Freundlicherweise hat Heidegger sich zu sich selbst auch noch als Wissenschaftstheoretiker verhalten, er hat seine Gedanken kommentiert. Dieser Kommentar stellt fest, daß der erste Teil jeder philosophischen Überlegung das Absehen von der Eigenart des betrachteten Gegenstandes zu sein hat: "Reduktion".
"Das Sein soll erfaßt und zum Thema gemacht werden. Sein ist jeweils Sein von Seiendem und wird demnach zunächst nur im Ausgang (!) von einem Seienden zugänglich. Dabei muß sich der erfassende phänomenologi-sche Blick zwar (!) auf Seiendes mit (!) richten, aber so, daß dabei das Sein dieses Seienden zur Abhebung und zur möglichen Thematisierung kommt. Das Erfassen des Seins geht zwar zunächst und notwendig je auf Seiendes zu, wird aber dann von dem Seienden in bestimmter Weise weg-und zurückgeführt auf dessen Sein." (Grundprobleme, S.28)
Natürlich will auch die "Reduktion", das Nicht-Analysieren des philosophisch zu betrachtenden Gegenstands hieb- und stichfest motiviert sein. Dies geschieht mit Angriffen auf die Wissenschaft, die sich dieser Reduktion nicht befleißigt.
Um sich neben der Wissenschaft eine Existenzberechtigung zu verschaffen, entdeckt die Philosophie einen Mangel an der Wissenschaft. Natürlich darf das kein Fehler sein - seine Beseitigung wäre Wissenschaft, nicht Philosophie. Der Philosoph entdeckt keine Verstöße gegen die Wissenschaft, sondern Mängel, die die Wissenschaft gar nicht hat.
Die Wissenschaftskritik der Philosophie besteht daher in der beleidigten Feststellung, daß Wissenschaft nicht Philosophie ist. Der vorwurfsvolle Vortrag der Differenz - weit entfernt davon, Kritik zu sein - ist nur die Vorstellung der Eigenarten der Philosophie.
Daß die Wissenschaft nicht den "Blick von dem Seienden weg-" und auf etwas Dahinterstehendes "zurückführt", muß man nur offensiv formulieren als den Vorwurf, die Wissenschaft mache Voraussetzungen:
"Demgemäß haben alle nichtphilosophischen Wissenschaften Seiendes zum Thema, und zwar dergestalt, daß es ihnen als Seiendes jeweils vorgegeben ist. Es wird im voraus von ihnen gesetzt, es ist für sie ein Positivum. Alle Sätze der nichtphilosophischen Wissenschaften ... sind positive Sätze." (Grundprobleme, S. 17)
Daß die Wissenschaftler die Gegenstände der Realität so nehmen, wie sie sind, daß sie sich damit auf eine sachliche Voraussetzung ihres Denkens beziehen, wird ein unbefangener Geist für gut halten und nicht für schlecht. Was sollte das Denken auch anderes tun? Schließlich entsteht das Interesse an der Erkenntnis erst durch die leibhaftige, in ihrer Eigengesetzlichkeit häufig störende Existenz von wirklichen Gegenständen, die nicht erst den Denker fragen, ob es sie auch geben darf. Wenn vom Denken also etwas "im voraus" gesetzt wird, dann eben seine Voraussetzung: die Existenz von Dingen, die vor der Untersuchung noch nicht begriffen und damit auch praktisch noch nicht beherrscht sind.
Heidegger sieht hier einen Dogmatismus: ,4m voraus" wird etwas "gesetzt", was einem Philosophen so selbstverständlich nicht ist. Ob die Gegenstände, die der Wissenschaft positiv = wirklich gegeben sind, wirklich als Faktum anerkannt werden sollten, wäre ein genuin philosophisches Problem und eben vom Denken nicht vorauszusetzen.
Erhebt sich also die Frage:
"Läßt sich diese Voraussetzung, Philosophie bezieht sich nicht positiv auf Seiendes wie die Wissenschaften, rechtfertigen?" (Grundprobleme, S. 13)
Die schwäbisch-bäurische Schläue ließ den Philosophen heucheln, denn seine Frage ist uneingeschränkt mit Ja beantwortet, indem er sie stellt: Allein die Charakterisierung der Wissenschaft als eines voraussetzungsreichen Geschäfts - und Voraussetzungen kann man bekanntlich machen oder auch nicht - schafft Raum für die Spekulation, die ihre Voraussetzung darin sieht, die Gegenstände nicht als dem Denken vorausgesetzt auffassen zu wollen. Die Rechtfertigung der freien Spekulation wurde also von der Verkündigung ihres Dogmas abgeleitet: Nichts, vor allem nicht die Realität darf dem Denken Voraussetzung sein. Das Denken soll nicht etwa die Realität und ihre Gesetze erforschen, sondern hinter die Realität zurückfragen!
Der Hebel heutiger Philosophie besteht in der Kunst, falsche Fragen zu stellen. Über diese konstitutive Bedeutung des falschen Fragens sind sich die gegensätzlichsten Philosophen im Klaren und erfreulich einig. Wenn Heidegger in den Wald ruft:
"Das Fragen wird selbst die höchste Gestalt des Wissens." (Rede, S.12),
dann schallt es von Adorno kritisch zurück:
"Einer älteren deutschen Tradition gemäß stellt sie die Frage höher denn die Antwort."
Damit liegt die Heideggersche Philosophie aber nicht falsch, wie ihre verächtliche Charakterisierung ("eine ältere deutsche (!!) Tradition") erwarten ließe, sondern richtig:
"Tatsächlich sind in der Philosophie Fragen von anderem Gewicht als in den Einzelwissenschaften, wo sie durch die Lösung fortgeschafft werden."
In der Philosophie verhält es sich dagegen gerade umgekehrt, da werden nicht die Fragen durch die Antworten weggeschafft, sondern die Antworten durch die Fragen hergeschafft:
"Sondern in der Philosophie schließt stets (!) fast (?) die authentische Frage in gewisser Weise (!) die Antwort ein." (Negative Dialektik, S.69)
Wie recht er hat!
Die Kunst des Hinterfragens verdient einige Aufmerksamkeit, denn vor ihrem ideologischen Zweck ist ebenso zu warnen, wie vor den verheerenden Folgen, die das Hinterfragen auf den Gang der Gedanken hat.
Ein Blick in eine der philosophischen Logik gewidmeten Schrift Heideggers mag das verdeutlichen. Er will in dieser Schrift den Grundsatz der Logik, daß alles einen Grund hat, weder beweisen noch widerlegen; er will den Satz zum Anlaß nehmen, um über das "Wesen des Grundes" zu philosophieren. Grundsätzlich spricht die heutige Philosophie nie richtig über Wesen. Hegel hatte schon klargestellt, daß die Erscheinung das Wesen ist, daß also kein Anlaß besteht, eine Spukwelt hinter der wirklichen zu suchen; die heutige Philosophie ist da längst weiter, sie interessiert sich für das Wesen des Grundes, weil sie von Gründen nichts wissen will. Die Suche nach dem Wesen des Grundes ist nicht die in die Logik fallende Definition von Grund, sondern die Bestreitung von Gründen mit dem Verweis, sie hätten Bedingungen ihrer Möglichkeit. Einfache logische Kategorien wie .Begründen' werden deshalb nicht einfach als logische Kategorien aufgefaßt:
" 'Begründen' soll hier nicht in dem engen und abgeleiteten (!) Sinne des Beweisens ontisch-theoretischer Sätze genommen werden, sondern in seiner grundsätzlichen ursprünglichen (!) Bedeutung. Danach besagt Begründung soviel wie Ermöglichung der Warumfrage überhaupt. Gesucht sind also nicht Veranlassungen dafür, daß im Dasein die Warumfrage faktisch aufbricht, sondern gefragt ist nach der transzendentalen Möglichkeit des Warum überhaupt." (Wesen, S.105)
Heidegger liefert hier ein schönes Anwendungsbeispiel der philosophischen Weisheit, daß Antworten das Überflüssigste von der Welt sind, wenn man sich über Fragen freut. Noch mehr: Er freut sich so sehr über seine ganz eigentümliche Frage nach der "Möglichkeit des Warum überhaupt", daß er einen lateinischen Terminus für angemessen hält und die ganze Idiotie für "transzendental" erachtet. Dabei hat er nur eines getan, nämlich das in der Wissenschaft übliche Fragen nach Gründen (für die Beschaffenheit von Gegenständen) beiseite geschoben und die Warum-Frage getrennt von der Wissenschaft als philosophischen Hokuspokus gefeiert. Einer, der nichts wissen will, hat begründet, daß er sich künftig um Gründe nicht mehr kümmert. Mit der Frage nach einer Begründung der Begründung wird jedem Grund sein Charakter - daß er nämlich etwas erklärt (ob richtig oder falsch, wäre zu prüfen) - bestritten.
Ab sofort steht die Wahrheit in Anführungszeichen, auch dann, wenn Heidegger sie einmal nicht setzt:
"Die 'Wahrheiten' ... nehmen ihrer Natur nach Bezug auf etwas, auf Grund wovon sie Einstimmigkeiten sein können. Das auseinanderlegende Verknüpfen in jeder Wahrheit ist, was es ist, je immer auf Grund von ..., d.h. als sich ,Be gründendes'. Der Wahrheit wohnt demnach ein wesensmäßiger Bezug inne zu dergleichen (!) wie ,Grund'." (Wesen, S.75)
Die letzte Bemerkung ist sicher keine Wahrheit. Denn so richtig es ist, daß wahre Urteile begründet zu werden pflegen, so falsch ist es, der Wahrheit die Wucht eines wesensmäßigen Bezugs zu "dergleichen" wie Grund in Anführungszeichen anzuhängen. Einem Typus wie Heidegger ist die ohnehin schon dünne Luft logischer Kategorien noch viel zu dick. Deshalb kommt er ganz locker von Begründung auf die Ermöglichung ihrer selbst, von der Wissenschaft zur transzendentalen Möglichkeit des Denkens - und als einziges Rätsel werfen seine Übergänge nur die Frage auf: Wieso gibt so einer den Gebrauch grammatischer Hilfsmittel der Logik (danach, also, muß, um zu...) nicht auf? Weil er seinen Irrationalismus auch noch als begründet verkaufen will!
"Prädikation muß, um möglich zu werden" (erst gibt's die Prädikation, dann muß sie noch einiges tun, um möglich zu werden!), "sich in einem Offenbaren ansiedeln können, das nichtprädikativen Charakter hat. Die Satzwahrheit ist in einer ursprünglicheren Wahrheit (Un Verborgenheit), in der vorprädikativen Offenbarheit von Seiendem gewurzelt, die ontische Wahrheit genannt sei." (Wesen, S.75 f.)
Die wahre Wahrheit ist ziemlich ursprünglich und steht insofern viel höher als die bloße Wahrheit. Sie ist Offenbarung und als solche keine Sache der Erkenntnis, sondern der Stimmung und des Triebs:
"Das ontische Offenbaren selbst aber (!) geschieht im stimmungsmäßigen und triebhaften Sichbefinden inmitten von Seiendem und in den hierin mitgegründeten strebensmäßigen und willentlichen Verhaltungen zum Seienden." (Wesen, S. 76)
Nichts ist der Philosophie mit ihrem Wahrheitspathos selbstverständlicher, als daß das Denken immer ein parteiisches Geschäft war, ist und bleibt. Daß der Mensch seine theoretische Stellung zur Welt entsprechend den Antrieben und Stimmungen einrichte, die er sonst noch verspürt, ist ihr ein hohes Anliegen, dem sie ein Leitfaden sein will. Die Philosophie kritisiert von dieser Warte aus sogar den Instrumentalismus der bürgerlichen Wissenschaft. Freilich hat ein Philosoph nicht daran etwas auszusetzen, daß eine nach Befindlichkeit und Stimmung zusammengeschusterte Weltanschauung kaum eine objektive Erklärung sein kann, sondern daß die Willkür der bürgerlichen Wissenschaft dem Interesse des Wissenschaftlerindividuums an der Welt Raum gibt. Die bürgerliche Wissenschaft pflegt einen illusorischen Materialismus, indem sie ihre Gegenstände nicht erklärt (und damit zum praktischen Interesse, sie sich nützlich zu machen oder als unnütz abzuschaffen, nichts beiträgt, dafür aber den Nutznießern der bürgerlichen Welt entgegenkommt), sondern mit ausgedachten Vorteilen identifiziert, die jeden wenig menschenfreundlichen Sachverhalt zum Vorteil für die von ihm Betroffenen verdreht (z.B. Geld ist eine Bombenerfindung zur Bewältigung des Tausches, den alle brauchen; es ist Schaugeld - man kann mit ihm angeben; Rolle ist eine Orientierungshilfe fürs Individuum, die ihm sagt, was es darf und was nicht). Die Philosophie sieht hier wirklichen Materialismus am Werk, nicht den affirmativen Idealismus der bürgerlichen Weltanschauung. Sie hat nichts dagegen, daß das Denken parteiisch die Welt unter eine Weltanschauung subsumiert und damit nicht begreift, aber mit den Interessen der Leute darf diese Weltanschauung auch dem Scheine nach nichts zu tun haben. Der Angriff auf den Pluralismus der Wissenschaft geht nicht darauf, daß das Denken propagandistischen Absichten und Interessen unterworfen ist, sondern daß nicht ein höheres, ganz tiefes Interesse zum Zuge kommt.
Mit Hilfe des gekonnten Hinterfragens wird nun auch die "vorprädikative Wahrheit" als Resultat noch weiter hinten liegender Kräfte behauptet. Bewiesen werden dergleichen Reduktionen nie - sie ließen sich auch nicht beweisen, denn das Dahinter, die "transzendentale Bedingung der Möglichkeit", wäre nicht transzen dental, würde sie Beziehungen zu dem unterhalten, hinter dem sie angeblich steht. Argumente sind in diesem Feld also keine, sondern nur trostlose Wiederholung des metaphysischen Dogmas, daß hinter allem Wirklichen ein Spuk steht, auf den es allein ankommt, weil er das Wirkliche erst ermöglicht:
"Doch selbst diese (Wahrheiten) vermöchten nicht, weder als vorprädikative noch als prädikativ sich auslegende. Seiendes an ihm selbst zugänglich zu machen, wenn ihr Offenbaren nicht schon immer (!!) zuvor (!!!) erleuchtet und geführt wäre durch ein Verständnis des Seins des Seienden... Diese Enthülltheit als Wahrheit über das Sein wird ontologische Wahrheit genannt." (Wesen, S.76)
Die Logik des Hinterfragens hat es an sich, daß das beziehungslose Dahinter einerseits der Willkür des Spekulanten Tür und Tor öffnet - die Wirklichkeit der Welt, das Leben der Menschen, die Sinne oder der stets hinter der Philosophie lauernde liebe Gott hätten sich ebensogut als Bedingungen der Wahrheit präsentieren lassen. Andererseits gerät sie notwendig in Tautologien, denn soll das geheimnisvolle Dahinter wirklich das von ihm Abgeleitete hervorbringen, dann muß es eben schon alle Bestimmungen dessen an sich haben, was es gebiert. Wahrheit gründet auf Wahrheit und die wieder auf Wahrheit. Interessant! Wo der Philosoph mit seinem immer weiter nach hinten, unten, in die Tiefe der "letzten Gründe" Gehen Schluß macht, ist seine Sache. Ist ihm das Resultat seiner Fachkollegen nicht recht, macht er sich nicht etwa die Mühe, es zu bestreiten und zu widerlegen. Er hinterfragt es einfach:
"Denn auch den Satz (des Grundes) zu einem .Grundsatz' erklären..., führt nicht in den Ursprung" (da wollte der Logiker ja auch gar nicht hin!), "sondern kommt einem Abschneiden alles weiteren Fragens gleich." (Wesen, 109)
Bei einem solchen Vorwurf wird natürlich jeder Philosoph blaß, weiß er doch, daß auch seine Existenz auf der Erlaubnis beruht, immer weiter zurück zu fragen.
Trotzdem muß einmal Schluß sein. Heidegger will ja seinen letzten Grund nennen, sonst wüßte niemand, worauf es bei der Wahrheit als ihrem eigentlichen Boden am meisten ankommt:
"Die Freiheit ist der Grund des Grundes."
Und damit nicht einer das mit ihm macht, was er mit den anderen anstellt, setzt er hinzu:
"Das freilich nicht im Sinne einer formalen, endlosen 'Iteration'."
Was der Grund der Freiheit, oder die Freiheit des Grundes, oder gar die Freiheit der Freiheit sei, darf also nicht mehr gefragt werden, denn:
"Als dieser Grund aber ist die Freiheit der Abgrund des Daseins." (Wesen, S. 109)
Um die ungeheuren Möglichkeiten darzutun, die die Logik des Hinterfragens dem Ableitungswillen des Philosophen bietet, sei dem Leser ein weiteres Beispiel nicht vorenthalten:
"Die existenzielle Analytik ihrerseits ist aber letztlich existenziell, d.h. ontisch verwurzelt. Nur wenn das philosophisch-forschende Fragen selbst als Seinsmöglichkeit des je existierenden Daseins existenziell ergriffen ist, besteht die Möglichkeit einer Erschließung der Existenzialität der Existenz." (Sein und Zeit, S. 18)
Zwar ist die existenzielle Analyse die Wurzel von allem anderen, aber sie ist, wie könnte es anders sein, "ihrerseits verwurzelt". Nur wo, fragt sich der Philosoph: Nun, er macht Ernst mit dem Unsinn, daß die Voraussetzung des Denkens das Leben des Denkers ist;
aber nicht irgendeines Denkers: er muß das philosophisch-forschende Fragen als seine Seinsmöglichkeit ergreifen, dann - so der tiefe Schluß - dann erst wird philosophisch-forschend gefragt. Die existenzielle Analytik, die die Existenzialität der Existenz existenziell ergreift, wurzelt also in einem Entschluß des Schwaben Martin Heidegger und in sonst nichts - womit der gute Mann wieder einmal recht hat.
folgt aus dem ersten: Hatte sich die Philosophie als eine Disziplin dargestellt, die ihre Gegenstände nicht untersuchen, ihre Eigenart nicht erfassen und ihre Gesetze nicht begreifen will, die stattdessen immerzu die Existenz der Untersuchungsobjekte ableiten und aus letzten Gründen deduzieren will, so ist es kein Wunder, daß sie dieses Interesse bei der Wissenschaft vermißt:
"Daß die Philosophie auf das Universale der Welt und das Letzte des Daseins, das Woher, das Wohin und das Wozu von Welt und Leben abzielt in der Weise der theoretischen Welterkenntnis, unterscheidet sie... von den Einzelwissenschaften, die immer nur (!) einen bestimmten Bezirk der Welt und des Daseins betrachten." (Grundprobleme, S. 8)
Daß die letzten Gründe etwas anderes sind als Gründe, wird schon daran deutlich, daß sich die Philosophie nicht mit den Antworten zufrieden gibt, die die zuständigen Fachwissenschaften auf die Frage nach dem Woher und Wohin unseres Lebens haben. Die Auskünfte der Biologie über das Leben befriedigen den Philosophen nie, weil er mehr will als Gründe.
Wer sich für den letzten Grund interessiert, der findet wirkliche Gründe banal. Letzte Gründe verdanken sich dem Interesse, alle Ereignisse der Welt aus einem Prinzip herzuleiten. Die Suche nach letzten Gründen konstruiert erst einen Zusammenhang zwischen Geschichten, die absolut nichts miteinander zu tun haben, um das religiöse Bedürfnis zu befriedigen, die Welt, deren Kämpfe jeder außer dem Philosophen täglich erlebt, harmonisch und einheitlich einzufärben, mit einem Gesamt-Sinn zu versehen.
Woher das Wasser mitten in der Wüste, oder woher der Krebs kommt, sind ebenso ordentliche Fragen wie die, warum das Proletariat eine wesentlich niedrigere Lebenserwartung hat als evangelische Pfarrer. Woher aber die ganze Welt kommt, ist eine blöde Frage. Ein Grund ist immer etwas anderes als das, was er begründet. Nach dem richtigen Grundsatz: Aus nichts wird nichts, haben also alle bestimmten Ereignisse und Gegenstände dieser Welt eine Herkunft oder eine Ursache. Diese zu wissen, setzt die Kenntnis des Gegenstands voraus (um die Ursache des Krebses zu wissen, müßte man erst einmal wissen, was Krebs ist) und ersetzt sie nicht. Nach der Ursache der Welt zu fragen, ist deswegen unsinnig, weil immer nur Bestimmtes aus bestimmtem Anderen begründet werden kann. Die Welt, die alles ist, worüber man nachdenken kann, kann schon deswegen keine Ursache haben. Hätte sie eine, gäbe es noch etwas anderes, auf das die Existenz der Welt zurückgeht - was aber ihr Begriff ausschließt. Daß Kant schon vor mehr als 200 Jahren die notwendige Widersprüchlichkeit solch falscher Fragen und ihrer Lösungen nachwies, stört den heutigen Philosophen wenig, der sich von den Alten nur das falsche Interesse am Gottesbeweis, nicht aber ihre richtigen Argumente gegen ihn abzuschauen beliebt.
Ist die Frage nach dem "Woher der Welt" schon der Punkt, von dem aus nur mehr ein Absprung ins Jenseits eine Antwort geben kann, so ist die Frage nach einem "Wozu der Welt" unmittelbar die Bitte um Offenbarung des Schöpfergottes, der ja wohl seine Zwecke mit dem eigenen Machwerk verfolgt haben wird. Wenn Philosophen normalerweise nicht religiös sind, dann nicht trotz solcher Fragen, sondern wegen ihnen: sie befriedigen ihr eigenes Bedürfnis nach Legitimation des Jammertals in einer quasi wissenschaftlichen Weise und ermöglichen sich so den Kinderglauben an den jenseitigen Geist, der doch letztlich über die tote Materie triumphiert, ohne sich die Vorstellung des alten Rauschebartes antun zu müssen.
entstehen dadurch, daß die Leib- und Magenfrage nach dem "Wozu" des Lebens, eben die Sinnfrage gestellt wird. Im Unterschied zur Wissenschaft, die Grund und Zweck der Tätigkeiten ermittelt, denen die Leute im Leben so nachgehen, will diese Frage auf ein Telos allen Dichten und Trachtens hinaus. Überall ist der Mensch mit seinen Grund- und Haupteigenschaften am Werk, vor denen sich die tatsächlichen Zwecke seiner all- und sonntäglichen Taten recht matt ausnehmen. Der "Sinn" besteht noch allemal in einem wuchtigen Universale, das dann den diversen philosophischen Schulen ihren Namen verleiht: so gibt es eine Philosophie des Geistes, eine Lebensphilosophie, einen Materialismus, der an allem die Materie findet und ihr Wirken, und auch eine Seinsphilosophie. Alles wird zur Erscheinungsweise einer Abstraktion, vor der kein wirklicher Gegenstand Bestand hat. Die eingebildete Ordnung, der die Welt im Sinn des Philosophen gehorcht, gerät dabei umso perfekter, je weniger Bestimmung dem Universale anhaftet - und Heidegger hat hier einiges für die Disziplin geleistet. Er hat bemerkt, daß die vor ihm hoch gehandelten Universalia den Mangel der Bestimmtheit noch nicht völlig überwunden hatten. Ist alles ,Welt', so steht es dem .Jenseits', ist alles .Materie', so steht es dem ,Geist' gegenüber usw. Gerade weil die Universalia alles meinen, dürfen sie nichts Bestimmtes mehr sagen. Sie können nurmehr tautologisch bestimmt werden. Was ließe sich von ,Welt' schon noch anderes sagen, als daß damit alles gemeint sei, daß alles in die Welt gehöre. .Universal' ist der einzige Inhalt, der vom Universale noch ausgemacht werden kann. Hätte es noch irgendeine Bestimmtheit, würde es auch schon einiges von sich ausschließen - womit das Universale dahin wäre. Die Alten, die Feuer, Wasser und Erde für die Grundstoffe der Welt hielten, waren naiv kon-kretistisch und himmelweit entfernt von der Raffinesse moderner Philosophie:
"Wenn Thales auf die Frage, was das Seiende sei, antwortet: Wasser, so erklärt er hier das Seiende aus einem Seienden, obzwar er im Grund sucht, was das Seiende als Seiendes sei. In der Frage versteht er so etwas wie Sein, in der Antwort interpretiert er Sein als Seiendes." (Grundprobleme, S. 453)
Heidegger hat gemerkt, daß ein Philosoph Seiendes, also das, was es wirklich gibt, nicht als Folge oder Ausdruck von etwas anderem darstellen darf, was es auch wirklich gibt (das macht die Wissenschaft), denn der wirkliche Grund provoziert ja geradezu die nächste .Hinterfrage' usw. Wer es mit den wirklichen Gründen hält, der gerät beim steten Hinterfragen in einen endlosen Regreß, weil ihn der eine erste wirkliche Grund nicht interessierte. Wer also mit Heidegger "in den Ursprung" will, muß Seiendes, also Wirkliches mit nicht wieder Seiendem, also mit Unwirklichem, Ausgedachtem bestimmen.
Der kluge Mann konnte also entdecken, daß das letzte Universale aller dieser philosophischen Letzt-Urteile (Alles ist Geist etc.) das ,ist' ist. Er gründet seine ganz universale Philosophie auf den tiefsten aller tiefen Sätze: Alles ist .ist'! Weil dieses aber gegen die Grammatik verstößt, die bei Substantivierungen den Infinitiv verlangt, hat er seinen Satz leicht umformuliert: Alles ist Sein.