Inhalt

I. Philosophie ohne Ende oder "Ultima Philosophia"

Auch wir als dogmatische Marxisten können unserem Lehrmeister einige Vorwürfe nicht ersparen. Nicht nur, daß unser Karl Marx partout der Meinung war, just er müsse an Abraham Lincoln schreiben und seine Wiederwahl als großen Sieg der Arbeiterklasse feiern, können wir ihm nicht verzeihen (MEW 16, S. 18); auch und vor allem die These vom ,Ende der Philosophie' halten wir für einen seiner wenigen Irrtümer. Gleich zwei saudummen Dogmen der Bourgeoisie gibt dieses Fehlurteil Anlaß zur empirischen Bestätigung. Erstens kommt hier die historische Widerlegung des Marxismus unverdient zum Zug: Hat nicht die Geschichte gezeigt, daß die Philosophie munter weiterlebt und damit der Prophet Marx eben wie fast alle Propheten ein falscher war? Gibt es nicht in unseren Tagen mehr und vor allem besser genährte Philosophen als je in der Geschichte der Menschheit?

Zweitens muß der Marxist der Bourgeoisie immerhin in bezug auf ihr eigenes Denken recht geben, wenn diese gegen den Marxismus einwendet, er lasse sich eine "irrationale Überschätzung menschlicher Vernunft" zuschulden kommen (Philosoph Becker, der ja wissen muß, wie es um seine menschliche Vernunft steht; "Die Achillesferse des Marxismus", S.137). Marx war in seinem "Vernunftoptimismus" nämlich der irrigen Auffassung, es ginge dem Denken um Erkenntnis, und Philosophie habe angesichts der Entstehung positiver Wissenschaft, die wirkliche Gegenstände erklärt, ihre Schuldigkeit getan:

"Da, wo die Spekulation aufhört, beim wirklichen Leben, beginnt also die wirkliche, positive Wissenschaft, die Darstellung der praktischen Betätigung, des praktischen Entwicklungsprozesses der Menschen. Die Phrasen vom Bewußtsein hören auf, wirkliches Wissen muß an ihre Stelle treten. Die selbständige Philosophie verliert mit der Darstellung der Wirklichkeit ihr Existenzmedium." (MEW 3, S.27)

Wie man sich täuschen kann, wenn man der Philosophie, die man selber in Grund und Boden kritisiert hatte, zugute hält, sie sei an wirklichem Wissen interessiert! Statt ihr Existenzmedium zu verlieren, hat sie es durch die Herausbildung der Einzelwissenschaften erst so richtig gesichert. Unermüdlich bestehen Philosophen darauf, eine Sorte "Erkenntnis" zu pflegen, zu der die Wissenschaften nicht in der Lage seien. Ohne auch nur einer einzigen Disziplin einen Fehler nachzuweisen, distanzieren sie sich mit lauter Argumenten für Skepsis von der bloßen Bemühung um Objektivität. Selbst den Naturwissenschaften sagen sie die wüstesten methodischen Kunstgriffe nach, die dem Philosophen dann immer nur eine Gewißheit offenbaren: sie scheitern, weil sie Sicherheit im Wissen nicht garantieren. Gleichgültig gegen die tatsächlichen Leistungen der Naturwissenschaft, die immerhin ein paar Gesetze der Natur zu ihrem Wissen zählt, die immerhin wegen dieses Wissens ein wenig dazu beigetragen hat, daß Philosophen auch nicht mehr in Höhlen oder Fässern hausen müssen, verkündet eine ganze elitäre Denkergemeinde, daß die eigentliche Wahrheit und der Weg und das Leben bei ihr zu Hause wären. Höhnisch verhandeln sie über »empirische" oder "exakte" Wissenschaft, die schon deswegen mangelhaft sei, weil sie die Fragen der philosophischen Grundwertekommission einfach nicht zu ihrer Sache erklärt. Darüber ist sogar manchem Naturwissenschaftler seine philosophische Ader bewußt geworden, so daß es in der ansonsten durchaus rationalen Zunft lauter Überläufer zum Gewerbe des Sinnsuchens gibt.

Kaum Schwierigkeiten haben Philosophen heutzutage mit den Geistes- und Gesellschaftswissenschaften. Deren Forschen und Lehren ist schon ganz vom philosophischen Geist durchdrungen; einerseits, was die organisierte Skepsis anlangt, die im programmatischen Modell- und Hypothesenbilden kräftig zum Zug kommt; andererseits im dazugehörigen Pluralismusgebot, das den unent-scheidbaren Wettstreit von "Theorien" festschreibt, die um die beste Fassung des Sorgerechts für den Gegenstand konkurrieren. Moralisierende Funktionalisten der Sache, denen ihre Vorliebe gilt, sind sie darüber alle geworden, so daß der Philosophie nunmehr die abstrakten Prinzipien des Könnens und Dürfens und Sol-lens den Stoff liefern. Sie deuten und legitimieren die Welt, indem sie verhandeln, wie sich Theorie und Praxis für den Menschen ziemen.

In dem auch von Philosophen stets bejammerten Prozeß der Ausgliederung aller wirklichen Gegenstände aus der ursprünglichen Domäne der prima philosophia hat sie als Philosophie gewonnen, was sie als Wissenschaft verlor. Wird nun alle Welt von der Naturwissenschaft oder der Ökonomie, von Soziologie und Psychologie, oder von mehreren zugleich untersucht, so hat die Philosophie in dieser Entwicklung immerhin erreicht, daß von ihr niemand mehr erwartet, sie würde Urteile über wirkliche Gegenstände fällen - das machen ja die anderen schon.

Ihre Spezialität hat sie so erst richtig ausbilden können: wissenschaftliche Untersuchung unwirklicher Gegenstände oder unwissenschaftliche Betrachtung der Wirklichkeit - was dasselbe ist. Sie hat sich vom Zwang zum Argument befreien können, dem sich der philosophische Geist zur Zeit Kants und Hegels noch verpflichtete. "Freiheit zum Objekt" ist die Parole, unter der heute philosophiert wird, und endgültig frei gemacht hat man sich von der klassischen Forderung Hegels, Philosophie habe Wissenschaft zu sein, die schon damals falsch war. Wie weit es die Philosophie in der Ausbildung ihrer Eigenart gebracht hat, beweist die Militanz und das' gediegene Selbstbewußtsein, mit dem sie unangemessene Erwartungen zurückweist:

"Die Geschichte der Philosophie ist "eine permanente(n) Mißlingens, wie sie dem Handfesten" (ja das darf ein Philosoph nicht) "immer wieder, terrorisiert (!) von der Wissenschaft, nachgehängt hat. Ihre positivistische" (Wissenschaft ist Positivismus) "Kritik verdient sie durch den Anspruch auf Wissenschaftlichkeit, den die Wissenschaft verwirft," (die hätte man besser nie beansprucht, deshalb:) jene Kritik irrt, indem sie die Philosophie mit einem Kriterium konfrontiert, das nicht ihres ist (!!)... Philosophie ist weder Wissenschaft noch Gedankendichtung" (stimmt, auch schön ist sie nicht!), "sondern eine zu dem von ihr Verschiedenen ebenso vermittelte wie davon abgehobene Form." (Th.W.Adorno: Negative Dialektik. Frankfurt 1966, S. 113)

Wer sich derart von Adorno sagen lassen muß, daß die Philosophie weder das Weder, noch das Noch ist, sondern vielmehr, weil sie keinen Inhalt kennt, eine Form; wer ferner sich dahingehend belehren lassen muß, daß diese, für sich nicht besonders vielsagende Form deswegen Philosophie ist und nicht Back- oder Sonatenhauptsatzform, weil sie zu dem, was sie weder-noch ist, Beziehungen unterhält, der merkt etwas von dem Triumph, den die moderne Philosophie gegenüber dem Mann heraushängen läßt, der sie totsagte, bloß weil er sie kritisiert hatte. Marx ignorierte das Interesse, das im Kapitalismus an Anti-Wissenschaft bleibt.*) Als ob aus Unwissenheit Philosophie statt Wissenschaft betrieben würde und nicht aus dem unverhohlenen Interesse, im "wissenschaftlichen Zeitalter" dem Irrationalismus "rational" seinen staatserhaltenden Platz zu sichern!

Rechte Philosophen haben nie daran gezweifelt, daß vor der "Verbreitung technischer Denkmodelle" zu warnen ist, weil die Naturwissenschaft und damit die Beherrschung der Natur Vorbild für das soziale Leben werden und eine "letzte Verzichtsbereitschaft" (Arnold Gehlen) der Massen untergraben könnte. Linke Kollegen erweisen Marx hämisch ihre Reverenz, indem sie das Resultat seiner Philosophiekritik zum Ausgangspunkt einer endlos ausgewalzten und stets beliebten rhetorischen Frage machen: »Wozu noch Philosophie?". Natürlich ist das keine Frage, sondern die Kundgabe eines Interesses, das dem Berufsphilosophen die Pfründe sichert, weil es sonst von niemandem verfolgt wird:

"Nur Denken, das ohne Mentalreservat (dort kommen die geistigen Indianer hin), "ohne Illusion des inneren Königtums seine Funktionslosigkeit und Ohnmacht (!!!) sich eingesteht, erhascht vielleicht einen Blick in eine Ordnung des Möglichen, Nichtseienden, wo die Menschen und Dinge am rechten Ort wären. Weil Philosophie zu nichts gut ist (!), ist sie noch nicht verjährt." (Th.W.Adorno: Eingriffe. Frankfurt 1963, S.26)

Daß ein Blick in das, was es nicht gibt, nottut, auch wenn er völlig nichtsnutzig ist, versteht sich. Die Erforschung des "Nichtseienden" freilich ist - nach den Worten des alten Briest - "ein weites Feld".

Dabei hatte die Philosophie inzwischen doch ihre Vollendung gefunden. Nicht, wie noch Marx meinte, mit Hegel, sondern mit dem anderen Schwaben Martin Heidegger. Marx hielt Hegel für den Höhe- und Endpunkt der Spekulation, weil er diese bis an die Grenze zur Wissenschaft getrieben hatte. Der wirkliche Vollender der Philosophie hat ihren wissenschaftsfeindlichen Charakter auf die Spitze getrieben. Seine intellektuelle Absage ans Denken bringt den Fehler der Philosophie pur zum Ausdruck - philosophisch ausgedrückt: Er bringt ihn praktisch auf den Begriff.

Drei Charakteristika dieser Art geistiger Betätigung weisen Heidegger als den nicht zu überbietenden Großmeister aus:

— Anders als seine Philosophiekollegen, die Moral-, Sozial-, Geschichte- usw. -Philosophie betreiben, und sich so immerhin noch eine Erinnerung an einen wirklichen Gegenstand erhalten, macht sich dieser Totalphilosoph nicht mehr die Mühe, seine Sinnsprüche als Urteile über einen Gegenstand aufzubereiten: Er spricht buchstäblich über nichts mehr, was es gibt, er ist Seinsphilosoph.

— Er praktiziert den wissenschaftsfeindlichen Charakter unmittelbar, indem er nicht einfach falsch denkt, sondern ganz die antiintellektuelle Attitüde der Philosophie lebt:

"Und die philosophische Arbeit verläuft nicht als abseitige Beschäftigung eines Sonderlings. Sie gehört mitten hinein in die Arbeit der Bauern."

Und die Bauern sind nämlich die lebendige Inkarnation der Weisheiten, die die Philosophie zu bieten hat; der Idiotie des Landlebens kann man diese Weisheiten ablauschen, man muß sich nur wie Heidegger

"zur Zeit der Arbeitspause (!) abends mit den Bauern auf der Ofenbank... oder am Tisch im Heirgottswinkel" treffen: "... dann reden wir meist gar nicht. Wir rauchen schweigend unsere Pfeifen."

Getreu dieser antiintellektuellen Devise vollendet er auch den Gedankengang der Philosophie zum kompletten Blödsinn, dessen allgemein bekanntgewordenes Merkmal die zum Zwecke des Tiefsinns reihenweise neu erfundenen Tautologien sind:

"Die Welt ist nie, sondern weitet." (Wesen, S.101)

— Schließlich geniert sich der Vollender philosophischen Denkens auch nicht, deutlich auszusprechen, daß die Feier des Sinns, des Todes und der abstrakten Freiheit im Gegensatz zum Bedürfnis die universitäre Form des faschistischen Gedankengute ist. Er war sogar bereit, für diese Einsicht praktisch einzustehen, wurde 1933 Rektor in Freiburg und erfand prompt als Ergänzung des Wehr- und Arbeitsdienstes einen Wissensdienst an der Nation.


*) Er hielt die Vulgarisierung der Philosophie nach Hegel für einen historischen Witz - was sie vom Standpunkt der Wissenschaft und Wahrheit aus ja wirklich ist. Die Dummheit dieser Traktate macht sie aber gerade zeitgemäß - weshalb die aus der Auflösung der Philosophie hervorgegangenen Geisteswissenschaften zu Unrecht von Marx als leichte und unbedeutende Gegner behandelt wurden. Comte, der Vater der Soziologie, galt Marx als modische Eintagsfliege:
"Ich studiere jetzt nebenbei Comte, weil die Engländer und Franzosen so viel Lärm um den Kerl machen. Was sie daran besticht, ist das Enzyklopädische, la synthese. Aber das ist jammervoll gegen Hegel. (...) Und dieser Scheißpositivismus erschien 1832!" (MEW 31, S.232)