Warum Waldorf-Pädagogik "alternativ" ist

Es gäbe einige Gründe, Kritik an dem Treiben in der Regelschule anzumelden: Prüfungen, Zensuren, Sitzenbleiben, Konkurrenz um Noten usw. geben Aufschluß über den Zweck dieser Bildungsveranstaltung. Als Schüler hat man seinen Verstand so zuzurichten, daß man sich den vorgesetzten Stoff zu dem Zweck reinzieht, im Vergleich zu anderen Schülern besser beurteilt zu werden. Der staatliche Zweck ist die Herstellung des Materials für seine Berufshierarchie: Die Guten gehen aufs Gymnasium und haben die Chance auf einen Professorenposten, die Schlechten können mit dem Hauptschulabschluß oder sogar ohne darauf hoffen, noch Hilfsarbeiter oder ähnliches zu werden.
Doch daß Noten diese für die Aussortierten höchst ungemütliche Verteilung zuwegebringen, ist nicht der Inhalt der Kritik, die Anthroposophen an der Regelschule üben. Ihre Sorte Kritik trifft sich im übrigen mit Alternativpädagogen und fortschrittlichen Eltern, die ihre Kinder vor der repressiven Erziehung der Regelschule bewahren wollen. Weswegen es auch sehr gerecht ist, wenn einigen Alternativen die Waldorf-Schule ziemlich alternativ vorkommt. Sie entdecken in der Tat einige ihrer Lieblingsspielzeuge - Unterricht ohne Noten, praxisorientierter und Projektunterricht, angstfreies Lernen, Naturverbundenheit, Förderung der Kreativität -dort wieder.
Man kann dasselbe natürlich auch kritisch gegen die Anthroposophie wenden, ihr zwar zugute halten, daß es dort keinen Konkurrenzdruck etc. gebe, aber das jenseitige Brimborium der Steiner-Pädagogik suspekt finden. Seltsamerweise werden solche Kritiker der Waldorf-Schule gar nicht stutzig über ihre eigenen Ideale von Schule, wenn sie bemerken, daß dieselben offenbar wunderbar in das religiös-philosophische Weltbild Steiners passen.

Beispiel l: Keine Noten = keine Erziehung zum egoistischen Ellenbogendenken

Alternativpädagogen haben an Noten auszusetzen, sie seien nicht objektiv, sorgten außerdem für Schulangst und ein mieses Konkurrenzklima statt für Solidarität unter den Schülern. Deswegen ziehen manche die Waldorf-Schule einer Regelschule vor, weil man dort sein Abitur auch ohne dauernden Notendruck kriegen kann.
Für Steiner hat dieselbe Notenkritik einfach einen tieferen Sinn: Noten stacheln die Kinder zu Konkurrenzdenken an, was für Steiner - wie für andere Alternatives auch - unter Egoismus fällt. Wer in der Schule auf seinen Vorteil bedacht nach guten Noten strebt, der vergeht sich nach Steiner an seinem eigentlichen Ziel, nämlich der Verwirklichung des Ewig-Göttlich-Geistigen. Schließlich ist der Mensch für Steiner qua Natur ein Teil eines harmonischen Ganzen, welches mit dem Kosmos auch den lieben Nächsten einschließt. Und so betrachtet entfernt sich der Mensch von sich selbst, wenn er in Konkurrenz zu anderen seinen Vorteil erreichen will. Statt sich in der bestimmungs-gemäßen Harmonie mit der Welt und den Mitmenschen zu befinden, schwingt er sich zum Nutznießer, also zum Herren des Kosmos auf. Das bedeutet Disharmonie, und Disharmonie macht krank. Demut ist also angesagt. Bei dieser Selbstfindung stören nach Steiner die Noten.
Fazit: Alternativpädagogen sind sich einerseits mit Steiner durchaus einig in Sachen Notenkritik: Nicht, daß das Resultat der schulischen Konkurrenz ein angenehmes Leben für die meisten ausschließt, finden sie skandalös. Ganz im Gegenteil: Daß die Schule dieses Ziel auf "unterschiedlichen Wegen" anstrebt, stinkt ihnen. Wir finden: Wer diese reaktionäre Moral unterschreibt, soll bei Steiners Mystizismus nicht zimperlich werden. Daß der kosmische Weltgeist den Eigennutz für die Menschennatur nicht vorgesehen hat, ist doch eine sehr passende Philosophie, wenn man den Leuten ihr eigenes Interesse an einem guten Leben als Verstoß gegen ihr eigentliches Bedürfnis nach Freiheit von diesem Interesse andichten will.

Beispiel 2: Handwerklich-künstlerische Orientierung = keine Verkopfung

Alternativpädagogen finden handwerklich-künstlerische Elemente des Unterrichts höchst fortschrittlich. Da kann endlich der ganze Mensch seine Kreativität entfalten, statt von verkopftem Unterricht an seiner Selbstverwirklichung gehindert zu werden!
Steiner unterschreibt diesen Anti-Intellektualismus sofort. Natürlich wird der Mensch vergewaltigt, wenn man ihn durch Wissen über die Welt theoretisch zum Herren über sie macht, ihm also die Voraussetzung an die Hand gibt, seine Umwelt auch praktisch in den Griff zu kriegen. Wo uns der Weltgeist doch zum Stäubchen bestimmt hat! Es geht Steiner eben darum, Demut und Dankbarkeit gegenüber dem Ewig-Geistig-Göttlichen ins Herz der Kinder zu versenken. Und für diesen Zweck erscheint ihm der Verstand, welcher Begreifen statt sich Einfügen zum Inhalt hat, als höchst unsicherer Kantonist, den er lieber umgangen sehen möchte.
Pardon, das möchte natürlich nicht Steiner, sondern das Kind selbst. Dessen Entwicklung hat er nämlich abgelauscht, daß handwerkliches Treiben für die Kiemen genau das richtige Transportmittel seiner Ideologie ist. So nämlich "macht jeder Schüler die Erfahrung: Das Material hat auch einen eigenen Willen. Wenn man die Eigenart der betreffenden Holzart nicht entsprechend respektiert, zersplittert es." (Erziehung zur Freiheit, F. Carlgren, S. 108) Wenn man im Kopf noch halbwegs bei Trost ist, dann könnte einem der Widerspruch an Steiners Behauptung auffallen: Daß ein Stück Holz bei sachgemäßem Umgang frei verfügbares Material für menschliche Vorhaben ist - man kann es ebensogut verbrennen wie verzieren - soll ausgerechnet beweisen, daß in diesem Stück Holz ein mit eigenem Willen begabtes Subjekt vorliegt, dem man untertänigsten Respekt zu zollen hat. Was will es denn nun? Damit das einem Kind einleuchtet, ist eben schon ein bißchen mehr als handwerkliche Betätigung nötig. Diese verkehrte Theorie erfährt nämlich kein Kind, wenn ihm wegen unsachgemäßer Handhabung ein Stück Holz zersplittert. Denn die Erklärung dieses Sachverhalts kann man nicht erleben. Da muß man den Kopf schon ein bißchen in Aktion setzen. Aber da werden Anthroposophen schon nachhelfen und dem Kind beibiegen, was es nun "erfahren" hat!

Fazit: Alternativpädagogen und Anthroposophen sind sich durchaus einig in ihrer Abscheu vor dem Intellekt. Beide wittern im Interesse an Wissen eine Störung der Harmonie zwischen Mensch und Welt. Wer nämlich der Welt die Frage aufmacht, "WARUM" sie so ist, wie sie ist, ist theoretisch auf Distanz gegangen und behält sich damit vor, nur vom Urteil über die Welt abhängig zu machen, ob er sich in Übereinstimmung mit ihr befindet. Wenn Kinder also zu der devoten Haltung erzogen werden sollen, auf Biegen und Brechen in der Welt eine Gelegenheit zur Selbstverwirklichung zu entdecken, dann läßt man solche Fragen besser nicht aufkommen. Das könnte nur Gräben zwischen Kind und Welt aufreißen. Ob man dieses Erziehungsprogramm wie Alternatives nun besser mit dem Nutzen begründet, den es für ein sinnerfülltes Leben bringt oder wie Steiner als natürlichen Weg zur Teilhabe am geistig-göttlichen Weltprinzip vorstellig macht, ist dabei scheißegal.

Literaturnachweis:

(I) J. Hemleben (Hg), R. Steiner in Selbstzeugnissen, Reinbeck 1963
(II) Über die Erziehungsfrage, in: R. Steiners Anthroposophische Menschenkunde und Pädagogik, Dornach
(III) Die Kunst der moralischen und physischen Erziehung, in: R. Steiners Anthroposophische Menschenkunde, Dornach
(IV) Allgemeine Menschenkunde als Grundlage der Pädagogik, R. Steiner, Dornach
(V) Vom Lehrplan der freien Waldorf-Schulen, Stuttgart 1962
(VI) Erziehung zur Freiheit, Die Pädagogik Rudolf Steiners, Franz Carlgren, Stuttgart 1972