a) Die Kraft seines Gedankens beweist Heidegger einmal - wie alle Vertreter von Sichtweisen durch irgendwelche Brillen - dadurch, daß man seine Abstraktion von allen Bestimmungen der Dinge machen kann. Konsequent stellt er durch einen einzigen Gedankenschritt an jedem Thema - es mag sein, was es will - "das Sein heraus", und so die Wirklichkeit als einen Vordergrund, als bloße Erscheinung hin, mit der wir uns nie begnügen dürfen. Dieser Gedankenschritt besteht ausnahmslos darin, die in Rede stehende Sache zu verdoppeln, in sich als Wirklichkeit und sich als Bedingung ihrer eigenen Möglichkeit. So eröffnet er die höhere geistige Welt der allgemeinen Ideen: einmal ausdrücklich und methodisch
"Wir müssen Wirklichkeit verstehen können vor aller Erfahrung von Wirklichem. Dieses Verstehen von Wirklichkeit bzw. von Sein im weitesten Sinne gegenüber der Erfahrung von Seiendem ist in einem bestimmten Sinne früher als das letztgenannte." (Grundprobleme, S. 13)
Oder:
"Fragen wir nach der Technik", dann natürlich gleich nach "dem Wesen" der Technik; "dieses ist ganz und gar nichts Technisches". Technik ist ein "Her-vor-bringen", solches "ereignet sich nur insofern Verborgenes ins Unverborgene kommt." "Die Technik ist also nicht ein bloßes Mittel. Die Technik ist eine Weise des Entbergens, d.h. der Wahrheit." "Wer vollzieht das herausfordernde Stellen, wodurch das, was man das Wirkliche nennt, als Bestand entborgen wird? Offenbar der Mensch. ...Allein über die Unverborgenheit, worin sich jeweils das Wirkliche zeigt oder entzieht, verfügt der Mensch nicht. ... Nur insofern der Mensch seinerseits schon herausgefordert ist..." Dieses aber ist er durch die Unverborgenheit, in der er immer schon steht. Dadurch ist die Technik nicht "bloß ein Gemächte des Menschen", sondern umgekehrt ein Schicksal, das das Wesen der Technik ihm aufherrscht: "Das Wesen der Technik bringt den Menschen auf den Weg jenes Entbergens, wodurch das Wirkliche ...zum Bestand wird. Auf einen Weg bringen - dies heißt in unserer Sprache schicken. Wir nennen das versammelnde Schicken ...Geschick." (Technik, S. 5-21)
So schafft man mit dem "Wesen" nicht nur von der Realität verschiedene "eigentliche" Wirklichkeiten, sie sind auch das eigentliche Subjekt: Das Wesen der Technik ist die Unverborgenheit, also das Sein selbst, es fordert den Menschen zum Entbergen heraus. So steht er selbst im Gefolge des Zurufs des Seins" - kann also, dann und nur dann wenn er darauf verzichtet, sich als Subjekt seiner Naturbeherrschung zu betrachten, in dieser Welt beheimatet werden.
Heidegger liefert mit dem Vorführen, daß man alles Wirkliche als bloßen Vordergrund behandeln kann, kein Argument, warum man es sollte, sondern spekuliert unverschämt auf ein vorausgesetztes metaphysisches Interesse seines Publikums die Technik der rhetorischen Frage: "Wollen wir wirklich das Wesen der Technik?" unterstreicht das. Damit liegt er bei seinem Publikum auch gar nicht schief: Dieselbe Tour als Selbstinterpretation des menschlichen Lebens durchgeführt, gilt im Fach als die Überwindung des bloß theoretischen, möglichen Betrachtens und stößt als phänomenologische Auslegung des Seins, das wir selbst sind, auf sehr viel Verständnis. Der populärste Teil seiner Philosophie stellt seine Totalabstraktion als etwas hin, was wir immer schon machen und will zeigen, daß es nicht nur seine Idee ist, sondern der wirkliche Mensch um das Sein weiß und sich um sein Sein sorgt:
"Dasein, d.h. dasjenige Seiende, dem es um sein Sein geht."
b) Entsprechend werden nun Tätigkeiten und Lebenssituationen nach dem verschiedenen Grad der Erschlossenheit des Seins in ihnen unterschieden. Ganz schlecht sind alle Tätigkeiten, in denen der Mensch Subjekt seiner Unistände ist, seine Absichten weiß, und sie mit beherrschten Mitteln an einem Material gelten macht. Sei es Denken, sei es Technik, sei es Genuß - das sind lauter höchst unphilosophische Haltungen, die Heidegger gar nicht genug geißeln kann. In ihnen wird der Mensch entsubjektiviert zum "Man" und geht seiner Würde verlustig: Im technischen Beherrschen
"...geht der Mensch am äußersten Rand des Absturzes, dorthin nämlich, wo er selber nur noch als Bestand genommen werden soll. Indessen spreizt sich gerade der so bedrohte Mensch in die Gestalt des Herrn der Erde auf. ... Das Gefährliche ist nicht die Technik. Das Wesen der Technik ist als Geschick des Entbergens die Gefahr. ... Die eigentliche Bedrohung hat den Menschen bereits in seinem Wesen angegangen. Die Herrschaft des Gestells droht mit der Möglichkeit, daß dem Menschen versagt sein könnte, in ein ursprünglicheres Entbergen einzukehren und so den Zuspruch einer anfänglicheren Wahrheit zu erfahren." (Technik, S. 27 f.)
"Ausgezeichnete Befindlichkeiten", nämlich Situationen automatisch erschlossenen Seins sind solche, in denen der Mensch sich nicht als Subjekt seiner Umstände erlebt: Erfahrungen des Entgleitens, des Scheitems, der Angst und Gefahr, Krieg und Tod. Ja, wenn es dem Menschen an den Kragen geht, hat er endlich das philosophische Grunderlebnis, daß es ihm einerseits um sein In-der-Welt-sein-können und sonst gar nichts mehr geht, daß ihm die Entscheidung darüber aber nicht zu Gebote steht: Diese Erschlossenheit von Sein gibt dem Menschen gerade dort, wo er nicht Subjekt ist, seine Freiheit und Würde!
Solange einer macht, was er will, entgeht ihm seine seinsmäßige Beschaffenheit vollkommen, er meint glatt, es käme auf ihn an. Ihm entgeht die Geworfenheit und Zufälligkeit seiner selbst: So, hier, jetzt, ohne eigenen Entschluß ins Sein geworfen (!) worden zu sein, und wegen dieser Zufälle der zu sein, der man nun ist, und auf die Möglichkeiten reduziert zu sein, die man nun mal hat, - diesem schonungslosen Blick auf die eigene Nichtigkeit, soll das Subjekt sich stellen.
c) Ein zufälliges, gar nicht weltnotwendiges Wesen zu sein, und daran weder zu leiden, noch überhaupt darum zu wissen, ist für Heidegger das größte Unglück: so verfehlt der Mensch sich vollkommen, ist so vollkommen in die sinnlosen Zufällen seines Lebens untergetaucht und schwimmt in ihnen so mit, daß er sie noch nicht einmal mehr merkt. Selbst-Sein besteht demnach a) im Leiden daran, kein Gott zu sein, im Bewußtsein der Schuld der Beschränkung, nur der zu sein, der man nun einmal ist, und damit viele Möglichkeiten auszuschließen, die man nicht hat. Selbst-Sein besteht aber b) im Wählen der Wahl, die der blinde Zufall für das Individuum schon getroffen hat. Die Entschlossenheit zu dem beschränkten und zufalligen Leben, das das Schicksal einem ausersehen hat, macht das Selbstbewußte und Subjekthafte dieser trostlosen Kreatur aus: Wer ergreift und als eigene Seinsmöglichkeit annimmt, was er zufälliger- und sinnloserweise ist, ist frei. Der andere lebt bewußtlos im sinn- und zwecklosen Zufall dahin.
Dem Fach fuhrt Vordenker Heidegger damit den endgültigen Sinn vor: "Freiheit ist das Ja zur Notwendigkeit!" - so sehr, daß sich noch jede Erinnerung an einen Inhalt dieser Notwendigkeit verbietet, um dessen willen sie doch nur Anerkennung verdienen könnte. Heidegger braucht die, stets enttäuschte, gläubige Idee an ein positives Höheres (Gott, Frieden, Liebe, Glück) nicht mehr. Unanfechtbar, weil vom Glauben befreit, ist Heideggers Sinnkon-strukt schon: die reine Methode der Sinnsucherei predigt er als Haltung, und diese führt zu keinem von ihr unterschiedenen Sinngehalt mehr. Die Haltung einzunehmen ist der ganze Sinn! Höchste Selbstverleugnung als Selbst-Sein: Ja-Sagen zu dem in gar keiner Weise gewollten, selbst eingerichteten Leben ist nichts als die Erhabenheit gegenüber der eigenen Wirklichkeit. Sie verspricht dem Individuum nichts als eben diese Erhabenheit: Kein Glück, keinen Frieden auf Erden, keinen Lohn im Himmel.
Andere Moral- und Sinnphilosophen (z.B. auf dem Feld der Ökologie) wollen immer noch ein Gutes wissen, wofür sich Verzicht und Bescheidenheit lohnen sollen (Überleben der Menschheit, Frieden mit der Natur o.a.); Heidegger ist radikaler. Er kappt mit dem guten Zweck, für den sich Opfer lohnen sollten, zugleich den ganzen Legitimationsgruwd, warum man überhaupt Opfer auf sich nehmen sollte. Nur ein ohnehin schon sinnfanatisiertes Publikum merkt nicht mehr, daß mit dem anfechtbaren Glauben ans höhere Gute auch das Versprechen des ganzen Legitimationszirkus dahin ist, und freut sich über den Vorteil, der durch diese Konsequenz im Widersinn gewonnen wird: Der Widerspruch nämlich, daß Opfer sich lohnen sollten, wird aufgelöst. Wenn Opfer sich lohnen würden, dann wären sie keine, sondern so etwas wie Investitionen; wenn aber Opfer verehrt werden sollen, dann wegen ihrer selbst und nicht wegen einer opferwidrigen ideellen Vorteilsrechnung. Heidegger kämpft noch im Reich der höheren Titel gegen den ohnehin schon bloß ideellen Lohn, den sie versprechen:
"Mit dem Tod steht sich das Dasein in seinem eigensten Seinkönnen bevor ...Deshalb duldet das Opfer keine Berechnung... Die Sucht nach Zwecken verwirrt die Klarheit der angstbereiten Scheu des Opfermutes."
Leute, die die Interpretation der Menschennatur als einen Auftrag, ihr gerecht zu werden, auch sonst zu den unverdächtigen Aufgaben des philosophischen Berufs zählen, finden nicht einmal da etwas Anstößiges, wo die philosophische Interpretation mit der politischen Parole des Faschismus einmal direkt zusammenfällt: in der Propaganda der Aufopferung.
d) Zumal ein Lohn auch der Tugend des Seinsfans winkt: das elitäre Bewußtsein, um die eigene Tragik zu wissen und nicht so dumpf dahinzuleben, wie der Rest der geradezu entsubjektivierten Menschheit. Elitäre Selbstzufriedenheit ist wiederum allen philosophischen Richtungen eigen. Die einen belegen Leute, die nicht Philosophieren, mit dem verächtlichen Prädikat des gesunden Menschenverstands, über den sich die großen Geister ganz ohne dessen Kritik erheben, andere belächeln das Alltagsbewußtsein, Heidegger aber spricht die Verachtung am härtesten aus: für ihn ist der moderne Städter, der jenseits von Philosophie und bäurischer Verwurzlung in der Heimat dahinlebt, nurmehr mit dem unpersönlichen Fürwort zu charakterisieren: "Das Man" mit einem ".Neuerdings melden sich Heidegger-Jünger mit ganz eigenen Beschimpfungsformeln für den unphilosophischen, genußsüchtigen und subjektlosen Spießer - der Fernsehkonsument! - von Manfred Rie-del hat da einen Preis verdient. Als Genuß noch der trostlosesten Sinnlosigkeit bleibt diese elitäre Absetzung vom Alltag und der Welt derer, die die Welt nicht hinterfragen wollen, der eigentliche Lohn der Philosophie.
e) Die "Analytik der Erschlossenheit des Seins" wird mit zunehmendem Alter Heideggers immer mehr zu einer der Verschlossenheit des Seins. Er sieht mit den Fortschritten der Naturwissenschaft eine ebenso fortschreitende Entsubjektivierung, Vermassung und Verflachung des Menschen. *) Das heißt einerseits nicht viel; halt nur, daß dieser weniger an philosophischem Tiefsinn interessiert ist, weniger von der Idee seiner Geworfenheit ergriffen, weniger unter seiner Sinnferne leidend, weniger in bewußter Schicksalsergebenheit beheimatet; auch ob es da überhaupt - und gar wegen des technischen Fortschritts - eine Veränderung gegenüber den früheren Zeiten Heideggers gegeben hat, tut wenig zur Sache. Zum Standpunkt des Sinnfanatismus gehört es einfach, die normalen Menschen mit ihrem gar nicht ungewöhnlichen Sinnbedürfnis als geradezu entmenscht darzustellen.
Aber, Heidegger nimmt seine Konstruktion des von Menschen getrennten und jedes Denken übersteigenden Sinnes ernst. Das Sein ist, und es ist das wesentliche Subjekt: Es verhüllt sich durch die Technik, und nimmt dem Menschen seine Würde. Sosehr er über den aus jedem höheren Sinn entwurzelten Menschen verzweifelt, sowenig macht Heidegger den Menschen Vorwürfe: Die Sinnferne zu erleben ist eine Gnade, die das Sein seinen Manifestationen zuteil werden läßt - oder eben nicht.
Heidegger will kein praktischer Philosoph sein. Das kritische Ansinnen: "Sie zählen sich nicht zu denen, die, wenn sie nur gehört würden, einen Weg weisen könnten?" - wird klar abgelehnt:
"Die Philosophie ist am Ende. ...(Sie) wird keine unmittelbare Veränderung des jetzigen Weltzustandes bewirken können. Dies gilt nicht nur von der Philosophie, sondern von allem bloß menschlichen Sinnen und Trachten. Nur noch ein Gott kann uns retten." ("Der Spiegel", Nr. 23/1976)
Was Heidegger schreibt und lebt,ist die einzig wirkliche Dialektik der Aufklärung. Das Bedürfnis nach einem Höheren, dem sich der aufgeklärte Mensch nur nach eingesehener Notwendigkeit, dann aber gerne beugt, um, wenn schon nicht seinen Materialismus, so doch ersatzweise ein Heimatbedürfnis zu befriedigen, dieses geistige Bedürfnis ist mit Mitteln des Denkens nicht zu haben und endet - aus Konsequenz bei einer zweifelnden Hoffnung auf den Gott, den sich der moderne Selbstdenker einst nicht mehr antun wollte.
f) Zu guter Letzt dreht sich bei Heidegger das Verhältnis von praktischer Subjektivität und Sinnbedürfnis vollkommen um: es war doch nur die Erfahrung des Scheiterns eigener Absichten und der Wille dieses Nicht-Subjektsein zu verwinden, welche das metaphysische Bedürfnis nach der Einsicht in die Notwendigkeit, d.h. nach dem höheren Sinn hervorgebracht hatten. In dem Maße, in dem der Mensch wirkliches Subjekt seiner Lebensgestaltung ist, fallt das kompensatorische Bedürfnis nach ideeller Subjektivität, einer geistigen Welt weg, an der der Mensch durch Einsicht und Ehrfurcht teilhat. Bei Heidegger, dem Fanatiker des Sinns, dasselbe genau umgekehrt: Wirkliches praktisches Subjektsein bedroht die philosophische Würde und Freiheit des Menschen, nach dem Muster: Wer seine Freiheit nicht mehr als Einsicht in die Notwendigkeit liest, ist unfrei, und muß sich, was mit ihm passiert, wie ein Tier, bloß gefallen lassen. Wer meint, er würde, soviel an ihm liegt, praktisch selber bestimmen, was mit ihm geschieht, täuscht sich bloß um so mehr darüber, daß er nicht Gott ist.
Heidegger sieht die Sache genau so wie Marx, nur umgekehrt: Mit der wirklichen Beherrschung der Natur und der Lebensumstände durch Wissenschaft verliert die Spekulation ihr Existenzmedium! Heidegger steht aber auf philosophischer Spekulation. Ohne das Scheitern menschlicher Pläne kein Anlaß fürs ideologische Sinnbedürfnis! - zum Verzweifeln! Ohne eine Pflege des Bewußtseins von Ohnmacht und Ausgeliefertsein, sind die Menschen völlig Seinsvergessen und es gibt keinen Übergang zu einem Sinn, dessen Fehlen ihnen völlig abhanden gekommen ist.
*) Ganz im Gegensatz zum ökologischen Bedürfnis nach Philosophie, das Heideggers Technikfeindschaft heute gerne ausgräbt, hatte Heidegger kein Problem mit der Technik. Er kritisierte ausdrücklich nur die Zweckmäßigkeit selber als Sinn-feindlich:
SPIEGEL: "Man könnte Ihnen doch ganz naiv
entgegenhalten: Was soll hier bewältigt werden? Es funktioniert ja
alles. Die Menschen werden im hochtechnisierten Teil der Erde gut
versorgt. Was fehlt hier eigentlich?"
HEIDEGGER: Es funktioniert alles. Das ist ja gerade das Unheimliche,
daß es funktioniert und daß das Funktionieren immer weiter
treibt zu einem weiteren Funktionieren und daß die Technik den
Menschen immer mehr von der Erde losreißt und entwurzelt."
SPIEGEL-Gespräch Nr.23/1976.