drei, eine Fünf, aber auch eine Eins. Drei verschiedene Noten für dieselbe Leistung? Problematisch, problematisch! Das Problem ließe sich leicht lösen, wenn man sich um die Fehler und ihre Beseitigung kümmerte, statt darum, wie man das Sortieren in der Schule mit seiner eigenen guten Vorstellung von ihr unter einen Hut bringt.
Aber das wäre eben total unpädagogisch.