Auch die positive Abteilung der freien Spekulation wird von Heidegger treffend charakterisiert:
"Die pure Abwendung ist nur negativ methodisches Verhalten, das nicht nur der Ergänzung durch ein positives bedarf, sondern ausdrücklich der Hinführung zum Sein, d.h. der Leitung. Das Sein wird nicht so zugänglich wie Seiendes, wir finden es nicht einfach vor, sondern es muß... jeweils in einem freien Entwurfin den Blick gebracht werden." (Grundprobleme, S. 29)
Der Philosoph nimmt sich also die Freiheit, Gegenstände zu erfinden oder zu "entwerfen", die es nicht gibt, weshalb sie auch "nicht so zugänglich" sind wie "Seiendes". Für diesen Akt der Freiheit ist der unbefangene Gedanke offenbar nicht von sich aus geeignet, denn er wird ob seiner Unselbständigkeit vom Philosophen bei der Hand genommen und "ausdrücklich" "geführt", wohin er von selbst nicht will.
Die leitende Hand des philosophischen Führers braucht die Hinführung zum "Sein" deshalb, weil sie exakt dasselbe ist wie die "Wegführung" von allem Wirklichen im letzten Kapitel. Jenseits von allem, was den Menschen am Seienden interessieren kann, jenseits von allen Eigenschaften und Verhältnissen der Dinge, soll er an ihnen ihr "Sein" bedenken. Das fällt freilich schwer, denn: Was denkt er denn da?
"Unter Sein kann ich mir zunächst nichts denken. Andererseits steht ebensosehr fest: Wir denken das Sein ständig ... Wir verstehen das ,ist', das wir redend gebrauchen und begreifen es nicht. Der Sinn dieses ,ist' bleibt uns verschlossen. Dieses Verstehen des ,ist' und damit des Seins überhaupt versteht sich so sehr von selbst, daß sich ein bis heute unbestrittenes Dogma in der Philosophie breitmachen konnte: Sein ist der einfachste und selbstverständlichste Begriff; er ist einer Bestimmung weder fähig noch bedürftig." (Grundprobleme, S. 19)
Heidegger tut hier, was schon Kinder als unerlaubt wissen, er schließt von sich auf andere: Normalen, philosophisch unverbildeten Menschen gilt das "Sein" weder als ein einfacher noch als selbstverständlicher Begriff, im Gegenteil. Denen dagegen, die sich wirklich die Kopula ,ist' zum Thema und damit den substantivierten Infinitiv dieses Wortes zum Subjekt einer Aussage machen, Leuten also, die sich mit Logik und Grammatik befassen, ist er sehr wohl einer Bestimmung fähig - sonst würden sie es gleich lassen. Das Wort ,ist' ist das allgemeine Verb, weil es im Satzprädikat die Existenz des Subjekts von seinen Bestimmungen abtrennt und so Nominalprädikate mit allerlei logischen Funktionen erlaubt. Im Unterschied zu "Heidegger spinnt", wo das Verhältnis des Prädikats zum Subjekt untrennbar mit dem Prädikat selber verbunden ist, werden durch diese Abstraktionsleistung, die schon in der Sprache steckt, auch Sätze wie "Heidegger ist doof", "Heidegger ist ein Philosoph" etc. möglich, die für die Formulierung und Unterscheidung gewisser Urteile nicht nur in der Wissenschaft als Mittel taugen (andere Sprachen weisen übrigens andere Mittel auf!).
Das gibt es zum "Sein" als einer logischen Kategorie zu sagen -mehr nicht. Heidegger hätte dieses aber unter "Verstehen und nicht Begreifen" eingeordnet. Denn er begeistert sich gerade an der Trennungsleistung, die in der Kopula vorliegt. Er fordert dazu auf, sich die logische Funktion der Kopula nicht als logische Funktion, sondern als Gegenstand für sich vorzustellen: Er macht die Existenz zu einem Prädikat und denkt sich Gegenstände getrennt von allem, was sie sind und was sie damit auch zu Gegenständen der Wirklichkeit macht, als leere Existenz. Das "Sein", unter dem man sich nicht leider, sondern Gott sei Dank nichts denken kann, ist deshalb auch nicht unterschieden vom Nichts, das in Heideggers Philosophie ebenfalls eine ehrenvolle Rolle spielt.
Das "Hinführen" ist also deswegen dasselbe wie das "Wegführen" von den profanen Dingen der Wirklichkeit, weil der Zielbegriff nichts als der Gedanke der Trennung ist. Darin hegt die besondere Verfeinerung des metaphysischen Verfahrens bei Heidegger. Das geheimnisvolle Jenseits, zu dem einen der Philosoph unter Mißachtung aller wirklichen Qualitäten zu führen verspricht, unterscheidet sich überhaupt nicht mehr von der Führung selber - man kommt nie mehr hin, wo man hin will, weil man schon immer - und zwar durch die bloße Erhabenheit gegenüber dem praktischen Leben - da ist. Hatte die alte Philosophie ihre Aufgabe darin, Gott im jenseitigen Himmel zu beweisen, hatte die spätere Philosophie Gott durch andere Gedankenwesen wie Weltgeist, Leben oder Materie ersetzt, so wird die Philosophie des 20. Jahrhunderts zur reinen Methodologie dieses Gedankens: Sich nicht um die Wirklichkeit - und alles, was an ihr interessant ist (denn nur an ihr kann etwas interessant sein) - kümmern, sich von ihr absetzen, ist ihr einziger Gedanke. Das Bewußtsein der luxuriösen Freiheit eines Denkens, das sich von allem, was man bedenken kann, abgenabelt hat, gemeßt sich selbst. Nichts mehr zum Gegenstand zu haben, verbürgt Tiefe und Grundsätzlichkeit. Mit dem Gedanken der leeren Existenz hat die Philosophie ihr absolutes Universale erreicht, denn dem Sein steht noch nicht einmal das Nichts gegenüber. Wer das nicht versteht und die Leere dieses reinen Trennungsgedankens für einen Mangel hält, wer also meint fragen zu müssen, was das "Sein" denn nun sei, der verdient unter Philosophen keine Antwort, sondern den tautologischen Verweis, er solle die philosophische Aura nicht mit Argumenten stören:
"Doch das Sein - was ist das Sein? Es ist es selbst." (M. Heidegger, Platons Lehre von der Wahrheit, Bern 1954, S. 76)
Für den Erfinder dieses Universale ist die Leere des reinen Gedankens der Abstraktion nämlich kein Pech, sondern ein Glück: eine Chance für Philosophie. Er streitet also gar nicht ab, daß die als Entität in die Welt gesetzte reine Abstraktion keine Bestimmungen hat:
"Man sagt: "Sein" ist der allgemeinste und leerste Begriff." "Der Begriff "Sein" ist undefinierbar. Dies schloß man aus seiner höchsten Allgemeinheit." (Sein und Zeit, § l)
"Aber folgt daraus, daß 'Sein' kein Problem mehr bieten kann? Mitnichten!" (Grundprobleme, S. 19)
Daß es über das Sein wissenschaftlich nichts mehr zu sagen gibt, bedeutet keineswegs, daß Heidegger sein Buch schon beenden würde - ganz im Gegenteil, er fängt erst an!
"Wenn das Sein der verwickeltste und dunkelste Begriff wäre?" (Grundprobleme, S. 19)
Na klar ist er das, wenn auch nicht für einen Geist, der sich an die Wissenschaft hält und ganz gut ohne die Einladung auskommt, die ein Philosoph seinem Konstrukt in den Mund legt:
"Die Undefinierbarkeit des Seins dispensiert nicht von der Frage nach seinem Sinn, sondern fordert dazu gerade auf." (Sein und Zeit, §1)
Damit ist auch der Sinn klar unterschieden von Bestimmungen oder Eigenschaften, die eine Sache hat, und herausgestellt als ein Wert, den der Philosoph einer Sache jenseits von ihren Eigenschaften beimißt: als etwas, worauf es ankommt, im Gegensatz zu allem, was an einer Sache interessieren könnte.
Auch hierin muß Heidegger die verdienstvolle Vollendung der philosophischen Sinnsuche zugebilligt werden. Wo andere sich das ewige Leben im hiesigen zu verdienen suchen oder nach Erkenntnis der Absichten des Weltgeistes ihre Freiheit im freien Ja zu den Notwendigkeiten finden, da ist Heidegger das reine Selbstbewußtsein der Sinnhuberei: Daß dem Objekt des Denkens, jenseits von seinen Bestimmungen und damit jenseits von seiner Erkenntnis, ein Eigenwert zugerechnet wird, ist Sinn, und nur mehr dieses Zurechnen ist der Sinn des Seins. Die "Frage nach dem Sinn" ist also beantwortet, noch ehe sie gestellt war, und daß der Philosoph etwa nicht fündig werden könnte, braucht nicht befürchtet zu werden:
der Sinn des Seins ist das Sein als Wesen der Dinge. Die Existenz einer Sache wird bei Heidegger nicht nur ein Prädikat, sondern das wesentliche: Die Faktizität der leeren Existenz ist das Sinnige der Dinge. Damit treibt eben Denken, das sich die Freiheit herausnimmt, sich erhaben über alle Wirklichkeit des Denkens zu dünken, seinen Kult des Faktischen, das es in seiner ganzen Freiheit vergottet und vor dem es sich bescheiden verneigt.
Vom Sinn des Seins muß nun die Reise wieder rückwärts angetreten werden zurück zu den Dingen, um deren "Sein" es ging, und denen nun die Abstraktion von ihnen als ihr Wesen unterlegt werden muß. Diese Reise zurück beginnt freilich bei ihrem Ende, bei den Dingen sub specie des Seins - wodurch Heidegger das Gelingen der Deduktion leicht sicherstellen kann.
"Womit soll die Philosophie sich denn beschäftigen, wenn nicht mit dem Seienden, mit dem, was ist... Was nicht ist, ist doch das Nichts. Soll die Philosophie etwa als absolute Wissenschaft das Nichts zum Thema haben?" (Grundprobleme, S. 13)
Köstlich, wie sich dieser Spinner auf einmal mitten im Schattenreich von Sein und Nichts realistisch gibt! Soll sich die Wissenschaft etwa mit nichts beschäftigen? Nein, keinesfalls - na, dann notwendig mit dem Sein! Genauer: »Mit dem Seienden, mit dem, was ist." Dieser Satz ist zunächst eine Tautologie: Subjekt, "das Seiende" hat keinen anderen Inhalt als das Prädikat: "was ist". Allerdings ist diese Tautologie nicht etwa nichtssagend, denn das Subjekt ist schon die Abstraktion von jedem bestimmten Prädikat, der Satz behauptet also die Existenz der Abstraktion. Das "Seiende" ist die äußere Wirklichkeit des Seins, die Welt als Erscheinungsform, Ausfluß und Werk des Seins. Die Deduktion dieses Verhältnisses von Sein und Seiendem soll dem Leser in ihrer ganzen Länge nicht vorenthalten werden:
"Außer dem Seienden ist nichts. Vielleicht (!) ist kein anderes Seiendes außer dem aufgezählten, aber vielleicht (!) gibt es doch noch etwas, was zwar nicht ist, was es aber gleichwohl in einem noch zu bestimmenden Sinne gibt (!!!). Mehr noch (!!!!). Am Ende gibt es etwas, was es geben muß, damit wir uns Seiendes als Seiendes zugänglich machen und uns zu ihm verhalten können; etwas, das zwar nicht ist, das es aber geben muß, damit wir überhaupt so etwas wie Seiendes erfahren und verstehen. Seiendes vermögen wir als solches, als Seiendes, nur zu fassen, wenn wir dergleichen wie Sein verstehen. Verstünden wir nicht, was Wirklichkeit besagt, dann bliebe uns Wirkliches verborgen ... Wir müssen Wirklichkeit verstehen können vor aller Erfahrung von Wirklichem. Dieses Verstehen von Wirklichkeit bzw. von Sein im weitesten Sinne gegenüber der Erfahrung von Seiendem ist in einem bestimmten Sinne" (na, na!) "früher als das letztgenannte." (Grundprobleme, S. 13 f.)
Hier wird die gläubige Logik des philosophischen Verhältnisses von tiefem Wesen und "bloßer" Erscheinung noch einmal sehr schön als die Dummheit ausgesprochen, die sie ist. Freilich braucht es zur Kreation dieser Hinterwelt einen Philosophen, denn ein Pfarrer wäre nie in der Lage, den Unterschied zwischen "etwas ist" und "es gibt etwas", den auch er immer meint, so gekonnt auszusprechen. Einen Philosophen braucht es auch für die schöne logische Form der Deduktion:
1. Außer der Abstraktion von allem Bestimmten gibt es nichts. Die Abstraktion "Seiendes" ist alle Realität.
2. Vielleicht ist das so.
3. Vielleicht aber auch anders. Vielleicht gibt es etwas, was es nicht gibt.
4. Mehr noch, am Ende muß es etwas geben, was es nicht gibt.
5. Damit wirklich alles Wirkliche Erscheinungsweise meiner Abstraktion ist; damit es eben Seiendes überhaupt gibt.
So kommt Sinn in die Welt. l. Das Sein hat Sinn. 2. Alle Welt ist nur die Abstraktion der Existenz: Seiendes, welches durch sein "apriori", das Sein, am Sinn teilhat. Heidegger bemüht mit dem Apriori, mit der Logik der Ermöglichung formell das Verhältnis von Wesen und Erscheinung - und gibt der Hegelschen Einsicht, daß die Erscheinung das Wesen sei, eine ironische Bestätigung. Während Hegel damit gegen den Spuk einer Hinterwelt auftrat und klarlegte, daß das Gesetz der Erscheinung kein Jenseits ist, das man nicht merken und nur frei spekulierend erfinden könne, bestätigt Heidegger diese Identität von Wesen und Erscheinung überraschend: Sein und Seiendes sollen im Verhältnis von Wesen und Erscheinung stehen und sind von vornherein ein und dasselbe. Bei Heidegger ist die Gleichheit von Wesen und Erscheinung das Offensichtliche und die Differenz die Schwierigkeit, die er nie überwindet. Dabei kann weder Wesen noch Erscheinung irgendeinen Realismus für sich beanspruchen. Beide haben den gleichen Inhalt, nämlich Abstraktion von allen Bestimmungen der wirklichen Dinge und Festhalten dieser Abstraktion als "wahre Wirklichkeit" derselben. Die Differenz wird lediglich versichert, und so die zur leeren Faktizität verdünnisierte Welt als wesenhaft deklariert.
Heidegger spricht seine Gegenstände, seine Konstrukte als Bedingung ihrer eigenen Möglichkeit, als sich selbst begründend aus und verleiht der verehrten Faktizität so durch die formelle Kopie des Verhältnisses von Grund und Begründetem den Glanz der Notwendigkeit.
Zugleich spricht er ein Verhältnis von philosophischem Quark und Realität aus, das noch ein ganzes Stück verrückter ist als Hegels Spruch: "Das Wirkliche ist vernünftig". Hegel erlaubte sich auch schon den Fehlschluß von der Erkenntnis der Wirklichkeit durch den Geist dahin, daß eben deshalb die Wirklichkeit geistig, ein Werk des Geistes sei. Bei Heidegger heißt diese Verdrehung: Das Wirkliche ist wirklich, weil Ausdruck des Gedankens der Wirklichkeit. Alle Extreme dieser Bestimmung sind gleich, und alle haben den einen Inhalt: nicht mehr als Erkenntnis der Welt, sondern als deren Nichterkenntnis sind sie das Bestimmende von allem und jedem. Die Welt ist die Abstraktion von dem, was sie ausmacht, weil ich mir alles, was die Welt ist, von ihr wegdenken kann. Aus der Selbstherrlichkeit seiner Phantasie heraus erklärt er die Welt zum Material seines Absehens von ihren Bestimmungen - auch hierin die reine Methode der Philosophie; kein Wunder, daß er sich voller Überraschung freut, wenn er wirkliche Abstraktionen im praktischen Leben entdeckt: Staat, Gewalt, Angst und Tod.