Schäfers Kreuz

 
 
"Das Kreuz, das ihr gesehen habt, ist Schäfers Kreuz.

Wenn man von Roßbach nach Waldbreitbach will, sieht man es nur, wenn es einem im Rücken steht. Doch ihr kamt von Waldbreitbach und saht also sofort.

Ein Jeder verspürt den unbewußten Drang, irgendwann und irgendwo seinen Blick über den Horizont schweifen zu lassen; aber glaubt nicht, das passiert einem immer und überall, denn wenn ihr die Augen gen Himmel richtet, wißt ihr tief in euch, daß da irgendetwas ist, das eure Aufmerksamkeit auf sich zieht. So auch mit Schäfers Kreuz.

Ich weiß nicht mehr genau, wie lange das weiße Kreuz dort oben schon steht, aber vor ihm stand einmal ein anderes, das über die Jahrhunderte verwitterte. So stellte man das weiße Kreuz an dessen Stelle, um immer an Schäfers Kreuz zu erinnern.

Und die Geschichte von Schäfers Kreuz ist eine unheimliche Geschichte.
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Sie berichtet auf mysteriöse Weise von entsetzlichen Vorgehen auf der Weide, vor der jetzt am Abgrund das weiße Kreuz steht.

Die Menschen zu ihrer Zeit, als der Schäfer noch seine Herde zum grasen dorthin führte, wußten, daß ihnen ein Zeichen der Bestrafung ihrer Taten gesandt werden würde; doch daß es den armen Schäfer, den unschuldigsten von allen, treffen sollte, hätte damals keiner geglaubt. Gegönnt hatte es man dem Räuber, der den Schäfer zu jener Zeit, als das große Unglück über die Gemeinde kam, überfallen wollte.

Die Bewohner der Orte um Schäfers Kreuz sollten bestraft werden für Gottlose Taten; denn sie warfen junge und alte Frauen, die als Hexen denunziert wurden, an jener Stelle, wo heute Schäfers Kreuz steht, in die tiefe Schlucht. Und nur, wer nach dem Fall starb, dessen Seele, so hieß es, würde Gott vergeben. Jene aber, die den Sturz von der Anhöhe überlebten, überließ man ihrem Schicksal - und dem Teufel.

Erst als man den Schäfer, seinen Hund und den Räuber tot und entsetzlich verstümmelt auffand (es war seine Tochter, die ihm Speisen bringen wollte), erkannten die Leute aus den Orten, daß sie Gott zuwider gehandelt hatten.

Man fand nur noch den Kopf des Schäfers, dessen Gesicht durch ein sardonisches Grinsen auf furchtbare Weise entstellt war.

Dem Hund, ein schwarzer Teufel, war der ganze Bauch aufgerissen, und seine Pfoten waren in unnatürlichen Winkeln von ihm geknickt.

Das Seltsame jedoch war, daß der Räuber, der noch immer seinen langen Dolch mit der Faust umklammert hielt, anscheinend nach einem Schock starb, der sein Gesicht mit einer dämonischen Fratze verzierte; und, hat man weiterhin festgestellt, wurden ihm erst nach seinem Tode die Füße abgefressen. Nur die Sandalen standen nebeneinander neben dem toten Körper, den man verbrannte.

Wie ich sagte, wußten die Menschen, daß etwas geschehen würde, um sie zu zeichnen: es gab Vorzeichen, und weise Männer predigten es dem ungläubigen Volke.

Und heute habe ich Zeichen am Himmel gesehen, die uns warnen sollen. Ich bin nur ein alter Mann, aber ich sage es euch jungen Menschen: tut nichts Gottloses, sonnst werden sich die Ereignisse wiederholen - und wen wird es diesesmal treffen?" 

Der alte Mann blickte auf und sah in die Runde. Alle Augen waren auf ihn gerichtet.

Wortlos stand der alte Mann auf und ging zur Tür. 

Schweigen begleitete ihm auf seinen Weg. 

Im spärlichen Licht sahen die Menschen am Tisch nur noch eine Silhouette, die nach Mantel, Hut und Spazierstock griff - und wie ein Schatten aus dem Raum verschwand.
 
 
 
 
 
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Theisia