Wahn & Sinn:

Die Anthroposophische Geheimlehre

Waldorf-Pädagogik ist "in". Die Traktate Steiners erleben hohe Neuauflagen und in Universitätsseminaren wird Anthroposophie nicht etwa unter dem Motto "Je schwerer die Zeiten, desto Aber- der Glaube" abgehakt, sondern andächtig als Anleitung, die "eigene Mitte" zu finden, rezipiert.

"Das Ewig-Geistige zieht uns hinan..."

Der Mensch, weiß Steiner, ist eigentlich ein Gespenst bzw. Geist, also etwas, das man nicht sehen und hören, nicht riechen und anfassen kann. Das ist auf den ersten Blick erstaunlich, weil sich noch jedes Menschlein irgendwie akustisch oder optisch, als physische und geruchliche Bereicherung oder Belästigung der Umwelt bemerkbar macht. Für den Geisterseher Rudolf Steiner ist dies kein Rätsel. Denn:

"Der Menschengeist muß sich immer wieder und wieder verkörpern; und sein Gesetz besteht darin, daß er die Früchte des vorigen Lebens in die folgenden hinübernimmt. Aber dieses Leben in der Gegenwart ist nicht unabhängig von den vorhergehenden Leben. Der sich verkörpernde Geist bringt ja aus seinen vorigen Verkörperungen sein Schicksal (Karma)mit."(I,89{)

Aha! Was da als vernunftbegabter Zweibeiner durch die Gegend läuft, gilt als bloße "Verkörperung" des "Ewig-Geistigen". Ziemlich zombiehaft die Konstruktion: Die Lebenden sind die vorübergehenden Abstecher, die der Geist auf der Erde so unternimmt. Was der da will, warum diese irdischen Abstecher sein "müssen", warum der Geist nach einem kurzen Blick auf die Erde nicht wieder die Kurve kratzt und in seine ewigen Gefilde abrauscht, ist weder einsichtig und noch dazu angetan, einen für diesen Geist einzunehmen. Kaum hat er sich nämlich verkörpert, paßt ihm seine irdische Hülle nicht die Bohne. Er macht sich denn auch auf die Socken, sie wieder loszuwerden. Hat er es aber geschafft, mit dem Tode des Menschen seine unvollkommene Hülle wieder abzustreifen, fängt derselbe Zirkus mit einer neuen Hülle von vorne an. So jagt eine Wiedergeburt die nächste, ohne daß der Geist je zur Ruhe und zum Ziel käme. Pur einen Geist macht er sich die Sache also ganz schön schwer! Und das, zumal ihm sein irdisches Dasein noch ein zusätzliches Problem einbrockt: Kaum hat er nämlich Menschengestalt angenommen, kriegt er diese Verkörperung als Schicksal aufgedrückt, welches seine künftigen Verkörperungen bestimmt. Der Geist muß also als Mensch an seinem Karma tierisch arbeiten, sonst droht ihm für die nächste Runde die weniger geistige Geistverkörperung als Quakfrosch oder Gänseblümchen!
Hier hält sich Steiner streng an die Logik jeder Religion, derzufolge es einerseits auf die Erdenwürmer gar nicht ankommt, weil sie lauter Hampelmänner des Jenseits sind; derzufolge andererseits alles von den Würmern abhängt, sie also auch Herr über ihre Bestimmung sind. Das muß so sein, weil für den Erdling ja aus seiner geisterhaften Abstammung nichts folgen würde, wenn er bloß Werkzeug wäre. Wenn die Geister also alles im Griff hätten, dann könnte Steiner keine Sekte zur Missionierung der Menschheit gründen. Dann wäre ja der Anthroposoph und sein Kritiker genauso im Recht - das Geistige hätte eben beide geschaffen. Aber Steiner will eben jedermann einen irdischen Auftrag verpassen. Deshalb hängt er jedem an, bloß Verkörperung des Geistes zu sein, also vollständig vom Ewig-Geistig-Göttlichen bestimmt zu sein, und lokalisiert in jedermann Kräfte, an deren Einsatz sich erst entscheiden soll, ob der Mensch es zu einer gescheiten Verkörperung gebracht hat. So kommt dem Geist keiner aus, und jeder hat sich das gefälligst als Befehl zu Herzen zu nehmen.

Die Botschaft

dieses Widerspruchs ist klar: l. Du, Mensch, habe Hochachtung vor Dir. Aber nur vor Dir als Teil der ewig-geistigen Weltordnung. Was immer die auch sei. Nimm Dich nicht als etwas anderes und darin schon gar nicht wichtig. 2. Als Verkörperung des Göttlich-Geistigen mußt Du ständig an Dir arbeiten. Denn Dein Schicksal, das Deine zukünftigen Leben bestimmt, willst Du Dir doch nicht versauen. 3. Dein Auftrag hinnieden lautet, mit Dir, mit Deiner wahren Bestimmung ins Reine zu kommen. Laß ab von allem, was Dich daran hindern könnte. Betrachte die irdische Welt nur daraufhin, wie sie Dir Hilfe oder Störung bei Deinem Bemühen ist, zur Harmonie mit Dir selbst zu kommen. Deine späteren Reinkarnationen werden es Dir danken. Denke daran, was Du in den jeweils späteren Leben sein wirst, das bestimmst Du durch fleißige Arbeit am Karma in den jeweils früheren.

Leib-Seele-Identität: Gedanken zur Unzeit machen krank

Wenn sich jetzt die Jünger Steiners daran machen, den irdischen Auftrag zu erfüllen, um dem Nachwuchs zu einem schmucken Karma zu verhelfen, kann ja der Seher Steiner nun wirklich nicht überall dabeisitzen, um zu sagen, wohin das Ewig-Geistige bei Franz oder Gretel nun tendiert. Angesagt ist ein Code, in welchem die jedermann sichtbaren Phänomene der kindlichen Entwicklung in die kühnen Abstraktionen des Ewig-Geistigen der wahren Menschwerdung übersetzt werden. Kurz: An der Verkörperung muß sich ablesen lassen, was sich da jeweils verkörpert; was wiederum nur der Hohepriester selbst "spirituell" erkannt zu haben braucht. Der Leib, behauptet er, ist nicht nur irgend so eine Hülle für das Göttlich-Geistige, sondern das Göttlich-Geistige selbst existiert als "physischer Leib". Und in dem steckt nun schon alles Höhere drin, und es muß nur herausgekitzelt werden, was dann zum wahren Menschsein führt. Weswegen es auch kein Wunder ist, daß sich für die Anthroposophie der Körper rächen muß, wenn am Geist vorbei erzogen wird. Ist doch der Geist auch Körper:

"Man muß die geistige Führung des Kindes so leiten, daß sie in den Organismus in der richtigen Weise hineinwirkt, daß man zum Beispiel nicht so durch das Überladen mit Gedächtnisstoff bei dem Kind wirkt, daß im späteren Alter Stoffwechselkrankheiten hervorkommen. Und wenn die Leute den Zusammenhang zwischen Gicht und Rheumatismus und dem falschen Unterricht... kennen würden, dann würden sie erst auf einem wirklichkeitsgemäßen Boden in Bezug auf die Erziehungskunst stehen." (III, 135)

Da kennt der Rassismus dieser theosophischen Anthropologie kein Pardon: Wenn der Zahnwechsel, die erste Regel, das erste Grinsen oder sonstwas falsch gedeutet wird, gibt's Gicht oder Ähnliches. Die Behauptung eines naturnotwendigen Entwicklungsganges hält am pädagogischen Wahn, mit allen erzieherischen Mitteln nur die Kindsnatur zu bedienen, derart beharrlich fest, daß doch glatt an der Natur der "Beweis" der Fehlerziehung erbracht wird, wofür sonst andere, mehr "soziale Abweichungen" wie "mangelnde Integrationsfähigkeit" oder "zügelloser Egoismus" bei diesen oder jenen "Abweichlern" entdeckt werden.
Zu diesem Zwecke haben die Anthroposophen den natürlichen Entwicklungsweg des Menschen detailliert vorgeschrieben und genau darauf geachtet, daß der Verstand erst dann - naturgemäß - seine Schulung erfahren darf, wenn dem Verstand schon ziemlich viel zugemutet worden ist. Ihre

Theorie der vier Leibchen

ordnet den Lebensaltern die Ausbildung von Geisteskräften in folgender Reihenfolge zu: Sinneswahrnehmung ("physischer Leib"), Vorstellungsvermögen ("Äther-Leib"), Gefühl ("Astral-Leib") und Verstandesbildung ("Ich-Organisation"), wobei mit der letzteren auf keinen Fall vor dem 14. Lebensjahr begonnen werden darf; wie gesagt, sonst Diabetes, Diarrhöe oder Diphteritis.
Als Entwicklungstheorie, die der Erziehungstätigkeit zugrunde gelegt werden muß, verdankt sie ihre Logik dem offenkundigen Interesse, die Verstandestätigkeit als naturgemäße zu begrüßen und zu fördern, wenn der Verstand schon etliche Jährchen anthroposophischer Indoktrination hinter sich hat.

l. Phase:

"Für das Kind (bis zum Zahnwechsel) gibt es noch nichts, als daß es Sinnesorgan ist. Und es nimmt alles, was es aufnimmt, so auf wie ein Sinnesorgan.... Es geht ganz in seiner Umgebung auf. ... Das Kind ist in den ersten 7 Lebensjahren ein rein nachahmendes Wesen." (II, 168f.)

So ein Menschlein hat es schwer in dieser Phase. In ihm haust ein zielloser Nachahmungstrieb, der ihn dazu treibt, alles, was um ihn herum passiert, nachzuahmen. Wo anfangen, was lassen? Der Trieb läßt es dabei im Stich. Gleichzeitig soll es das Stricken (Oma), Pfeiferauchen (Vater), Schularbeitenmachen (Schwester) und den Vergaser reparieren (Bruder) nachahmen? Diese Erfindung eines leeren Willens wartet geradezu auf den Erzieher, der sich da einschaltet, um dem Göttlich-Geistigen, das sich über den Nachahmungstrieb wohl noch nicht so recht in Szene setzen kann, auf die Sprünge zu helfen. Deshalb das Gebot, die mit der Erziehung Betrauten mögen voll des nachahmenswerte" Verhaltens sein.

Dasselbe Prinzip auch in Phase 2 und in der 3. Phase:

"Das Kind soll nicht in abstrakter Weise durch ein bloßes Urteil... entscheiden, was wahr und falsch ist, was schön und was häßlich ist, was gut und was böse ist. Sondern es soll das Kind etwas als wahr empfinden, wenn der selbstverständlich innigverehrte Lehrer es als wahr empfindet." (IV, 139)

Abgesehen davon, daß Steiner die Unmöglichkeit verlangt, ein Gefühl für Gut und Böse ohne das entsprechende moralische Urteil zu vermitteln, welches dem Kind die Maßstäbe für die moralische Bewertung einer Handlung liefert; abgesehen davon ist auf diese Weise natürlich dafür gesorgt, daß auch kein Streit über "wahr und falsch", über "gut und böse" aufkommen wird. Denn der Lehrer hat nach tiefem Seherblick in die Kindsnatur herausgefunden, welches Gefühl und welches Urteil sich für die Entwicklung des Ewig-Geistigen im Kind frommt. Das dieser Konstruktion zugrundeliegende Ideal jedenfalls liegt auf der Hand: Steiner möchte seine Ideologie unter Umgehung des Verstandes ms Kind versenken.
So wird das Kind langsam reif gemacht zur Betätigung des Verstandes, nachdem am "Intellekt" zuvor alles "Störende" getilgt ist. Z.B. so:

"Der Lehrer geht beim Üben im Rechnen immer wieder auf das gleiche Prinzip zurück. Das Verteilen, das Verschenken aus einer Einheit heraus. ... Dabei wird gerade das Rechnen und Berechnen, falls man nicht acht gibt, leicht zum Tummelplatz kleiner Egoismen. Wenn du von Karl zwei und Oskar drei und von Katja zwei Bonbons kriegst, wieviel hast du dann?... In das Zahlen, Vergleichen, Messen schießt der Egoismus von selbst ein, besonders wenn an den Verstand appelliert wird. Der Intellekt will seiner Natur nach an sich raffen, neu'gierig' sein - Herz und Wille müssen Selbstlosigkeit dagegen setzen." (VI, 191f)

Interessant ist es jetzt schon -, daß weniger vor Gicht und Rheumatismus, sondern vor "Egoismus" und "Materialismus", nicht vor Leib-Schmerzen, sondern vor Seelen- und Sozial-Schmerzen gewarnt wird. Berechnen macht berechnend, wenn da nicht ein Anthroposoph vor ist, der klarstellt, daß das Kind nicht Bonbons zu wollen hat, sondern sich "verschenken" soll, wenn doch schon die Welt der Zahlen immerzu "aus einer Einheit heraus verschenkt"!

... und die moralische Quintessenz des anthroposophischen Rassismus

Die Bekämpfung des Egoismus steht auf dem pädagogischen Tugendkatalog obenan. Ein Vorwurf an den Menschen, der eine komplette verkehrte Theorie über die Welt zum Inhalt hat! Der bloße Umstand, daß jemand ein Interesse verfolgt, soll der Grund dafür sein, daß er seinem Nächsten schwer an den Karren fährt und ihn schädigt. Als wäre mit der bloßen Differenz von Interessen bei Hans und Franz ein Gegensatz beider gegeben. Die Gegensätze, die tatsächlich die Welt bevölkern, werden damit vom Konto der tatsächlichen Urheber abgebucht und dem Menschen schlechthin in Rechnung gestellt: Das kapitalistische Geschäft mit dem Wohneigentum ist da für manche Querele zwischen Mieter und Vermieter gut; die betriebliche Kalkulation der Ernährung von Lohnarbeitern als Kosten für das Kapitalwachstum macht das Leben nicht gerade leichter. Und daß ein Staat Demonstranten verprügelt, deren Ego mit AKW oder Raketen nicht einverstanden ist, gehört auch nicht gerade zu den ewigmenschlichen Gegensätzen. So aber soll es der Mensch genau sehen: Er soll auf seinen Interessen nicht bestehen, sonst macht er sich zur Quelle des Unfriedens.
Die Tugend der Dankbarkeit ist das passende Gegenstück dazu. Wann immer der Mensch etwas hat, soll er es als unverdiente Gnade auffassen und Dankbarkeit bezeugen. Kurzum: Die Anthroposophie proklamiert hier einen untertänigen Umgang mit den eigenen Interessen, der dafür sorgt, daß die maßgeblichen Interessen dieser Welt prächtig bedient werden und zum Zug kommen.
Das ist nicht einmal die Erfindung Steiners, sondern das Programm aller Pädagogik. Steiners Originalität liegt darin, daß er für seinen Tugendkatalog eigens das Prinzip des Geistig-Göttlichen sich hat einfallen lassen: Dem entnimmt er als quasi objektive Qualität, was er an Erziehung/ordert. Und insofern jeder Hosenmatz als Verkörperung dieses Geistig-Göttlichen behauptet wird, kommt auch die Bauernschläue aller Pädagogik voll zum tragen: Wann immer das Kind, ob mit oder ohne Watschen, unter das Erziehungsziel gebeugt wird, darin wird ihm zutiefst entsprochen, weil nur sein eigenes, ihm innewohnendes Prinzip verwirklicht wird.
Für dieses Programm ist der Gebrauch des Verstandes störend. Daher darf die Verstandesbildung laut Steiner erst einsetzen, wenn das Kind durch begriffslose Aneignung, vermittelt über (Nachahmungs-)'Iriebe und Gefühle (für den Lehrer) die Moral schon gefressen hat. Wenn der Verstand gelernt hat, Frieden im Umgang mit den Menschen, Demut, Selbstlosigkeit usw. als lügenden zu akzeptieren, die dem Menschen zu seinem wahren Selbst und dem Karma zu einer frisch-fromm-fröhlichen Auferstehung verhelfen, dann erst ist auch der Verstand dran. Dann darf das Menschlein schon mal nach Begründungen fragen, denn es steht zu erwarten, daß es sich mit Antworten wie, in den lügenden walte die göttliche Weltordnung bzw. sie entsprächen der wahren Menschlichkeit, zufrieden gibt.
Das Lob des Verstandes, wenn er die gewünschten Antworten zuwege bringt, wird deswegen von Steiner auch groß geschrieben:

"Es schlummern in jedem Menschen Fähigkeiten, durch die er sich Erkenntnisse über höhere Welten erwerben kann." (1,93)

Da sind Erkenntnisse über die "niedrigen Welten" nur störend.

Literaturnachweis:

(I) J. Hemleben (Hg), R. Steiner in Selbstzeugnissen, Reinbeck 1963
(II) Über die Erziehungsfrage, in: R. Steiners Anthroposophische Menschenkunde und Pädagogik, Dornach
(III) Die Kunst der moralischen und physischen Erziehung, in: R. Steiners Anthroposophische Menschenkunde, Dornach
(IV) Allgemeine Menschenkunde als Grundlage der Pädagogik, R. Steiner, Dornach
(V) Vom Lehrplan der freien Waldorf-Schulen, Stuttgart 1962
(VI) Erziehung zur Freiheit, Die Pädagogik Rudolf Steiners, Franz Carlgren, Stuttgart 1972