2   
Weiß von Riesen  
weiland gebornen,  
die einstmals mich  
auferzogen;  
weiß nun Heime,  
neun Weltreiche,  
des hehren Weltbaums  
Wurzeltiefen.   
 
3   
Urzeit war es,   
da Ymir hauste:   
nicht war Sand noch See   
noch Salzwogen,    
nicht Erde unten   
noch oben Himmel,   
Gähnung grundlos,   
doch Gras nirgend.  
 
4   
Bis Burs Söhne  
den Boden hoben,  
sie, die Midgard,  
den mächtigen, schufen:  
von Süden schien Sonne  
aufs Saalgestein;  
grüne Gräser  
im Grund wuchsen.  
 
 

 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 

 
5   
Von Süden die Sonne,   
des Monds Gesell,   
schlang die Rechte   
um den Rand des Himmels:   
die Sonne kannte   
ihre Säle nicht;   
die Sterne kannten   
ihre Stätte nicht;   
der Mond kannte   
seine Macht noch nicht.  
 
6   
Zum Richtstuhl gingen  
die Rater alle,  
heilge Götter,  
und hielten Rat:  
für Nacht und Neumond  
wählten sie Namen,  
benannten Morgen  
und Mittag auch,  
Zwielicht und Abend,  
die Zeit zu messen.
7   
Die Asen eilten   
zum Idafeld,   
die Heiligtümer   
hoch erbauten;   
sie setzten Herde,   
hämmerten Erz;   
sie schlugen Zangen,   
schufen Gerät.
 
8   
Sie pflogen heiter  
im Hof des Brettspiels  
nichts aus Golde  
den Göttern fehlte -,  
bis drei gewaltge  
Weiber kamen,  
Töchter der Riesen,  
aus Thursenheim.
9  
Zum Richtstuhl gingen   
die Rater alle,   
heilge Götter,   
und hielten Rat,   
wer der Zwerge Schar   
schaffen sollte   
aus Brimirs Blut   
und Blains Knochen.  
 
10   
Motsognir ward  
der mächtigste da  
aller Zwerge,  
der zweite Durin;  
die machten manche  
menschenähnlich,  
wie Durin es hieß,  
die Höhlenzwerge.
 
11  
Bis drei Asen  
aus dieser Schar,  
stark und gnädig,  
zum Strand kamen:  
sie fanden am Land,  
ledig der Kraft,  
Ask und Embla,  
ohne Schicksal.
12  
Nicht hatten sie Seele,  
nicht hatten sie Sinn,  
nicht Lebenswärme  
noch lichte Farbe;  
Seele gab Odin,  
Sinn gab Hönir,  
Leben gab Lodur  
und lichte Farbe.
13  
Eine Esche weiß ich,  
sie heißt Yggdrasil,  
die hohe, benetzt  
mit hellem Naß:  
von dort kommt der Tau,  
der in Täler fällt;  
immergrün steht sie  
am Urdbrunnen.
 
14  
Von dort kommen Frauen,  
vielwissende,  
drei, aus dem Born,  
der unterm Baume liegt:  
Urd heißt man eine,  
die andre Werdandi  
sie schnitten ins Scheit -,  
Skuld die dritte;  
Lose lenkten sie,  
Leben koren sie  
Menschenkindern,  
Männergeschick.
15  
Da kam zuerst  
Krieg in die Welt,  
als Götter Gullweig  
mit Geren stießen  
und in Heervaters  
Halle brannten,  
dreimal brannten  
die dreimal geborne.  
 
16  
Man hieß sie Heid,  
wo ins Haus sie kam,  
das weise Weib;  
sie wußte Künste:  
sie behexte Kluge;  
sie behexte Toren;  
immer ehrten sie  
arge Frauen.
 

 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
17  
Zum Richtstuhl gingen  
die Rater alle,  
heilge Götter,  
und hielten Rat,  
ob Zins die Asen  
zahlen sollten  
oder alle Götter  
Opfer haben.
18  
Den Ger warf Odin  
ins Gegnerheer:  
der erste Krieg  
kam in die Welt;  
es brach der Bordwall  
der Burg der Asen,  
es stampften Wanen  
streitkühn die Flur.
19  
Zum Richtstuhl gingen  
die Rater alle,  
heilge Götter,  
und hielten Rat,  
wer ganz die Luft  
mit Gift erfüllt,  
Ods Braut verraten  
Riesensöhnen.
 
20  
Nur Thor schlug zu,  
zorngeschwollen:  
selten sitzt er,  
wenn er solches hört;  
da wankten Vertrag,  
Wort und Treuschwur,  
alle Eide,  
die sie ausgetauscht.
21  
Ich weiß Heimdalls  
Horn verborgen  
unterm heilgen  
Himmelsbaume;  
Flut seh ich fallen  
in feuchtem Sturz  
aus Walvaters Pfand  
wißt ihr noch mehr?
22  
Saß einsam draußen,  
als der Alte kam,  
der furchtbare Ase,  
und ins Aug mir sah:  
Was fragst du mich?  
Was forschst du bei mir?  
Ich weiß, Odin,  
wo dein Auge du bargst.
 
23  
Ich weiß Odins  
Auge verborgen  
in Mimirs Quell,  
dem märchenreichen;  
Met trinkt Mimir  
allmorgendlich  
aus Walvaters Pfand -  
wißt ihr noch mehr?
24  
Halsschmuck und Ringe  
gab Heervater,  
für Zukunftwissen  
und Zauberkunde:  
weit sah ich,  
weit die Welten alle.
25  
Ich sah Balder,  
dem blutenden Gott,  
Odins Sohne,  
Unheil bestimmt:  
ob der Ebne stand  
aufgewachsen  
der Zweig der Mistel,  
zart und schön.
 
26  
Ihm ward der Zweig,  
der zart erschien,  
zum herben Harmpfeil:  
Hödur schoß ihn;  
und Frigg weinte  
in den Fensälen  
um Walhalls Weh -   
wißt ihr noch mehr?
27  
Geknebelt sah ich  
im Quellenwald  
den Leib Lokis,  
des listenreichen.  
Da sitzt Sigyn,  
ihr Gesell bringt ihr  
wenig Wonne -  
wißt ihr noch mehr?
28  
Durch Gifttäler  
gleitet von Osten  
mit Schneiden und Schwertern  
der Schreckenstrom.  
 
 
29  
Im Norden stand  
auf dem Nachtfelde  
für Sindris Sippe  
ein Saal aus Gold;  
ein andrer hob sich  
auf heißem Grund,  
der Biersaal des Riesen,  
der Brimir heißt.
30  
Einen Saal sah ich,  
der Sonne fern,  
am Totenstrand,  
das Tor nach Norden:  
tropfendes Gift  
träuft durch das Dach;  
die Wände sind  
aus Wurmleibern.  
 
 
31  
Dort sah ich waten  
durch Sumpfströme  
Meineidige  
und Mordtäter;  
dort sog Nidhögg  
entseelte Leiber,  
der Wolf riß Leichen -  
wißt ihr noch mehr?
32  
Eine Alte östlich  
im Erzwald saß;  
die Brut Fenrirs  
gebar sie dort.  
Von ihnen allen  
wird einer dann  
des Taglichts Töter,  
trollgestaltet.
33  
Er füllt sich mit Fleisch  
gefallner Männer,  
rötet mit Blut  
der Rater Sitz.  
Schwarz wird die Sonne  
die Sommer drauf;  
Wetter wüten -  
wißt ihr noch mehr?  
 
 
34  
Dort saß auf dem Hügel  
und schlug die Harfe  
der Riesin Hüter,  
der heitre Eggdir;  
es krähte bei ihm  
im Kiefernbusch  
der feuerrote Hahn,  
der Fjalar heißt.
35  
Doch Güldenkamm  
bei den Göttern kräht:  
er weckt die Helden  
bei Heervater;  
unter der Erde  
ein anderer kräht,  
in Hels Halle,  
ein braunroter Hahn.
36  
Gellend heult Garm  
vor Gnipahellir:  
es reißt die Fessel,  
es rennt der Wolf.  
Vieles weiß ich,  
Fernes schau ich:  
der Rater Schicksal,  
der Schlachtgötter Sturz.  
 
 
37
Brüder kämpfen
und bringen sich Tod
Brudersöhne
brechen die Sippe;
arg ist die Welt,
Ehbruch furchtbar,
Schwertzeit, Beilzeit,
Schilde bersten,
Windzeit, Wolfzeit,
bis die Welt vergeht -
nicht einer will
des andern schonen.
 
38  
Es gärt bei den Riesen;  
des Gjallarhorns,  
des alten, Klang  
kündet das Ende.  
Hell bläst Heimdall,  
das Horn ragt auf;  
Odin murmelt  
mit Mimirs Haupt.
39  
Yggdrasils Stamm  
steht erzitternd,  
es rauscht der Baumgreis;  
der Riese kommt los.  
Alles erbebt  
in der Unterwelt,  
bis der Bruder Surts  
den Baum verschlingt.
40  
Was gibt's bei den Asen?  
Was gibt's bei den Alben?  
Riesenheim rast;  
beim Rat sind die Götter.  
Vor Steintoren  
stöhnen Zwerge,  
die Weisen der Felswand -  
wißt ihr noch mehr?
 
41  
Gellend heult Garm  
vor Gnipahellir:  
es reißt die Fessel,  
es rennt der Wolf.  
Vieles weiß ich,  
Fernes schau ich:  
der Rater Schicksal,  
der Schlachtgötter Sturz.
42  
Hrym fährt von Osten,  
er hebt den Schild;  
im Riesenzorn  
rast die Schlange.  
Sie schlägt die Wellen;  
es schreit der Aar,  
Leichen reißt er;  
los kommt Nagelfar.
43  
Der Kiel fährt von Osten:  
es kommen Muspells  
Leute zum Land;  
Loki steuert.  
Mit dem Wolfe zieht  
die wilde Schar;  
Byleipts Bruder  
bringen sie mit.
 
44  
Surt zieht von Süden  
mit sengender Glut;  
von der Götter Schwert  
gleißt die Sonne.  
Riesinnen fallen,  
Felsen brechen;  
zur Hel ziehn Männer,  
der Himmel birst.
45  
Dann naht neue  
Not der Göttin,  
wenn wider den Wolf  
Walvater zieht  
und gegen Surt  
der sonnige Freyr:  
fallen muß da  
Friggs Geliebter.  
 
  
46  
Der starke Sohn  
Siegvaters kommt,  
Widar, zum Kampf  
mit dem Waltiere:  
es stößt seine Hand    
den Stahl ins Herz  
dem Riesensohn; A 
so rächt er Odin.
  
 
 
47  
Der hehre Sproß  
der Hlodyn naht.  
Der Lande Gürtel  
gähnt zum Himmel:  
Gluten sprüht er,  
und Gift speit er;  
entgegen geht  
der Gott dem Wurm.
48  
Der Erde Schirmer  
schlägt ihn voll Zorn -  
die Menschen müssen  
Midgard räumen -;  
weg geht wankend  
vom Wurm neun Schritt,  
der Gefecht nicht floh,  
der Fjörgyn Sohn.
 
49  
Die Sonne verlischt,  
das Land sinkt ins Meer;  
vom Himmel stürzen  
die heitern Sterne.  
Lohe umtost  
den Lebensnährer;  
hohe Hitze  
steigt himmelan.  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
 
 
50  
Gellend heult Garm  
vor Gnipahellir:  
es reißt die Fessel,  
es rennt der Wolf.  
Vieles weiß ich,  
Fernes schau ich:  
der Rater Schicksal,  
der Schlachtgötter Sturz.
 
51 
Seh aufsteigen 
zum andern Male 
Land aus Fluten, 
frisch ergrünend: 
Fälle schäumen; 
es schwebt der Aar, 
der auf dem Felsen 
Fische weidet.
52 
Auf dem Idafeld 
die Asen sich finden 
und reden dort 
vom riesigen Wurm 
und denken da 
der großen Dinge 
und alter Runen 
des Raterfürsten.
53 
Wieder werden 
die wundersamen 
goldnen Tafeln 
im Gras sich finden, 
die vor Urtagen 
ihr eigen waren.
54 
Unbesät werden 
Äcker tragen; 
Böses wird besser: 
Balder kehrt heim; 
Hödur und Balder 
hausen im Sieghof, 
froh, die Walgötter - 
wißt ihr noch mehr?
55 
Den Loszweig heben 
wird Hönir dann; 
es birgt beider 
Brüder Söhne 
das weite Windheim - 
wißt ihr noch mehr?
56 
Einen Saal seh ich 
sonnenglänzend, 
mit Gold gedeckt, 
zu Gimle stehn: 
wohnen werden 
dort wackre Scharen, 
der Freuden walten 
in fernste Zeit.
57 
Der düstre Drache 
tief drunten fliegt, 
die schillernde Schlange, 
aus Schluchtendunkel. 
Er fliegt übers Feld; 
im Fittich trägt 
Nidhögg die Toten: 
  
   
nun versinkt er.
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 

 
So und nicht anders ward es berichtet in Islands uralter Zeit; SNORRI tat es uns wiedergeben; wahrscheinlich im Jahr des Herrn 1220; in das Deutsche übertragen von Felix Genzmer in langer irrender Arbeit zur ersten Hälfte unseres Jahrhunderts, von Andreas Heusler dabei angeregt; nun gehe hier zurück nach Hause oder gehe unten auf das Bild wieder zum Anfang. Dahin, wo alles begann... 
(Anm.: Die wilde Schar, die mit dem Wolfe zieht...: Das Bild zeigt Rommel)