Gestern besuchte ich einen Bergfriedhof. Mit seiner
Handvoll Gräbern lag er unterm Schnee. Von ihm aus folgt der Blick der
ganzen Alpenkette. Zwar erscheint's mir
lächerlich, seine letzte Ruhestätte auszusuchen, aber ich dachte an mein
Montmartreloch und bedauerte, daß man mich nicht hier oben in die Erde
legt.
Nach dem Ableben von Jean Giraudoux veröffentlichte ich einen
Abschiedsbrief, der mit den Worten schloß: "Ich werde nicht lange
brauchen, um dich einzuholen". Man schalt mich wegen dieses Satzes, den
man pessimistisch und mutlos fand. Er war es ganz und gar nicht. Ich
wollte damit nur sagen, daß es sich, sollte ich auch hundert Jahre alt
werden, nur um Minuten handeln kann. Das aber wollen die wenigsten Leute
zugeben, die anderen sehen nicht, daß wir unseren Beschäftigungen
nachgehen und Karten spielen in einem Expreßzug, der dem Tod
entgegenjagt.
Wenn selbst Mutter Angelika in den Mauern von
Port-Royal den Tod fürchtet, wer sollte ihn dann noch als Segen
empfinden? Da ist's schon besser, ihn festen Fußes zu erwarten. Es ist
Selbsterniedrigung, wenn man nur ihn im Sinne hat, und schnöder Undank,
wenn man sich entschuldigt, daß man existiere, als ob das Leben nur ein
Versehen des Todes wäre. Werden denn diejenigen besser daran sein, die
sich in eine Zelle einschließen und angstzitternd die Akten ihres
Prozesses durchforschen? Das Gericht wird nicht danach fragen. Sein
Urteilsspruch liegt von vornherein fest. Sie werden nur ihre Zeit
vertrödelt haben.
Am besten verhält sich, wer die ihm zugestandene Zeit nützt und sich
nicht damit abgibt, über sich selbst zu Gericht zu sitzen. Menschliche
Dauer wird nur dem geschenkt, der sich den Augenblick zurechtknetet und
ihm Bildgestalt verleiht und sich im übrigen nicht um den Urteilsspruch
kümmert.
Ich hätte gar manches noch zu diesem Thema zu sagen und wundere mich
nur, daß so viele Leute es sich über das Maß zu Herzen nehmen, denn
schließlich wohnt der Tod ja beständig in uns, und so sollte man sich
mit ihm abfinden. Weshalb denn dieses Heulen und Zähneklappern gegenüber
einer Person, mit der man zusammenlebt und die unserem Wesen aufs
innigste verbunden ist? Der Grund liegt auf der Hand. Man hat sich daran
gewöhnt, aus dem Tod ein Schreckgespenst zu machen und ihn nach dem
äußeren Anschein zu beurteilen. Man tut besser daran, wenn man sich
sagt, daß man von Geburt an mit ihm verschwägert und verschwistert ist,
und wenn man seine Wesensart hinnimmt, so hinterhältig sie auch sein
mag. Denn er versteht's, sich zu verheimlichen und uns glauben zu
lassen, er bewohne nicht mehr sein Haus. Und doch beherbergt jeder
seinen Tod und tröstet sich darüber mit dem Wahn hinweg, der Tod sei nur
eine allegorische Figur, die erst am Schluß des letzten Akts erscheint.
Als erprobter Meister der Mimikry ist er selbst dann
gegenwärtig, wenn wir ihn am fernsten glauben: in unserer Lebenslust. Er
ist in unsrer Jugend. Er ist in unsrer Reife. Er ist in unsrer Liebe.
Je weniger Zeit mir noch verbleibt, desto mehr reckt er sich auf. Desto
mehr macht er sich breit. Desto mehr hat er die Hand im Spiel. Desto
emsiger geht er an seine Tüftelarbeit. Er gibt sich immer weniger Mühe,
mich hinters Licht zu führen.
Sein großer Tag aber ist, wenn man Schluß macht. Dann tritt er aus uns
heraus und schließt uns hinter sich ab.
Jean Cocteau