Die Prinzipien der Waldorf-Pädagogik

Steiner leistet sich den Luxus, den Beweis der Überlegenheit seiner Erfindungen über den Menschen praktisch anzutreten. Und dies, wo solche Erfindungen dafür wirklich nicht gedacht sind. Daß m allem, was existiert ein göttliches Prinzip herrsche, mag ein Angebot an eine nach Sinn dürstende Menschheit sein, wenn ihr denn gar nicht einleuchten kann, warum ihr immer so übel mitgespielt wird. Aber das Ewig-Göttlich-Geistige praktisch zur Handlungsmaxime zu machen, das ist doch ziemlich heikel.
Rausgekommen ist eine Schulform, deren Resultate der staatlichen Schulaufsicht irgendwie eingeleuchtet haben müssen. Den staatlichen Segen haben diese Schulen jedenfalls.
Daß der Tugendkatalog der Waldorf-Pädagogik einem modernen demokratischen Kultusminister ein Dom im Auge sein müßte, läßt sich ja nun wirklich nicht behaupten. Schließlich lernen Kinder auf der Waldorf-Schule auch Lesen, Schreiben, Rechnen, eine Fremdsprache und staatsbürgerlichen Anstand. Kapitalistisches Privateigentum und demokratischer Wahl-Klimbim sind mit dem Ewig-Geistigen offensichtlich gut verträglich und die sonstigen Spinnereien der Anthroposophen (Eurythmie, Geschichte als Mythologie, die verpönten rechten Winkel in der Architektur, die fast religiöse Goethe-Verehrung usw.)'stören nicht groß. So dürfen denn die Anthroposophen glauben, daß in ihrer Schule rein die Anthroposophie bestimmt, was sich für die Menschennatur gehört und nicht die staatlichen Lehrplankomission.

Das Prinzip l

der Waldorf-Pädagogik -

"Es handelt sich also darum, aus der Natur des Kindes selbst abzulesen, was unterrichtend mit dem Kind geschehen soll." (II, 115)

- ist einerseits der alte, neue pädagogische Unfug, die Notwendigkeit der Erziehung ausgerechnet mit lauter Argumenten, die ihre völlige Überflüssigkeit begründen, ableiten zu wollen. Denn im Kind soll ja bereits alles stecken, was Erziehung erst aus ihm machen will. Andererseits möchte sie darauf bestehen, Lehrplankomission und pädagogische Legitimationswissenschaft zugleich zu sein. So werden denn alle Glaubensartikel über die Kindesentwicklung ganz streng zur "Ableitung' des anthroposophischen Lehrplans herangezogen. Weil sich aber aus dem Verlust der ersten Zähne ebensowenig wie aus dem Verlust der letzten Haare irgendein Unterrichtsinhalt ableiten läßt, geht's dabei lustig zu:

"Das kleine Kind hat bis zum Zahnwechsel sein Seelenleben am stärksten durch die Bewegungen seiner Gliedmaßen zum Ausdruck gebracht, es erlebt sich nach dem Zahnwechsel mehr im Rhythmus seiner Atmung und seiner Blutzirkulation. Es hat daher (!!) zu allem, was in Reim, Rhythmus und Takt sich gestaltet, ein instinktives (!) Verhältnis." (V, 11)

Und das etwas größere Kind:

"Nun (vom 12. Jahre an) ergreift der junge Mensch sein Skelett, indem er gleichsam vom Muskel über die Sehne zum Knochen übergeht, seine Bewegungen verlieren Rhythmus und Anmut, werden eckig, ungeschickt, willkürlich. ... Alles aber, was im Leben und (?) in der Wissenschaft einer mechanischen Gesetzmäßigkeit unterliegt, kann dem Schüler erst jetzt (!!) mit Nutzen und ohne Schädigung nahegebracht werden, wo sich sein seelisch-geistiges Wesen stärker mit der Mechanik seines Knochensystems verbindet." (V, 25)

Und kurz bevor er platzt, darf er dann die Dampfmaschine kennenlernen.
Ohne große Mühe und mit eben derselben Berechtigung ließe sich auch vor all dem, was da "erst jetzt ohne Schädigung" verabreicht werden darf, eine Warnung aussprechen: bloß keine flotten Rhythmen, bevor nicht die neuen Beißerchen nachgewachsen sind oder viel Rhythmus und Takt gegen eckige, ungeschickte Bewegung. Etwa nach folgendem, ebenfalls original anthropo-sophischen

Prinzip 2

"Ein aufgeregtes Kind muß man mit roten oder rotgelben Farben umgeben und ihm Kleider von solchen Farben machen lassen, dagegen ist bei unregsamen Kindern zu blauen oder blaugrünen Farben zu greifen. ... Es kommt nämlich auf die Farbe an, die als Gegenfarbe (!!) im Innern erzeugt wird." (VI,182)

Hauptsache alles, was im Unterricht vorkommt, kann als Mittel zur naturgemäßen Beförderung des Ewig-Geistigen behandelt werden. Nichts wird unterrichtet oder beigebracht, damit es nachher gekonnt und gewußt ist. Alles hat eine Funktion zur Hervorbringung dessen, was als Geistiges im Menschen angelegt ist. Dabei versteht es sich von selbst, daß die Formen, in denen sich diese geistige Erweckungspädagogik abspielt, ihrem hehren Zweck entsprechen müssen: Dem Ewig-Geistigen auf der Spur muß man "Hören und Lauschen können".

Prinzip 3

lautet also: es hat eine Atmosphäre der "Andacht und des Verehrens" zu herrschen:

"Niemand kann sich höhere Erkenntnis aneignen, der sie nicht empfängt. Und dieses Empfangen-Können bedeutet vor allem die Fähigkeit der Geduld, des Warten-Könnens, der Erwartung zu pflegen.... Höhe des Geistes kann nur erklommen werden, wenn durch das Tor der Demut geschritten wird." (I, 94f)

Demut dem Eigentlichen im Menschen selbst gegenüber, Andacht als Haltung, es zu erfahren usw. gibt es nur dort, wo jedes Urteilen durch die grundlose Verehrung des Gegenstandes ersetzt ist. Und grundlos muß sie sein, die Verehrung. Denn - und damit schließt sich der methodische Zirkel - nach Gründen zu fragen, hieße bereits, sich selbst als Instanz, die über Maßstäbe zur Beurteilung des Verhältnisses von Wollen und Sollen verrügt, ins Spiel zu bringen. Das wäre gar nicht demütig, wäre undankbar usw., weswegen man des Ewig-Geistigen denn auch nicht teilhaftig werden könne.

Prinzip 4

Die Erzieher sind recht eigentlich "Priester" (II, 181)

"Wir sind die Pfleger der göttlich-geistigen Weltordnung, wir sind die Mitarbeiter, die das Ewige im Menschen pflegen wollen." (II, 179) -

und dürfen also solche gelegentlich schon mal aus der Rolle fallen und Strafen austeilen:

"Die einzig mögliche (Theorie über Strafe) findet man nur, wenn man weiß, daß es sich darum handelt, mit der Strafe die Kräfte der Seele so anzuspannen, daß das Bewußtsein sich erweitert über die Kreise, über die es sich vorher erstreckt hat.... Eine körperliche Strafe, von einer respektierten erwachsenen Person erteilt, kann mitunter einen günstigen, aufschreckenden Effekt haben." (VI, 172f)

Eine Tracht Prügel zum richtigen Zeitpunkt wirkt oft Wunder, hat schon mein Vater immer gesagt, wenn er zuschlug. Er wußte, daß er Gewalt als Mittel einsetzte, den widerspenstigen Willen zu brechen. Für die Anthroposophie stellt sich das anders dar: Da werden nur "Hindernisse hinweggeräumt", die sich der natürlichen Entfaltung des "ewigen Wesenskerns" in den Weg gestellt haben. Ein abweichender Wille, der vielleicht von Dankbarkeit und Hilfsbereitschaft nicht viel hält, wenn er dafür keine Gründe weiß, ist nicht vorgesehen. Der zeugt eher von ungesunder Seelenverstopfung:

"Das Kind hat in seinem Inneren Kräfte, welche es zersprengen, wenn sie nicht heraufgeholt werden in bildhafter Darstellung. Und was ist die Folge? Verloren gehen sie nicht; sie breiten sich aus, sie gewinnen Dasein, treten doch in die Gedanken, in die Gefühle, in die Willensimpulse hinein. Und was entstehen daraus für Menschen? Es entstehen Rebellen, Revolutionäre, unzufriedene Menschen, Menschen die nicht wissen, was sie wollen..." (VI, 81)

Na bitte, irgendwie hat man es schon immer gewußt, daß der Rebell im Menschen eine Sache seiner Unnatur ist, daß folglich der "unzufriedene Mensch" nicht jemand ist, der nicht erhält, was er will, sondern einer, der gar nicht weiß, was er will. Er will eben etwas, was für die Anthroposphie ein von der "göttlich-geistigen Weltordnung" nicht vorgesehener Willensinhalt ist. Im vorgesehenen "natürlichen Willen", da gibt es nur das Bedürfnis nach Harmonie mit sich selbst. Was anderes ist von der "göttlich-geistigen Weltordnung" nicht geplant; selbst für den Fall nicht, daß die ganze Welt voll von Disharmonien ist, welche einen nicht dazu kommen lassen, das Göttlich-Geistige zu entfalten. Da wird der Anthroposoph schon zum Ankläger des "Unfriedens in der Welt", der "Ausbeutung", der "Zerstörung der Natur" und der Züchtung "von Egoismus und Materialismus". Auch das stört ihn. Jedoch nichts stört ihn als das, was es ist: Der "Unfrieden" nicht als Krieg, in den imperialistische Staaten ihre Leute schicken, um ihrer Souveränität neue und größere Geltung zu verschaffen. Die "Ausbeutung" nicht als die Benutzung und Perpetuierung der Armut des Lohnabhängigen für fremden Kapitalreichtum. Und die "Zerstörung der Natur" nicht als kapitalistischer Zugriff auf eine der natürlichen Springquellen jeden Reichtums. All das ist dem bornierten Standpunkt des Anthroposophen nur in einem störend. Es gilt ihm als irdischer Anschlag auf die Verwirklichung seines Harmonieideals. Und jenes ist es auch, welches ihm verbietet, auf die Störung, die die Welt für ihn darstellt anders denn mit der Demonstration seiner harmonietrunkenen Alternative zu antworten; sonst wäre ja die ganze Arbeit am Karma umsonst!

Literaturnachweis:

(I) J. Hemleben (Hg), R. Steiner in Selbstzeugnissen, Reinbeck 1963
(II) Über die Erziehungsfrage, in: R. Steiners Anthroposophische Menschenkunde und Pädagogik, Dornach
(III) Die Kunst der moralischen und physischen Erziehung, in: R. Steiners Anthroposophische Menschenkunde, Dornach
(IV) Allgemeine Menschenkunde als Grundlage der Pädagogik, R. Steiner, Dornach
(V) Vom Lehrplan der freien Waldorf-Schulen, Stuttgart 1962
(VI) Erziehung zur Freiheit, Die Pädagogik Rudolf Steiners, Franz Carlgren, Stuttgart 1972