Schriften und Grafiken von Patrick Fischer

Die Träume des Herrn Mondschein:
Erster Traum

Ein Schiff mit blutroten Segeln war im Hafen vertäut. Mondschein wußte, daß es Zeit war, Abschied zu nehmen. Katinka umarmte ihn, Tränen liefen über ihr Gesicht. Die letzten Vorräte und Gepäckstücke wurden an Bord gebracht, der Wind wehte ungeduldig, laß uns reisen, weit, weit, weg. Worte des Abschieds waren schwer zu finden, alles hätte sich trivial angehört, denn sie beide wußten, es war für immer. Katinka knöpfte ihr Hemd auf, nahm Mondscheins Messer und schnitt ein Herz aus ihrem Busen, das pochte so rot. „Nimm es mit Dir, ich brauche es nicht mehr." Sie küßte ihn auf den Mund und verschwand, als sei sie niemals da gewesen, und mit ihr das ganze alte Leben, das hinter ihm lag, verpufft, Asche, Staub. Der Punkt ohne Wiederkehr war längst vergangen. Mondschein betrachtete lange den runden Muskel, der sich in seiner Hand zusammenzog und ausdehnte, wieder und wieder, und dann ging er an Bord. Die Leinen wurden losgemacht, die Segel blähten sich, das Schiff erhob sich aus dem Wasser und schwebte in den Himmel, der das Lila tanzen ließ. Irgendwo da hinten trocknen ihre Tränen dachte Mondschein während das Ufer zusammenschmolz.

Der Horizont rückte näher. Der Kapitän peilte mit einem Sextanten die Ferne an, gab Kommandos an die Mannschaft, welche aus Ameisen bestand, die umtriebig über das Deck wimmelten. „Hart Backbord!" Mondschein ging zum Telefon und wählte (030) 838 5236 (Mo, Di, Fr 1000-1230 Uhr). Katinkas Stimme war schläfrig. Ja? Hallo? quoll es aus dem Hörer. „Katinka, ich hab mir das überlegt. Früher habe ich immer gedacht, ich müßte zu irgend einer Gruppe gehören," erzählte Mondschein. „Erst dachte ich, ich würde glücklich, wenn ich Hardcore höre und Bier trinke. Dann glaubte ich, ich müßte Techno hören und Extasy schlucken. Und dann versuchte ich es mit Luigi Nono und LSD. Ich zog mal schwarze Klamotten an, mal zerfetzte, färbte mir die Haare grün und blau, dann rasierte ich mich kahl. Es gab mir immer für kurze Zeit eine gewisse Befriedigung, mit Leuten zusammen zu sein, die genauso fühlen und denken wie ich. Aber dann kam immer der Punkt wo mir klar wurde, die denken ja gar nicht wie ich. Die fühlen ja gar nicht wie ich. Ich versuche, zu denken und zu fühlen wie die. Dann las ich den ‘Steppenwolf’ und war begeistert. Ja, so wollte ich sein, ich selbst, und sonst niemand. Aber dann lernte ich tausend Leute kennen, die das Buch auch gelesen hatten und auch sie selbst sein wollten." Sag mal, weißt du eigentlich, wie spät es ist? fragte der Telefonhörer. Mondschein sah auf die Uhr, und die Zeiger drehten durch, eine Stunde war eine Sekunde. Die Sonne ging auf und unter als wäre sie ein Propeller, der sich um die Erde dreht. „Ich weiß nicht. Vielleicht bin ich ja Misanthrop." Wie viele Einheiten hast du noch auf deiner Karte? „Das reicht noch. Ich hab mir ne Fünfziger gekauft." Die Einheiten tickten auf dem Display vor Mondscheins Augen hinweg. Er hängte auf. Der Himmel war patentgefaltet, in der 57. Auflage, mit neuen Postleitzahlen.

Ein Fisch flog vorbei. Er trug ein Kleid aus Schuppen, die blinkten und schimmerten. Er machte seinen Mund auf und zu, und Luftblasen fielen hinaus, die gläsern auf dem betonharten Meer zerbarsten. Pling! Pling! machte das. Der Fisch trug ein Kleid aus Satin, das glänzte und leuchtete von innen. Er machte sein Arschloch auf und zu, und Exkremente stiegen hinauf, die betonhart das gläserne Firmament zerbrachen. Krach! Krach! machte das. Der Fisch trug ein Kleid aus Menschenleibern, die stöhnten und weinten. Der Fisch hieß Mondschein. Katinka flog vorbei, die trug ein Kleid aus Zigarettenstummeln. Die glimmten und qualmten. Die Lottozahlen: 4, 18, 23, 46, 47, 49, Zusatzzahl: 19. Mondschein las den ‘Steppenwolf’ und war begeistert. Dieser Identifikationsflash war wahrhaft frappierend. War wahr. Haftig. Klebt wie Bärenkacke. Der Kapitän peilte mit seinem Sextanten die Ferne an und gab Kommandos an die Mannschaft, welche aus Ameisen bestand, die umtriebig über das Deck wimmelten. „Hart Steuerbord!" Alle liefen mit dem ‘Steppenwolf’ unter dem Arm herum und dachten, sie wären Harry Haller. Mondschein schrie, seine Stimme gellte in langen Girlanden über die Wellen des Weltalls. Jupiter war unbeeindruckt. Mondschein brüllte seinen Haß hinaus, er bellte seine Verachtung in den wimmelnden Ameisenhaufen, keifte sie alle über den Haufen. Plötzlich standen die Segel in Flammen. „Alarm! Alarm!" Der Ausguck fiel und schlug brennend auf dem Achterdeck auf. Mit acht zappelnden Beinen. Die Stimmung war famos. Die Welt ging unter. Das Radio spielte Backstreet Boys. Mondschein fand einen Fallschirm unter seinem Sitz und setzte sich ab. Das Schiff explodierte, Millionen von Splittern, eine neue Galaxie. Saturn interessierte das nicht. Der Fallschirm öffnete sich mit einem Flapp!

Mondschein schwebte. Er griff erneut zum Telefon. „Bist du mir noch böse?" fragte er. Ich kann dir einfach nicht böse sein, sagte Katinka. Ich hab’s ja schon oft genug versucht, und oft habe ich mir gewünscht, ich könnte dich hassen. Das würde alles so einfach machen. Ich bin einfach zu gutmütig. Mir fehlt das dicke Fell. „Du opferst dich für alles und jeden auf. Niemand, dessen Schicksal dir nicht an die Nieren ginge. Du gibst, und gibst, und niemals nimmst du irgendeine Gegenleistung an. Nicht die Welt ist undankbar, sondern du willst nicht dankbar sein. Kannst es einfach nicht." Ich müßte mich eigentlich um mich selbst kümmern, aber ich kann mich nur um andere sorgen. Ich gebe, und gebe. Ich hab solche Angst, daß eines Tages nichts mehr da ist von mir. Was mach ich dann? „Leg dich vor die Linie neun. Zwischen Zoo und Spichernstraße ist eine gute Stelle." Es piepte in der Hörmuschel. Die Karte war alle. Endgültiger Abschied. Trari-trara! Die Feuerwehr ist da! Mehrfruchtsaft von 12 Früchten mit 10 Vitaminen + 1 Provitamin ist eine ausgewogen vitale und köstlich exotisch schmeckende Komposition aus Säften und dem Mark von 12 Früchten heimischer und tropischer Herkunft, deren fruchteigener Vitamingehalt durch Zusatz von 10 Vitaminen und 1 Provitamin so angereichert ist, daß ein Glas (0,2 l), den Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Ernährung entsprechend, den täglichen Bedarf an diesen lebenswichtigen Vitaminen deckt.

Mondscheins Fallschirm schwebte auf eine große, große Stadt hinunter, da bewegten sich viele, viele Autos und Menschen hin und her, was die wohl alle tun? Leuchtreklamen und Straßenlaternen schälten sich aus dem Morgendunst. Schlipse und Aktenkoffer hetzten hin und her. In einem Krankenhaus verstarb ein zweiundzwanzigjähriger Student an Lungenkrebs, nachdem er sich eine letzte Gitanes angezündet hatte. Es regnete, graue Bindfäden wuschen Häßlichkeit in den Asphalt und die Pflastersteine. Augenpaare schauten zusammengequetscht aneinander vorbei, besäuselt von Sausen der Untergrundbahn. Die Zeitungen wurden entfaltet. Dumping-Wärme für Aachen? EU-Mitglieder fürchten Korsett. Der Kaffee dampfte, der Toast verbrannte, Unlaune machte sich in griesgrämigen Grunzlauten verständig. Die ersten Currywürste wurden fritiert, die ersten Zinn 40 getrunken. Schichtende. Arbeitsanfang. Stechuhren. Surren hochfahrender Computer. Ein Mercedes rammte einen bedröhnten Junkie. Mensch, passense doch auf. Reichlichresultatsaft von 12 Nachwehen mit 10 Vitaminen + 1 Provitamin ist eine ausgeglichen vitale und blumig wildfremd schmeckende Komposition aus Säften und dem Mark von 12 Konsequenzen wohlbekannter und kochendheißer Abstammung, deren furchterregender Vitamingehalt durch Einschiebsel von 10 Vitaminen und 1 Provitamin so konzentriert ist, daß ein Glas (0,2 l), den Tips des Deutschen Festlichen Beisammenseins für Lebenshaltungskosten konform, die Kauflust tagaus tagein an diesen unvermeidlichen Vitaminen begattet.

Mondschein plumpste mitten auf eine dicht befahrene Straßenkreuzung. Hupkonzert. Er nieste, und die Autos wirbelten, von der Druckwelle erfaßt, davon in alle Himmelsrichtungen. Audis und Opels, Mercedes und Mazdas, Vauwehs und Behemwehs, au weh! O je, o je! Ein Schutzmann nahm den Finger aus dem Popo und sagte der Tante guten Tag. Hab ne Tante aus Marokko, wenn sie kommt - hip, hop! Hab ne Tante aus Marokko, wenn sie kommt - hip, hop! Hab ne Tante aus Marokko, hab ne Tante aus Marokko, hab ne Tante aus Marokko, wenn sie kommt - hip, hop! Frauen kommen langsam aber gewaltig. Gewaltenteilung: Legislative, Judikative, Exekutive. Exekutionskommando... PENG! PENG! PENG! Au weh! O je, o je! (Und wir reiten auf Kamelen wenn sie kommt.) Mondschein aß einen Döner Kebap und fand einen Fingernagel darin. Er beschwerte sich und bekam einen Gutschein für einmal in den Wald zu scheißen. Das Telefon klingelte. Ich liebe dich! sagte Katinka. Seit du weg bist, ist alles hier so leer.

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